Von Versailles bis Potsdam. André François-Poncet. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: André François-Poncet
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783958902879
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Niederlage und die ihr folgenden Unruhen breiten sie einen Schleier der Lüge. Deutschland besitzt nicht genügend kritischen Sinn, um diesen Schleier zu zerreißen, und findet sich umso williger mit ihm ab, als er die Wirklichkeit in schönen, der Eigenliebe zusagenden Farben glänzen lässt. Damit bereiten sie den Boden für den Nazismus vor.

      Für den Augenblick ist das Ziel, das Ebert sich gesetzt hatte, erreicht. Die den Berliner Spartakisten ab Januar 1919 zuteil gewordene blutige Züchtigung hat den Himmel entwölkt und den Extremisten jede Chance genommen. Am 19. Januar, einem Datum, das Hindenburg festgesetzt hatte, finden im ganzen Reich die Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung satt.

      Am 6. Februar, während noch dumpf das Gewitter der Unterdrückung örtlicher Aufstände grollt, tritt die Nationalversammlung in Weimar zusammen. Es gibt wieder eine gesetzliche Ordnung. Ebert beginnt aufzuatmen.

      1Conferenzia, 5. März 1947.

       DIE NATIONALVERSAMMLUNG VON WEIMAR

      Am 9. November 1918 hatte die deutsche Revolution die Republik ausgerufen. Die Arbeiter- und Soldatenräte und ihr Berliner Kongress, der Zentralrat und der Vollzugsrat, waren gewissermaßen der Ersatz für ein Parlament. Die Regierung lag in den Händen des Rates der Volksbeauftragten. Aber dies alles, das sich in fieberhafter Verwirrung, in der Anarchie, in erbitterten Kämpfen und blutigen Zusammenstößen abgespielt hatte, konnte nur eine provisorische Lösung sein. Im Lande lebte eine ungeheure Sehnsucht nach Beständigkeit und gesetzlicher Ordnung. Es war notwendig, die Lage irgendwie gesetzlich zu unterbauen, diesem Regime, das eines schönen Tages durch Scheidemann von einem Balkon herab ausgerufen worden war, eine Form, führende Männer, einen Rahmen und einen Inhalt zu geben. Darüber hatte bis jetzt niemand ernstlich nachgedacht. Das alte kaiserliche Regime wurde einhellig als abgeschafft betrachtet. Es war mit einem Schlage zusammengebrochen. Niemand dachte daran, es wieder einzuführen. Jedermann war damit einverstanden, dass es zweckmäßiger wäre, es durch ein dem Regime der Siegerstaaten ähnliches System zu ersetzen; es sollte diese geneigt machen, ein von jenem Reich, das sie bekämpft hatten, verschiedenes Deutschland wohlwollend zu behandeln. Allerdings wusste man nicht, welche Struktur und welchen Umriss dieses System haben sollte. Man fühlte indessen, dass die Zeit drängte. Wenn das Chaos andauerte, würden die Alliierten nicht mit den Friedensverhandlungen beginnen und sich versucht fühlen, in Deutschland einzufallen, um dort Ordnung zu schaffen. Also musste man sich so früh wie möglich vertragsfähig zeigen.

      Noch eine andere Frage lastete auf den Gemütern. Die Novemberrevolution stand unter einem politischen, aber auch unter einem sozialen Zeichen. Sie war das Werk von Sozialisten, die zwar in feindliche Lager gespalten waren, aber alle in ihren Programmen seit Jahren eine mehr oder minder gründliche Umgestaltung der Gesellschaft forderten. War die Stunde für diese Neugestaltung gekommen? Welchen Charakter würde sie haben? Wie weit würde sie in sozialistischer Richtung gehen? Würden sich die von der Revolution aufgebrochenen Türen weit öffnen oder wieder vorsichtig schließen? Diese Frage stellte man sich, hoffnungsvoll oder sorgenvoll, je nachdem, welcher Gesellschaftsschicht man angehörte.

      Auf diese Fragen und Nöte konnte nur eine von ganz Deutschland auf der Grundlage des allgemeinen Stimmrechts gewählte konstituierende Nationalversammlung die Antwort geben.

      Obwohl das Land noch von revolutionären Zuckungen erschüttert wurde, dazu in Berlin drei Tage vorher Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet und der Spartakismus von den Einheiten des Heeres und der Freikorps grausam unterdrückt worden waren, fanden die Wahlen am 19. Januar 1919 ohne bemerkenswerte Zwischenfälle statt. Von 37 Millionen Wählern beteiligten sich 30 Millionen. Die tief gekränkten und wütenden Kommunisten enthalten sich der Stimme.

      Die sich zur Wahl stellenden Parteien sind die gleichen wie einstmals, aber sie haben sich neue Namen zugelegt, in die das Wort »Volk« aufgenommen wird.

