Die Grüne Feder. Petra Teufl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Petra Teufl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783863270575
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Petra Teufl

       1.

      Indien verlassen? Das wäre mir im Traum nicht eingefallen. Der Umzug war nicht meine Idee gewesen. Er war die Idee meines Vaters, Thomas Ritter. Auf die gleiche Weise hatte er mich auch schon vor sieben Jahren, wenige Tage nach der Beerdigung meiner Mutter, einfach gepackt und auf eine Abenteuerfahrt, wie er es nannte, mitgenommen.

      Das Abenteuerland hieß Indien, die Stadt Neu-Delhi. Neugierig und staunend stürzte ich mich in das exotische Chaos und machte es schnell zu meinem Zuhause. Dabei halfen mir vor allem die Menschen in unserer Nachbarschaft und in der Internationalen Schule. Sie gaben mir von Anfang an das Gefühl, willkommen zu sein. Bald konnte ich mir ein Leben ohne die leuchtenden Farben und Muster überall nicht mehr vorstellen. Zu all dem gehörten auch das Gedränge überfüllter Straßen sowie die staubige Luft, die vom Duft der Gewürze erfüllt sein konnte oder mit dem Gestank alter Autos. Anfangs verlor ich mich in dem Getümmel zwischen polierten Fassaden moderner Bürotürme und kunstvoll geschnitzten, uralten Hindu-Tempeln. Die zahllosen Straßen und engen Gassen kamen mir wie Labyrinthe vor, aus denen ich nicht immer pünktlich heraus fand - sehr zum häufigen Ärger meines Vaters.

      An dem ersten Jahrestag von Mamas Tod hatte sich mein Vater mit mir auf die Bank vor unserem Haus gesetzt. Er erklärte, was er mit dem Umzug in diese fremde Welt beabsichtigt hatte. Der Kulturschock sollte uns von dem Schmerz ablenken, der in uns brannte, seit Mama mit ihrem Auto gegen einen Baum gefahren war. Neu-Delhi sollte eine Art Heilmittel sein. „Ich weiß, Papa“, antwortete ich leise. Er nickte, nahm meine Hand und drückte sie fest. Keiner wollte durch Worte die Traurigkeit des anderen verstärken. Das blieb auch in der Zeit danach so. Als IT-Spezialist unterrichtete mein Vater an verschiedenen Universitäten in Indien. Er war oft wochenlang unterwegs. Wenn er endlich wieder zu Hause war, gab es so viel zu erzählen, dass die Zeit, die uns dafür blieb, oft nicht ausreichte. Aber es gab jedes Mal diesen Moment, an dem Vater meine Hand drückte und wir gemeinsam an meine Mutter dachten, die wir so sehr vermissten. Für mich war es vor allem Aisha Ansari gewesen, die mich tröstete. Vom ersten Tag an war sie unsere Haushälterin gewesen. Als Witwe mit vier erwachsenen Kindern konnte sie bei uns wohnen. Als ich mit neun Jahren erschöpft von der langen Reise an Papas Hand das Haus in Neu-Delhi das erste Mal betrat, kam die kleine rundliche Inderin, in einen grünen Sari gekleidet, auf mich zu. Sie achtete nicht auf Vaters Begrüßung, sondern richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf mich. Sie ging vor mir in die Hocke und ihre großen braunen Augen blickten durch meine Schutzmauern hindurch, direkt in mein Herz. „Sad curly head“, flüsterte sie mit weicher Stimme, wobei sie mir sanft über die braunen Locken strich. Da war es mit meiner Fassung vorbei. Ich sank in ihre weiche Umarmung und alle Tränen, die ich tapfer zurückgehalten hatte, liefen über ihren Sari. Aisha erklärte mir die Sitten und Gebräuche Indiens, nähte meinen ersten Sari, brachte mich in die Schule und sorgte dafür, dass ich wenigstens hin und wieder meine Hausaufgaben machte. Als ich mich mit dreizehn in den Nachbarsjungen verliebte, musste sie mir ebenfalls die Tränen trocknen. Der Sechzehnjährige zog zu seinen Verwandten nach Bombay, wo er das Geschäft seines Onkels übernahm. Aisha und ich adoptierten uns gegenseitig. Ich nahm sie als Mutterersatz an und sie machte mich zu ihrem Nesthäkchen, um das sie sich kümmern durfte.

      An unserem Abreisetag hörte ich Aisha in der Küche mit den Töpfen und dem Geschirr klappern. Sie bereitete unser letztes Frühstück vor. Für mich war es das Zeichen, dass meine Zeit in Neu-Delhi in wenigen Stunden zu Ende gehen würde. Ich hatte die Sonne gebeten, heute nicht aufzugehen, ich hatte diesen Tag aus allen Kalendern gestrichen und mich geweigert, irgendetwas zu packen. Doch als ich aufwachte, schien die Sonne durch die Jalousien, der Radiowecker verkündete lautstark Datum und Uhrzeit und vor meinem Bett stand ein Koffer, den Aisha still und heimlich in der Nacht gepackt haben musste. Die Sonne hörte offensichtlich ebenso wenig wie mein Vater auf die Wünsche einer Sechzehnjährigen. Also quälte ich mich aus dem Bett, zog Jeans und T-Shirt an, fuhr mit der Bürste durch meine braunen Locken, was völlig wirkungslos blieb, nahm die Flip-Flops in die Hand und ging in die Küche.

