Die Grüne Feder. Petra Teufl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Petra Teufl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783863270575
Скачать книгу
ich dir Juri Stankiewicz vorstellen?“ Jetzt hätte meine Tante merken müssen, dass ihr Versuch, einen Kontakt herzustellen, ins Leere lief. Doch sie plapperte ohne Luft zu holen weiter: „Juri hat mir geholfen, eure Umzugskisten aus Indien zu sichten und auszusortieren.“

      „Ihr habt was?“, keuchte ich verdutzt. Mir blieb ein Protestschrei im Hals stecken. Waren unsere Kisten etwa schon da? Und hatte dieser Juri etwa meine privaten Sachen durchstöbert? Tante Edith sah mich bestürzt an.

      „Ach du meine Güte!“, stöhnte sie und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Entschuldige Lara. Ich habe die Kisten glatt vergessen. Sie sind einige Tage vor euch hier angekommen.“

      „Und warum habt ihr sie aussortiert?“, fragte ich mit trockenem Mund. Juri schloss einen Karton und sah dabei zu mir rüber. Er zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. „Spielt sie die Ahnungslose oder weiß sie wirklich nichts?“, fragte er meine Tante. Es klang so, als erkundige er sich, ob ich so dumm sei oder nur so tue. Seine Frage schien ernst gemeint, denn er sah Tante Edith erwartungsvoll an. Ihr Blick wanderte zwischen mir und ihm hin und her. Endlich schien sie zu merken, dass an meinem Pulverfass die Lunte brannte und es jederzeit explodieren würde.

      „Ach ja, richtig. Habe ich noch gar nicht erzählt“, begann sie mir schnell zu erklären. „Jeder neue Mitarbeiter von Braxcity muss alle seine persönlichen Sachen in einem Lager unterbringen. Er soll sich unbelastet von seinem bisherigen Leben auf das Projekt Braxcity einlassen. Als eure Umzugskisten hier eintrafen, hatte ich nur eine Stunde Zeit, bevor die Männer von Braxcity kommen wollten, um sie abzuholen und ins Lager zu bringen. Ich dachte, du willst sicher das eine oder andere in deiner Nähe behalten. Deshalb hat mir Juri geholfen, eure Sachen zu sichten und das herauszufischen, von dem ich annahm, du würdest daran hängen. Das war gar nicht einfach, ich kannte dich ja kaum. Was wir aus den Kisten geholt haben, liegt jetzt oben in der Dachwohnung. Nicht wahr, Juri?“

      Juri nickte und packte mit beiden Händen die größte Kiste.

      „Ich glaube, du redest zu viel, Edith“, sagte er, wobei sein Blick durch den Raum schweifte.

      „Keine Sorge! Laras Geräte sind im Kühlschrank. Ansonsten wird hier nicht spioniert. Großes Ehrenwort von Charles Braxton! Anders also als in eurer alten Wohnung in Braxcity.“

      Juri sah Tante Edith ungläubig an. Meinte dieser Schönling etwa auch, dass hier in den Privatwohnungen spioniert wird? Der hatte eindeutig zu viele Gespräche mit Tante Edith geführt!

      „Okay, dann schnapp dir mal eine Kiste und folge mir still und unauffällig“, forderte Juri mich auf. „Und dann führe ich dich zu deinen Mädchentagebüchern“, spottete er und ging in den Hausflur.

      Mir wurde heiß im Gesicht, glühender Zorn breitete sich in mir aus.

      „Eigentlich ist er ein ganz netter Junge“, sagte Tante Edith und sah Juri verständnislos hinterher. „Naja, ich glaube, es ist wegen Thomas. Er mag deinen Vater nicht.“

      „Ach ja? Und das gibt ihm das Recht, so mit mir zu reden, oder was?“, fauchte ich.

      Tante Edith zuckte mit den Schultern und schob mich in Richtung Wohnungstür. Der einzige Grund, warum ich Juri mit einer von Tantes Kisten folgte, war die Hoffnung, dort oben meine Sachen zu finden. Vielleicht war die große Decke, die ich mir von einem Schneider auf dem Markt in Neu-Delhi hatte nähen lassen, dabei.

      Im nächsten Stockwerk musste ich die schwere Kiste kurz absetzen. Juri wartete bereits eine Treppe weiter. Das Haus war hier oben nicht wiederzuerkennen. Nach der Renovierung unserer Etage war offensichtlich kein Pinselstrich mehr gemacht worden. Der staubige Boden, die verschmierten Fenster, die Wände, von denen der Putz bröckelte, alles wirkte heruntergekommen und verlassen.

      „Hier wohnt wirklich niemand mehr, oder?“, fragte ich, ohne zu überlegen. Denn mit diesem Juri wollte ich eigentlich kein Wort reden.

      „Gut beobachtet“, kam prompt die spitze Antwort von oben. Mir platzte der Kragen. „Es tut mir ja leid, wenn ich den Herrn mit meiner Anwesenheit nerve, oder der Herr meinen Vater nicht ausstehen kann!“, fauchte ich. „Kann der Herr trotzdem versuchen, einfach normal mit mir zu reden? Noch habe ich dir ja schließlich nichts getan!“

      „Mal sehen“, kam es von oben.

