Von Versailles bis Potsdam. André François-Poncet. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: André François-Poncet
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783958902879
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Welchen dieser Wege wird sie einschlagen? Die Partie beginnt und wird sieben Monate dauern, vom November 1918 bis zum Mai 1919.

      Zunächst nähern sich Mehrheitssozialisten und Unabhängige einander an. Scheidemann erhebt seine Stimme. Er verlangt die Abdankung des Kaisers und des Kronprinzen. Wilhelm II. verzichtet tatsächlich auf die Kaiserwürde, nicht aber auf die preußische Krone. Doch seine Abdankung erfolgt nicht auf die Forderungen Scheidemanns hin, sondern auf die in Spa geäußerte Meinung von 50 Generalen, die General Groener, der Nachfolger Ludendorffs, zur Beratung einberufen hatte. Ludendorff selbst war zurückgetreten und geflohen. Am 9. November proklamiert Scheidemann mit begeistertem Schwung vom Balkon des Reichstags aus die Republik. Am selben Tage und fast zur selben Stunde schwingt Liebknecht auf dem Balkon des königlichen Schlosses die rote Fahne.

      Mit Zustimmung der Arbeiter- und Soldatenräte verständigen sich Mehrheitssozialisten und Unabhängige über die Gründung eines Rates von sechs Volksbeauftragten, in den jede Richtung drei Vertreter entsendet. Ebert, Scheidemann und Landsberg vertreten die Mehrheitssozialisten, Haase, Dittmann und Barth die Unabhängigen. Ebert wird zum Präsidenten des Rates ernannt. Aber Prinz Max von Baden, der sein Amt niederlegt, hat ihn schon zum Reichskanzler ernannt, sodass er eine zweifache Belehnung erfährt. Er ist zugleich der Mann des abtretenden Regimes und der der aufsteigenden Revolution. Diese Eigenschaft erklärt und verkündet die bedeutende Rolle, die er fortan spielt.

      Seine Persönlichkeit zeichnet sich indessen weder durch blendende Eigenschaften noch durch eine ungewöhnliche Begabung aus. Ebert ist von kleiner Statur, ein rundlicher Mann von bescheidenem Äußeren. Das Gesicht, leicht gedunsen und mit einem Spitzbärtchen geschmückt, zeigt gewöhnliche Züge. In bürgerliche Kleidung gezwängt, sieht er aus wie ein kluger Werkmeister oder ein gesetzter kleiner Unternehmer. In moralischer Hinsicht ist er besonnen, einfach, gemäßigt, weniger unruhig und hohl als Scheidemann. So verkörpert er vollkommen den Typ des Mehrheitssozialisten, einer Spielart des konservativen Sozialismus. Als Süddeutscher hat er gefällige Umgangsformen. Er wirkt sympathisch und erweckt Vertrauen. Die Arbeiter kennen und achten ihn. Übrigens entstammt er der Arbeiterklasse. Er ist Sohn eines Schneiders und hat das Sattlerhandwerk ausgeübt. Er war Sekretär seiner Gewerkschaft und widmete sich dann innerhalb und außerhalb seiner Berufsorganisation ganz der gewerkschaftlichen Tätigkeit und dem Schutz der Arbeiterinteressen. Er wurde Reichstagsabgeordneter und einer der Führer der Sozialdemokratie.

      In Deutschland gehört es zum guten Ton, über ihn zu lächeln. Ist es nicht spaßhaft, dass ein Staat von solchem Rang einen Sattlermeister an seine Spitze gestellt hat? Wie hätte eine von einer so mittelmäßigen Figur geleitete Republik gedeihen können? In Wirklichkeit sind diese Urteile von schwärzestem Undank geprägt. Wir Ausländer, wir Demokraten dürfen über Ebert richten, uns vor Augen halten, dass er viel dazu beigetragen hat, die deutsche revolutionäre Bewegung zum Scheitern zu bringen, und damit Deutschland der Möglichkeit einer tiefgehenden Erneuerung beraubt hat, welche die starke Erschütterung durch die Niederlage zur Folge haben konnte. Wir dürfen ihm vorwerfen, den nationalistischen Kreisen, die das Reich dem Untergang zugeführt hatten und die Weimarer Republik torpedieren sollten, wieder in den Sattel und zur Macht geholfen zu haben. Aber eben diese nationalistischen Kreise sollten wenigstens so viel Anstand haben, ihm ein Andenken voll Nachsicht zu bewahren.

      Der Mehrheitssozialist Ebert gehört zu jenen Deutschen, die jede Unordnung zutiefst abstößt, denen schon der Gedanke daran unerträglich ist. Angesichts der revolutionären Woge, die sich über alle deutschen Städte ergießt und die Einheit des Reiches bedroht, hat er nur eine Sorge: sie zu zügeln, einzudämmen, zu brechen und zu verhindern, dass sie Deutschland zerstückelt und im Gefolge der Spartakisten in die Fluten eines Bolschewismus nach russischem Muster hinabzieht. Auf wen kann er sich stützen, um sein Ziel zu erreichen? Auf seine Partei, die ihm folgt, aber keinen Kampfgeist hat, und auf die gemäßigten Elemente in den Arbeiterund Soldatenräten. Er genießt ihr Vertrauen, auch das des Zentralrats, in dem ihre Delegierten versammelt sind. Aber durch seine Richtung und seine Handlungsweise empört er die Spartakisten. Sie klagen ihn bald des Verrats an. Er erregt die Besorgnis der Unabhängigen, seiner Kollegen im Rat der Volksbeauftragten, die als überzeugte Revolutionäre mit dem alten Regime ein Ende machen und die sozialistische Republik errichten wollen. Und auf der Seite der Unabhängigen stehen die kämpferischen Elemente aus den Arbeiter- und Soldatenräten, der Vollzugsrat, den sie gebildet haben und der dem Zentralrat opponiert.

