Von Versailles bis Potsdam. André François-Poncet. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: André François-Poncet
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783958902879
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Beute machten.

      Durch Einigkeit, Mut, Klarheit einer Interessengemeinschaft, methodische Organisation, Hinnahme der militärischen Notwendigkeiten, Bürgersinn, aber auch, im Innern der Staaten, durch wohlbedachte Verbesserung des Loses der Leidenden durch fortschrittliche Sozialpolitik und den Kampf gegen das Elend, diesen Zutreiber des Bolschewismus und Schöpfer des Aufruhrs, werden die Menschenrechte, die Achtung vor dem Individuum, die demokratischen Freiheiten und alle Errungenschaften am sichersten bewahrt werden, auf denen das Wesen unserer Zivilisation beruht und die ihren Wert ausmachen.

       DIE MILITÄRISCHE NIEDERLAGE UND DIE DEUTSCHE REVOLUTION

      Das deutsche Problem ist für Frankreich so alt wie Frankreich selbst. Es reicht bis in die Zeit zurück, in der die Nachfolger Karls des Großen sein Reich teilten und in Uneinigkeit gerieten. Recht oft haben mir Deutsche, die witzig sein wollten, gesagt: »Wir sind für die Abschaffung des Vertrages …«, und ehe ich Anstoß an ihrer Äußerung nehmen konnte, fügten sie eilig hinzu: »Für die Abschaffung des Vertrages von Verdun.«

      Der im Jahre 843 nach der Niederlage Lothars bei Fontenay und den Straßburger Eiden geschlossene Vertrag von Verdun sprach Ludwig dem Deutschen das Land ostwärts des Rheins sowie Speyer, Worms und Mainz auf dem linken Rheinufer zu, Karl dem Kahlen das Land westlich der Schelde und Maas, während ein Gebietsstreifen zwischen der Schelde und der Weser Lothar zugleich mit der Kaiserwürde zugeteilt wurde.

      Seitdem gibt es ein Frankreich und ein Deutschland, seitdem auch einen jahrhundertelangen Streit. Es ist, als zögen sich die beiden Hälften eines früher einheitlichen Ganzen in gleichem Maße wechselseitig an und stießen sich ab, als lebte in ihnen eine verborgene Sehnsucht nach der verlorenen Einheit und als versuchten sie, diese Einheit auf dem Wege der Politik oder der Gewalt wiederzugewinnen. Besonders die Deutschen träumen noch heute wie ihre Altvordern davon, Karl den Großen zu wiederholen. Sie möchten, wie er es war, Nachfolger und Erben des römischen Reiches sein, Europa beherrschen, wie er es beherrschte und wie nach ihm das Heilige Römische Reich deutscher Nation es zu beherrschen strebte.

      Die Erinnerung an das heilige Imperium ist im neuzeitlichen Deutschland keineswegs erloschen. Sie wird schon durch das Wort »Reich« heraufbeschworen, das den Deutschen so teuer ist, das, der Vergangenheit zugewandt, Stolz und Bedauern ausdrückt, im Hinblick auf die Zukunft aber eine Hoffnung und ein Programm bedeutet. Franz von Papen sprach gern vom heiligen Reich, wohl wissend, dass er damit den Ohren seiner Hörer schmeichelte. Und eine der ersten Maßnahmen Hitlers nach der Annexion Österreichs und der Besetzung Wiens war es, die Reichsinsignien von dort wegzunehmen und nach Nürnberg zu bringen.

      Als an der Spitze des Römischen Reiches Deutscher Nation Österreicher standen, die in Flandern, Lothringen, Italien und Spanien begütert waren, entstand für Frankreich die tödliche Gefahr einer Einkreisung. Es wurde zu seiner Hauptsorge, der Erstickung zu entgehen und seine Sicherheit auf der am meisten bedrohten Seite zu festigen, das heißt im Norden, im Osten und am Rhein. Hieraus ist zum großen Teil die Politik Richelieus, Ludwigs XIV., der französischen Revolution und Napoleons zu erklären.

      In uns näherliegenden Zeiten nahm die deutsche Frage ein neues Gesicht an, als Preußen die Bühne des europäischen Theaters betrat. Dieses halbslawische, unter einen für barbarisch erachteten Himmelsstrich entrückte Preußen, das erst seit 1701 ein Königreich war, genoss in Frankreich zunächst große Beliebtheit, da es sich als Nebenbuhler Österreichs erwies. Wir verhalfen ihm zum Aufstieg, indem wir zur Schwächung Österreichs beitrugen, Österreich auf den Schlachtfeldern des Erbfolgekrieges schlugen, später bei Magenta und Solferino, schließlich zuließen, dass es bei Königgrätz besiegt wurde, und indem wir die Bildung der italienischen und der deutschen Einheit begünstigten. Bismarck wollte ein föderatives Deutsches Reich unter preußischer Führung gründen, dem alten österreichischen Kaiserstaat gewachsen, wenn nicht gar überlegen. Die Deutschen nach ihm waren weniger klug. Sie waren von dem Ehrgeiz besessen, die erste Macht des Kontinents zu werden. Verblendet von dem stolzen Bewusstsein, in der Reformation nicht nur die einzige große Ketzerei des Christentums, die gelungen war, verbreitet, sondern auch in der kurzen Spanne von ein bis anderthalb Jahrhunderten die ganze Welt durch Reichtum und Vielseitigkeit geistiger Schöpfungen wie auch durch einen unerhörten industriellen Aufschwung verblüfft zu haben, berauscht von außerordentlich raschen Erfolgen, verfielen die Deutschen zwei Krankheiten, von denen sie auch jetzt noch nicht geheilt sind: dem Verfolgungswahn und dem Größenwahn. Für ihr Streben nach Hegemonie, dieser Kehrseite zurückgedrängter Emporkömmlingsgefühle, erschien Frankreich als Hindernis. Der Krieg von 1870/71 hatte dieses Land nicht ausgeschaltet. Es hatte sich ziemlich rasch wieder aufgerichtet. Mit Russland verbündet, mit England befreundet, war es für Deutschlands Bestrebungen wieder ein Hemmschuh geworden. Das Deutschland Wilhelms II. wollte Frankreich das Rückgrat brechen. Es gelang ihm aber nicht. Jedoch hat es aus Gründen, die wir noch darlegen werden, das durch den Entscheid der Waffen gefällte Urteil nicht anerkannt.