      Als Juri im nächsten Stockwerk angekommen war, lehnte er sich lässig ans Geländer und ließ seine Worte auf mich niedertröpfeln. „Normalerweise ziehen ja solche Neulinge wie ihr in eine Villa in Braxcity. Aber es gibt anscheinend immer Leute mit besonderen Beziehungen. Für die gelten dann die Regeln nicht. Extra für den neuen Manager Thomas Ritter und seine Tochter wurde die untere Etage hergerichtet. Eine Wohnung für euch und eine, natürlich einfachere, Wohnung für uns“, sagte er.

      Ich stieg ohne dies zu kommentieren weiter. So eine Information musste man auch erst mal verdauen. Tantes Bücherkiste hing schwer in meinen Armen. Schnaufend quälte ich mich Stufe für Stufe nach oben. Dass wir in dieses Haus einquartiert worden sind, verstehe ich, überlegte ich, aber warum auch die Stankiewiczs? Hatte mein Vater etwas damit zu tun? Warum hatte er dann noch nichts davon erzählt? Andererseits, wann hatte Papa schon alle Fakten, die mit unserem Umzug nach Regensburg zu tun hatten, offen auf den Tisch gelegt? Vor einer schiefen, zerkratzten Wohnungstür hatte Juri seine Kiste abgesetzt und suchte in den Hosentaschen nach dem Schlüssel.

      „Das Dumme ist nur“, fuhr Juri fort, als hätte er meine Gedanken gehört, „dass ich gern in Braxcity geblieben wäre, wo wir gewohnt haben. Aber, warum auch immer, hat jemand beschlossen, dass mein Vater hier den Hausmeister und ich für dich das Kindermädchen spielen soll — und das passt mir gar nicht!“, giftete er und winkte mich durch die Tür. In dem Moment hätte der Typ sagen können, was er wollte. Es wäre mir egal gewesen. Denn, kaum schwang die Wohnungstür nach innen auf, entdeckte ich zwei Umzugskisten aus Indien. Ungeduldig drängte ich mich an Juri vorbei. Ich öffnete eine Kiste und merkte, wie sehr mir meine Sachen gefehlt hatten. Als erstes holte ich den Bilderrahmen mit Mamas Foto heraus. Dann eines ihrer Bücher, klappte den Buchdeckel auf und las die Widmung, die sie für mich in unserer Geheimschrift geschrieben hatte. Mama hatte diese Schrift entworfen und mir beigebracht, sobald ich schreiben konnte. „Nur du und ich können diese Schrift lesen. Sie ist unser Geheimnis“, hatte sie mir ins Ohr geflüstert. Auf dem Kistenboden entdeckte ich mein Holzkästchen, das ich schon in Indien lange nicht mehr in die Hand genommen hatte. Jetzt freute ich mich, es zu sehen. Ich öffnete es und nahm den handtellergroßen, flachen Kiesel heraus. Der Stein fühlte sich kühl auf meiner Hand an, dennoch hatte ich das Gefühl, als würde mich ein warmer Schauer durchlaufen. Ich strich über die Zeichen, die in die Oberfläche eingeritzt waren. Er war das letzte Geschenk von Mama. Als sie vor sieben Jahren nach Regensburg aufbrach, hatte sie ihn mir in die Hand gelegt und gesagt: „Das ist ein Seelenstein. Pass gut auf ihn auf! Die Zeichen wurden vor mehreren tausend Jahren in den Stein geritzt. Keiner weiß, was sie bedeuten. Sie sind ein großes Rätsel.“ Ich war neun Jahre alt und liebte Mamas Geschichten. „Wenn ich zurück bin, erzähle ich dir alles über diesen Stein“, hatte Mama versprochen. Solange sie weg war, hatte ich den Stein Tag und Nacht bei mir. Ich wartete ungeduldig auf den Moment, in dem sie mir seine Geschichte erzählen würde. Bis dann Papa vor mir stand, mich fest in seine Arme schloss und sagte, dass Mama niemals wiederkommen würde. Der Stein fiel dabei auf den Boden. Irgendjemand steckte ihn in dieses Kästchen, das Kästchen in die Umzugskiste nach Indien, wo er die Jahre über in einer Schublade lag, nur um erneut in eine Umzugskiste gepackt zu werden und hier in Regensburg wieder in meiner Hand zu landen. Ich starrte auf den Kiesel und hatte das Gefühl, als hätte ich gerade eben von Mamas Tod erfahren.

      „Es tut mir leid wegen deiner Mutter“, unterbrach Juri meine Erinnerung. Ich hatte ihn völlig vergessen und drehte mich erschrocken zu ihm um. Er hatte inzwischen die letzte Kiste von Tante Edith nach oben geschleppt.

      „Danke. Woher weißt du davon?“

      Er lehnte sich gegen die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. „Erstens kennt jeder die berühmte Schriftstellerin Sophie Ritter, zweitens hast du eine Tante, die gern erzählt, und drittens steht es längst auf deiner Profilseite der Braxcity-Freundeseite,