      Ebert hat also keine sehr starke Stellung und wäre zum Misserfolg verurteilt, hätte er nicht von vornherein einen grundlegenden Entschluss gefasst. Er hat Beziehungen zu dem in Spa, dann in Kassel befindlichen Großen Generalstab angeknüpft. Er steht mit Hindenburg und dessen Stabschef in Verbindung, einem festen, ruhigen, energischen und positiven Mann von kaltem Realismus. General Wilhelm Groener ist Süddeutscher wie er selbst, während des gesamten Krieges Chef des Eisenbahn- und Transportwesens, ehe er Nachfolger Ludendorffs beim Feldmarschall wird. Eine direkte und geheime Telefonleitung, die Linie 998, verbindet Ebert mit dem Großen Hauptquartier. Und jeden Abend schließt sich Ebert in sein Arbeitszimmer ein und spricht mit Groener. Er teilt ihm die Tagesereignisse mit, fragt ihn um Rat, erbittet Hilfe. Groener gibt ihm Verhaltensmaßregeln, beruft sich auf die Autorität des Feldmarschalls, um sein Zögern zu überwinden, und schickt ihm seinen Vertrauensmann in der Person des Majors von Schleicher. Der besiegte Große Generalstab hat es fertiggebracht, dass man ihn für unbesiegt hält, und glaubt, er habe nichts mit dem Abschluss eines erdrückenden Waffenstillstandes zu tun. Er hat den allgemeinen Rückzug des Heeres der Westfront auf das rechte Rheinufer in vollkommener Ordnung und reibungslos durchgeführt, in einer Art, die als meisterhaft beurteilt worden ist. So hat er den Schein gewahrt.

      Doch in diesem Augenblick tritt eine für ihn bedrohliche Erscheinung auf.

      Als die Truppen auf dem Rückzug wieder mit der Zivilbevölkerung und den Soldaten der Rekrutendepots in Berührung kommen, in einem völlig aufgewühlten Deutschland, lösen sie sich auf. Ihre Disziplin schmilzt wie Schnee an der Sonne. Die Soldaten entziehen sich der Befehlsgewalt ihrer Vorgesetzten. Sie laufen auseinander, die einen nach Hause, andere schließen sich den Meuterern an. Damals verhaftet man die Offiziere, beschimpft sie auf der Straße und reißt ihnen die Achselstücke ab. Deutschland, das aus alter Tradition so viel Ehrfurcht vor seinem Heer hat, wird wie von einer antimilitaristischen Krise geschüttelt. Der Generalstab ist aufs tiefste bestürzt. Heftige Hass- und Rachegefühle gegen die Revolutionäre, die »Roten«, erfüllen ihn, und er schwört sich, das entfesselte Volk die Demütigung entgelten zu lassen, die es ihm zufügte. Auf keinen Fall denkt er auch nur daran, sich aufzulösen. Im Gegenteil, er setzt seine Tätigkeit im Hintergrund fort. Er hält die zuverlässigsten Einheiten zusammen. Um einige treu ergebene und unerschrockene Offiziere sammeln sich wieder Männer, die entschlossen sind, sowohl an den Ostgrenzen gegen die Übergriffe der Balten, Polen und Russen als auch im Innern gegen die Revolution zu kämpfen. Hier liegt der Ursprung der Freikorps. Das erste und bedeutendste ist das des Generals Maercker, das Freiwillige Landesjägerkorps. Nach seinem Beispiel bilden sich auf der Grundlage der Freiwilligkeit die Brigade Ehrhardt, die Freikorps von Dohna, von Hülsen, Reinhard, Roßbach, von Epp und noch zwanzig andere, bunt zusammengesetzt, von verschiedener Stärke und Bewaffnung, aber alle kampflustig und von Mut beseelt.

      Der Generalstab steht also nicht allein und ist keineswegs gänzlich machtlos. Es ist keine leere Geste, wenn Ebert sich mit ihm verbündet. Dieser sonderbare Revolutionär, den die Revolution an ihre Spitze gestellt hat und der nur daran denkt, sie zu ersticken, hat sich eine wirksame Unterstützung gesichert. Seinerseits hat der Generalstab, den man aus der politischen Führung ausgeschaltet wähnen konnte, das Mittel gefunden, durch sein geheimes Einverständnis mit Ebert die Geschehnisse zu beeinflussen und weiterhin hinter den Kulissen die Drähte der Politik zu ziehen. So wird es während der ganzen Herrschaft der Republik bleiben.

      Während das Militär seine Fassung sichtlich wiedergewinnt, sehen die Roten ihrerseits nicht tatenlos zu. Sie gründen Milizen, die Armbinden und Kokarden ihrer Farbe tragen, Hundertschaften, eine Sicherheitsgarde. Sie verlegen die 1300 Mann der Volksmarinedivision, die die Kieler Revolution gemacht hat und den festen Kern des Aufstandes bildet, nach Berlin. Ein Zusammenstoß scheint unvermeidlich. Die Einigung zwischen Mehrheitssozialisten und Unabhängigen war nur vorübergehend. Von Tag zu Tag steigt die Spannung zwischen ihnen und zwischen