      Deutschland fiel in einen nationalistischen Rausch zurück. Es brachte einen Hitler hervor, der auf einer mehr plebejischen Ebene mittels einer verwegenen sozialen Demagogie die Massen für sich gewann. Hitler hat den Versuch Wilhelms II. erneuert. Er ist noch gründlicher gescheitert. Deutschland ist besetzt, zerschmettert, ruiniert und praktisch vernichtet. Dennoch zählt es nicht weniger als siebzig Millionen Einwohner, ein beachtenswertes menschliches Potenzial. Es handelt sich jetzt darum, über sein Los zu entscheiden, ihm ein Statut zu geben, es durch einen Vertrag zu binden, der nach Möglichkeit weniger brüchig ist als der Vertrag von Versailles. Es gilt, die Rolle zu umreißen, die Deutschland hinfort in Europa zu spielen berufen ist. Was wird diese Rolle sein? Und was wird dieses Europa sein? Die Sieger, die sich auf deutschem Boden niedergelassen haben, sind unter sich uneinig. Sie können sich darüber nicht verständigen, wie der vor zweieinhalb Jahren errungene Sieg verwertet werden soll, sodass die deutsche Frage noch immer ungelöst ist. Bei meinem Versuch, zu klären, wie sich das zeitgenössische deutsche Problem vor unseren Augen darstellt, will ich nicht bis auf die Ursprünge dieses episodenreichen und noch nicht abgeschlossenen Dramas zurückgehen. Das Wort »zeitgenössisch« allerdings ist ein dehnbarer Begriff. Ich war Zeitgenosse von Ereignissen, die vor der Geburt der meisten meiner Leser liegen. Die dritte Republik, deren Weg meine Generation nur zur Hälfte oder zu zwei Dritteln miterlebt hat, rechnen die Historiker, wenn ich nicht irre, auch zur zeitgenössischen Geschichte. Es wäre, glaube ich, richtig, als zeitgenössisch die Ereignisse zu betrachten, für die es noch Augenzeugen, wenn nicht gar Mitwirkende gibt, die imstande sind, darüber mindestens das zu berichten, was sie wahrgenommen haben.

      Gemäß dieser Auffassung werde ich meine Betrachtung mit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges Ende 1918, mit der Stunde des Waffenstillstandes und des Friedens beginnen. Ich werde sie vom Versailler Friedensschluss weiterführen bis zur deutschen Kapitulation, die den Zweiten Weltkrieg beendet, bis zur Konferenz von Potsdam, die nach der Niederlage Deutschlands Schicksal bestimmt hat. »Von Versailles bis Potsdam« kann somit der Titel dieser Studie lauten.

      Ich werde mich bemühen, zu zeigen, wie der Versailler Vertrag nicht hielt, was er versprach; wie er weder den deutsch-französischen Gegensatz noch das deutsche Problem löste; wie die Weimarer Republik Bankrott machte, von der man doch erwartete, dass sie demokratische Einrichtungen einbürgerte und Deutschland ein neues Gesicht und eine neue Seele gäbe; wie, so kurz nach der Niederlage, das Reich an Revanche denken konnte; wie Aufstieg, Diktatur und Sturz Adolf Hitlers zu erklären sind; wie sich endlich, nach der Kapitulation und der zweiten Katastrophe, die Lage Deutschlands gestaltet, das von vier fremden Heeren besetzt und von vier fremden Regierungen abhängig ist.

      Ich gebe nur eine summarische, in großen Zügen gehaltene Skizze von den rund 28 Jahren, die seit dem Zusammenbruch des Reiches Wilhelms II., des »zweiten Reichs«, verflossen sind. Man findet hier keinen vollständigen Bericht, keine lückenlosen Aufzählungen und Chronologien. Ich bemühe mich vor allem, die allgemeinen Ideen herauszuarbeiten, die meines Erachtens den Tatsachen zugrunde liegen und zu deren Erklärung dienen. Dabei hebe ich die Männer hervor, die ich persönlich kannte, und die Ereignisse, an denen ich irgendwie beteiligt war.

      Man wird auf diesem Wege bemerken, dass die Fragen, die uns zur Stunde bewegen, oft sehr