Von Versailles bis Potsdam. André François-Poncet. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: André François-Poncet
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783958902879
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sozialistischen Errungenschaften der Revolution gegen die Bourgeoisie und die militärische Aristokratie zu verteidigen«.

      Besser könnte das Problem, das zur Erörterung steht, kaum umrissen werden. Wird die neugewählte Nationalversammlung die Revolution am Leben lassen oder wird sie sie begraben?

      Sie wird nicht nach Berlin, sondern nach Weimar einberufen. In der Wahl dieser Stadt hat man ein Symbol erblicken wollen, ein Symbol des neuen Deutschland, das Potsdam, der Hochburg des preußischen Militarismus und des friderizianischen Geistes, den Rücken kehrt und sich unter den Schutz der großen Humanisten Goethe und Schiller stellt, die in der ganzen Welt bewundert werden. Es ist möglich, dass man bei der Wahl von Weimar von dem Gedanken erfüllt war, im Ausland Beifall zu finden. Gewiss ist, dass man auch daran dachte, der Aufenthalt in Berlin wäre gefährlich wegen der Einstellung der Arbeiter, die zum Teil Anhänger der Unabhängigen und Spartakisten waren, deshalb schien die Nationalversammlung in Weimar sicherer. In Berlin übernahm General Maercker keine Verantwortung für ihren Schutz, in Weimar garantierte er ihre Sicherheit.

      Am 6. Februar 1919 tritt sie zur ersten Sitzung im Theater der thüringischen Hauptstadt zusammen. Sie nimmt sofort eine vorläufige Verfassung an und ernennt am 11. Februar Ebert zum provisorischen Präsidenten der Republik. Am folgenden Tage wird eine regelrechte Regierung gebildet. Da die Mehrheitssozialisten nicht auf die übrigens ungenügende Unterstützung der Unabhängigen zählen können, sind sie gezwungen, auf der rechten Seite Bundesgenossen zu suchen. Um die Ordnung wiederherzustellen, haben sie mit dem Generalstab und den Freikorps paktiert; nun paktieren sie auch mit dem Bürgertum, um ein Kabinett zustande zu bringen. Immerhin stellen sie drei Bedingungen: Ihre Verbündeten müssen die Republik vorbehaltslos anerkennen, ferner mit einer Finanzpolitik einverstanden sein, die hauptsächlich das Kapital und das erworbene Vermögen belastet, und mit einer Sozialpolitik, die bis zur Sozialisierung gewisser Unternehmungen geht.

      Die Katholiken des Zentrums und die Demokraten nehmen an. So entsteht das, was die politische Sprache die »Weimarer Koalition« nennt. Sie verfügt über 327 Stimmen.

      In der späteren parlamentarischen Geschichte der Republik bilden die Katholiken und Demokraten, wenn sich die Mehrheitssozialisten nicht mit ihnen verständigen können, unter Beteiligung der Volkspartei und gegebenenfalls sogar der Deutschnationalen den »Bürgerblock«. Schließlich gibt es eine Verbindung der Sozialdemokraten, Katholiken, Demokraten und der Deutschen Volkspartei, die den Namen der »Großen Koalition« trägt. Und diese drei Kombinationen spiegeln die parlamentarischen Wechselfälle der Zeit von 1919 bis 1933 wider.

      Die Weimarer Koalition vertraut Scheidemann den Kanzlerposten an. Außerdem erhalten die Mehrheitssozialisten sechs Ministerposten. Noske wird Reichswehrminister, denn man spricht nicht mehr von einem Kriegsministerium. Das Heer nennt sich fortan Reichswehr. Das Zentrum erhält drei Ministersitze, von denen das Finanzministerium Erzberger zufällt. Den Demokraten werden ebenfalls drei Ministerposten zuteil. Graf Brockdorff-Rantzau, parteilos, aber den bürgerlichen Parteien nahestehend, wird Minister des Auswärtigen. Es gibt also sieben sozialistische und sieben bürgerliche Minister.

      Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass die Politik der Regierung und der Nationalversammlung sich in sozialen Dingen nicht sehr wagemutig zeigt. Ihr scheint im Gegenteil daran zu liegen, die Errungenschaften der Revolution nicht festzuhalten oder zu erweitern, sondern sie zu beschränken und zu schwächen.

      Während Noske mit Hilfe des Generalstabs und der Freikorps im Februar, März, April und Mai die revolutionären Aufstände unterdrückt, die in Berlin, Bremen, Halle, im Ruhrgebiet, in Sachsen und Bayern ausgebrochen waren oder aufflammen, bemüht sich die Nationalversammlung, trotz Versprechungen und theoretischer Anerkennung die Rolle der Arbeiterräte zu beschränken, sie in den gewerkschaftlichen Rahmen zurückzuführen, ihnen jede politische und wirtschaftliche Zuständigkeit zu nehmen und sie unschädlich zu machen. Die Sozialisierung wird im Prinzip beschlossen, aber nicht durchgeführt. Der Wirtschaftsminister Wissell ist ein überzeugter Anhänger der Planwirtschaft. Mit ihr will er zur Sozialisierung gelangen. Man hört ihn mit Interesse an, denn er hat Ideen und Talent; trotzdem erweckt er Misstrauen. Er bringt ein Gesetz über die Organisation des Kohlebergbaus und der Kaliindustrie zur Annahme, die einem Reichskohlenrat bzw. Reichskalirat unterstellt werden, wo unter staatlicher Aufsicht Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Verbraucher vertreten sind. Praktisch bleiben diese Räte unwirksam, ebenso der Reichswirtschaftsrat, der nicht über eine beratende und dekorative Rolle hinauskommt. Wissell legt im Juli 1919 sein Amt nieder, und sein Rücktritt beweist, dass die Nationalversammlung nicht die Absicht hat, den Privatkapitalismus ernsthaft anzugreifen.