      Aisha hatte ihr langes, schwarzes Haar zu einem dicken Zopf geflochten, der über ihrem grünen Festtagssari hing.

      Ich sah sie erstaunt an. „Hast du heute noch etwas Besonderes vor, Aisha?“

      Die kleine, rundliche Frau drehte sich mit sanftem Schwung zu mir um. Wie oft hatte ich vor dem Spiegel geübt, mich so geschmeidig zu bewegen, wie sie es tat? Unzählige Male! Aber mit kläglichem Ergebnis.

      „Nein, nein“, antwortete sie und strich den grünen Seidenstoff zurecht. „Das ist für dich, Lara. Zu Ehren deines Abschieds.“

      Sofort vergrößerte sich der Kloß in meinem Hals und augenblicklich füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich schluckte den Kloß runter und blinzelte tapfer die Tränen weg. Aisha und ich hatten schon vor Tagen beschlossen, wegen der bevorstehenden Trennung genug geweint zu haben. Also lächelte ich sie krampfhaft an und wiederholte im Stillen zum hundertsten Mal meinen Schwur. Bei allem, was in Indien heilig ist - und das ist eine ganze Menge - würde ich sobald wie möglich wieder nach Neu-Delhi zurückkommen. Das bedeutete, dass ich alle Ferien hier verbringen und spätestens an meinem achtzehnten Geburtstag bei Aisha einziehen würde. Gemeinsam mit all ihren Kindern, Enkeln, Tanten und Onkeln würde ich in ihrem Haus leben. Ab diesem Tag würde mein Vater mir nämlich nicht mehr vorschreiben können, wo ich zu leben habe.

      Aisha zog meinen Kopf zu sich herunter und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. „Frühstück ist gleich fertig, aber wenn du Amal tatsächlich noch einmal besuchen willst, müsstest du dich jetzt beeilen“, sagte sie.

      Sie hatte recht. Von meinen Schulfreundinnen hatte ich mich gestern schon verabschiedet, sie hatten mir eine tolle Abschiedsparty bereitet. Würde ich in Regensburg auch so nette Freunde finden? Würde ich in der Schule in Deutschland gut klarkommen? Schon seit Tagen geisterten mir diese Fragen im Kopf herum.

      Jetzt schlüpfte ich aber erstmal in meine Latschen und lief über den Hinterhof auf die Straße, um Amal Yadav Lebewohl zu sagen. Amal Yadav war ein alter Mann und er war ein guter Freund von mir. Es ist in diesem Land eine große Ehre, wenn alte Männer sich mit jungem Gemüse wie mir abgeben. Vor allem, wenn das Gemüse weiblich ist.

      Amal arbeitete als Schreiber auf dem Pahar Ganj Markt, in dessen Nähe wir wohnten. Da viele Menschen hier weder lesen noch schreiben konnten, ließen sie ihre Briefe an Verwandte, Anträge für Behörden, Bewerbungen und alles, was der Alltag eben so mit sich brachte, von einem Schreiber verfassen. Amal war berühmt dafür, dass seine Briefe und Schreiben beim Empfänger die gewünschte Reaktion hervorriefen. So vererbte einmal ein reicher Onkel sein Landgut dem Neffen, der bei Amal die Briefe an ihn hatte schreiben lassen. Anträge auf staatliche Unterstützung für seine Kunden wurden sofort gewährt, und wenn es um Liebesdinge ging, konnte Amal Herzen zusammenbringen, die dann nicht mehr zu trennen waren.

      „Wie machst du das, Amal?“, hatte ich ihn einmal gefragt. Amal sah von seiner Arbeit auf und wandte sich mir zu. „Was mache ich denn?“

      „Du überzeugst den Empfänger immer von dem, was deine Kunden wollen.“

      „Ah, das“, sagte er und lächelte. Dann zeigte er auf sein Ohr. „Du musst ihnen zuhören. Erst mit dem Ohr,“ seine Hand wanderte auf seine Brust, „und dann mit dem Herzen. Dann verstehst du die Botschaft, die sie senden wollen. Die aufzuschreiben ist dann keine Kunst mehr.“

      Ich hatte Amal fast täglich besucht und ihm fasziniert bei seiner Arbeit zugeschaut. Eines Tages erlaubte er mir, einen Auftrag eines Kunden zu übernehmen. Ich war aufgeregt und überlegte bei jedem Wort, das ich schrieb, dreimal, ob es das Richtige wäre. Amal lehrte mich, die treffenden Formulierungen und die in Indien üblichen Redewendungen zu verwenden. So wurden auch meine Briefe immer besser. Meinen ersten Liebesbrief durfte ich vor zwei Jahren schreiben. Ein junger Mann wollte seine Verlobte zu einer vorgezogenen Hochzeit überreden. Erst wollte der Kunde nicht, dass ich seinen Brief verfasste, doch Amal meinte, es gäbe keine bessere Schreiberin für dieses Anliegen. Also hörte ich dem jungen Mann zu und schrieb einen Brief, für den er sich später tausendmal bei mir und Amal bedankte. Wenige Tage danach erhielten wir die Einladung zu der Hochzeit.

      Ich lief eilig durch die noch schattigen Gassen, und kurz vor der vierspurigen Hauptstraße,