      Die früheren Konservativen, Junker, Großgrundbesitzer und rechtsstehenden Monarchisten nennen sich »Deutschnationale Volkspartei«. Hier finden sich die Freunde Hindenburgs und des Generalstabs, die Helfferich, Westarp, von Graefe, Hergt, Hötzsch und Claß. Ihre Zeitungen sind der Lokalanzeiger, der Tag, die Deutsche Zeitung, die Kreuzzeitung und die Hamburger Nachrichten.

      Die früheren Nationalliberalen, die der Industrie und dem Großhandel entstammen, nennen sich »Deutsche Volkspartei«. Ihre Zeitungen sind die Tägliche Rundschau, die Kölnische Zeitung und die Deutsche Allgemeine Zeitung. Ihre führenden Männer sind Stresemann, Rießer, Hugo Stinnes, Vögler.

      Die alten Freisinnigen und Fortschrittler haben die »Deutsche Demokratische Partei«, die Partei der Demokraten, gegründet. Es ist die Partei des Berliner Tageblatts, der Vossischen Zeitung und der Frankfurter Zeitung, der bürgerlichen Intelligenz, der jüdischen Elite, der Akademiker und der aufgeklärtesten Beamten. Sie steht in Verbindung mit den westlichen und angelsächsischen Ländern. Man findet in ihren Reihen die Namen von Rathenau, Dernburg, Quidde, Schücking, Melchior, Hugo Preuß, Konrad Haußmann und Graf Bernstorff.

      Das katholische Zentrum nennt sich »Christliche Volkspartei«. Aber man nennt es weiterhin das »Zentrum«. Dort gibt es eine Linke und eine Rechte. Die Linke wird von Erzberger, Josef Wirth und dem Gewerkschaftler Stegerwald, die Rechte von Trimborn, Marx, Fehrenbach und Porsch geführt. Zwei große Zeitungen: die Germania und die Kölnische Volkszeitung.

      Auf der linken Seite des politischen Fächers befinden sich die Sozialisten beider Richtungen, von denen wir schon gesprochen haben und die sich um den Vorwärts streiten. Die Mehrheitssozialisten haben den Namen »Sozialdemokratische Partei Deutschlands« (SPD) bewahrt. Ihre Führer sind Ebert, Scheidemann, Otto Wels, Gustav Bauer, Hermann Müller. Bei der »Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands« (USPD) sind Haase, Dittmann, Barth, Ledebour, Breitscheid, Crispien und Hilferding zu nennen. Die »Kommunistische Partei Deutschlands« (KPD) endlich ist aus der Spartakusgruppe hervorgegangen, die am 31. Dezember 1918 von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gegründet wurde. Ihr Organ ist die Rote Fahne. Sie hat beschlossen, der Wahl fernzubleiben.

      Unter wechselnden Schicksalen bestehen diese Parteien während der gesamten Dauer der deutschen Republik fort. Für den Augenblick sind 421 Sitze zu besetzen. Die Mehrheit beträgt also 211 Sitze. Sie verteilen sich wie folgt:

Mehrheitssozialisten (SPD) 165Sitze
Unabhängige Sozialisten (USDP) 22Sitze
Deutsche Demokratische Partei (DDP) 74Sitze
Zentrum 89Sitze
Deutschnationale Volkspartei (DNVP) 41Sitze
Deutsche Volkspartei (DVP) 23Sitze
Andere (Regionalparteien) 7Sitze

      Mithin gewinnen die Mehrheitssozialisten, Ebert und seine Freunde, die meisten Stimmen. Mit den Unabhängigen fehlt es ihnen nicht viel an 45 Prozent der Gesamtstimmenzahl. Die Ergebnisse der Abstimmung stellen einen großen Sieg der Sozialdemokratie dar. Aber wenn man die Stimmen der Demokraten, des Zentrums, der Deutschen Volkspartei und der Deutschnationalen; also die der nichtsozialistischen bürgerlichen Parteien, zusammenzählt, so sieht man, dass sie 16 Millionen Stimmen auf sich vereinigen. Das liberale, katholische und industrielle Bürgertum und der reaktionäre Adel würden, wenn sie einen Block bildeten, eine klare Mehrheit haben. Der Erfolg der Sozialisten, der Erfolg der Revolution, ist also bloß relativ.

      Auf jeden Fall haben die Sozialisten allein keine Mehrheit. Die beiden sozialistischen Fraktionen hätten zusammen 185 Stimmen. Die absolute Mehrheit beträgt aber 211. Außerdem weigern sich die Unabhängigen, sich mit den Mehrheitssozialisten zu verbünden. Auf das Angebot von Ministerposten, das diese ihnen machen, antworten sie, dass