      Sie hätte nach dem Zerfall des wilhelminischen Heeres die Heeresverfassung erneuern, das Heer säubern und sich des Generalstabs und der Freikorps entledigen können. Diese bilden einen sehr gefährlichen Herd des Nationalismus und des Militarismus, und ihnen strömt die ganze aus dem Heer entlassene Jugend zu, die, von der Niederlage angeekelt, sich gegen sie auflehnt und nach Abenteuern dürstet, jene Jugend, die Ernst von Salomon in seinem Roman »Die Geächteten« so treffend geschildert hat.

      Sie wagt es nicht. Die bürgerlichen Minister würden sich nicht dazu hergeben. Die sozialistischen Minister haben sich selbst mit den Generalen verbündet und sich der Freikorps bedient, um den Schwung der Revolution zu brechen. Und Noske wurde das Werkzeug der Offiziere bei der Niederschlagung der Aufstände in Berlin und in der Provinz.

      Das Gesetz vom 6. März 1919 über die vorläufige Reichswehr lässt einige Neuerungen mit demokratischem Anstrich zu. Es mildert die Bestimmungen des Militärstrafgesetzbuches und gewährt die Einsetzung von »Vertrauensleuten« in der Truppe. Es sieht eine Beschwerdeordnung vor. Es begründet Sportkommissionen in den Einheiten. Doch alle diese Maßnahmen sind mit Zustimmung der obersten Heeresleitung getroffen, welche die Notwendigkeit von Zugeständnissen an den Geist der Zeit begriffen hat. Dafür werden die Traditionen der alten Regimenter sorgfältig gewahrt. Das Heer ist vereinheitlicht. Es gibt keine bayrische, sächsische oder preußische Armee mehr, sondern nur noch ein einziges Reichsheer. Die Freiwilligen, aus denen es sich zusammensetzt, werden aufs sorgfältigste gesiebt. Die Generale Wilhelms II. bleiben auf ihren Posten, die Freikorps werden nicht aufgelöst. Ende Dezember 1918 löste sich das Heer auf. Im Juni 1919 wird es straff zusammengefasst. Die Uniform ist eine andere, der Geist aber ist der von einst. Mit einer Stärke von 400 000 Mann stellt es im inneren Leben Deutschlands eine Macht dar, welche die Zivilgewalt nicht unterschätzen darf.

      Auf diesem sehr bedeutungsvollen Gebiet hat also die Nationalversammlung trotz äußerlichen Änderungen eher ein konservatives als ein neuschöpferisches Werk vollbracht. Bürgerliche und Sozialisten haben sich verständigt, um den revolutionären Bestrebungen den Weg zu verlegen, die traditionsgemäß einflussreichen Kreise zu schonen und sich mit einer gemäßigt liberalen Richtung zufrieden zu geben. Übrigens war es ja insbesondere die Aufgabe der Nationalversammlung, eine Verfassung auszuarbeiten.

      Sie hat unablässig daran gearbeitet; die Vorschläge, Verbesserungen, Ausschusssitzungen, Debatten und Reden häuften sich. Am 31. Juli 1919 vollendete sie ihr Werk und nahm mit 262 gegen 79 Stimmen die endgültige Verfassung an, die, von Reichspräsident Ebert unterzeichnet, am 14. August verkündet wurde. Der hauptsächliche geistige Anreger der sogenannten Weimarer Verfassung war der Professor für Staatsrecht Hugo Preuß, ein gewiss sehr intelligenter liberaler Jude, Mitglied der demokratischen Partei, 1917 beinahe abgesetzt, weil er eine Rede über die Veränderlichkeit des kaiserlichen Denkens gehalten hatte, ein glühender deutscher Patriot, aber mehr Theoretiker und Logiker als Psychologe und Realist, wie es zuweilen bei Professoren, sogar solchen der Rechtswissenschaft, vorkommen soll.

      Versuchen wir, die Struktur und die charakteristischen Züge dieser Weimarer Verfassung in Kürze darzustellen.

      Die Weimarer Verfassung setzt die Republik als Staatsform für das Reich und die Bundessaaten ein, die ihrerseits demokratische Verfassungen haben sollen. Aber diese Republik ist ein Reich, das heißt ein Imperium. Das ist die erste Eigentümlichkeit. Die Abgeordneten der Nationalversammlung wollten nicht auf das Wort »Reich« verzichten, einmal, um nicht die kaiserliche Tradition zu verleugnen, sodann aber, weil das Wort »Republik« immer einen schlechten Klang für deutsche Ohren hat. Das Wort »Reich« dagegen klingt, wie bereits erwähnt, militärisch und