Von Versailles bis Potsdam. André François-Poncet. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: André François-Poncet
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783958902879
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zeigen, dass der Mensch sich nicht viel um die Lehren der Geschichte kümmert. Die Erfahrungen seiner Vorgänger zählen in seinen Augen gering. Und er kehrt fröhlich zu den schon begangenen Fehlern zurück. Man kann dies in gewisser Hinsicht bedauern. In anderer Beziehung ist es besser, sich philosophisch damit abzufinden. Denn wenn jede Generation die Früchte aller Erfahrungen erntete, die von allen ihr vorausgehenden Generationen erworben worden sind, befände sich unsere Generation heute auf dem Gipfel einer Pyramide der Weisheit. Aber ihr Selbstvertrauen, ihr Lebensmut, ihre innere Glut, wären dadurch empfindlich herabgesetzt. Ich war stets der Meinung, dass die Ausbreitung der Weisheit den Beginn des Niedergangs der Menschheit bedeutet. Von diesem Standpunkt aus gesehen, ist das sich uns heute bietende Bild der Welt durchaus beruhigend. Es ist uns kein Zweifel darüber erlaubt, dass die Menschheit Aussicht hat, noch viele Jahrtausende zu erleben.

      Im Herbst 1918 kamen für viele von uns das Ende der militärischen Operationen, die Unterzeichnung des Waffenstillstandes und die deutsche Kapitulation plötzlich und unerwartet, fast wie ein Wunder.

      Das ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass im März 1918 das englische Heer mit knapper Not dem Unheil entging, dass wir selbst im Mai am Chemin des Dames zerschmettert und auf die Marne zurückgeworfen wurden, dass Paris zu dieser Zeit den Granaten des langen Max ausgesetzt war und dass es uns erst Mitte Juli durch einen Gegenangriff in der Champagne gelang, wieder die Initiative zu ergreifen und eine Reihe erfolgreicher Offensiven durchzuführen. Von Juli bis November hatten wir das deutsche Heer zum Rückzug gezwungen. Aber es ging Schritt für Schritt zurück, in voller Ordnung, kämpfend; und es machte den Eindruck, dass es noch in sich gefestigt und furchtbar war. Marschall Foch hatte für November einen Angriff auf Deutsch-Lothringen vorbereitet. Er erhoffte davon bedeutenden Erfolg. Dennoch glaubte er nicht, dass es die letzte Schlacht sein würde. Er rechnete mit einem Winterfeldzug, mit dem Endsieg erst im Frühling 1919. Aber am 11. November 1918 erklärte sich Deutschland besiegt. Es unterzeichnete den Waffenstillstandsvertrag. Vier Monate hatten genügt, um eine völlig veränderte Lage zu schaffen und die gewaltige Kriegsmaschine des Gegners außer Gefecht zu setzen. Man traute seinen Augen nicht. Die Reichweite und die Schnelligkeit dieses Umschwungs erfreuten natürlich die Alliierten, überraschten sie aber auch, denn sie konnten seine Ursachen nicht klar erkennen.

      Ihrer Freude, ihrem Triumph war deshalb ein gutes Teil Misstrauen beigemischt. Die Furcht vor Deutschland, seiner verbleibenden Kraft und seinen möglichen Gegenwirkungen überlebte den Waffenstillstand und beeinflusste während der Ausarbeitung des Friedensvertrages den Geist der Unterhändler, nicht nur der Engländer und Amerikaner, sondern auch der Franzosen. Frankreichs Sorge um seine Sicherheit, die in der Folgezeit eine so wichtige Rolle spielen sollte, tritt in demselben Augenblick in Erscheinung, in dem das Reich Wilhelms II. die Waffen niederlegt.

      Als das Signal zum Einstellen des Feuers ertönt, sieht es so aus, als seien die Engländer von tiefem Hass gegen die Deutschen erfüllt. Sie bezeichnen sie nur als »Hunnen«. Lloyd George schwört, der Kaiser werde in einem Käfig durch die Straßen geführt und dann gehängt werden, und man werde Deutschland zur Wiedergutmachung der von ihm verursachten Schäden pressen, »bis man die Knochen krachen hört«.

      Weniger grimmig sind die Amerikaner. Ohne die Zerstörungen durch den U-Bootkrieg und die Torpedierung der »Lusitania« vergessen zu haben, denken sie eher daran, Schiedsrichter zu spielen, in dieses kleine und doch so zersplitterte Europa Ordnung hineinzubringen und dort eine neue und aufsehenerregende Einrichtung zu schaffen, die unter dem Namen »Völkerbund« den Weltfrieden verbürgen soll. Und obendrein wollen sie so früh wie möglich heimkehren.

      Die Franzosen können den »Boches« nicht die begangenen Verwüstungen verzeihen, die Ersäufung der Gruben, die Verstümmelung der Obstbäume und die Deportierung der Bevölkerung der nördlichen Departements. Deutschland soll die Schäden, für die es verantwortlich ist, vollständig wieder gutmachen und die Kosten der Reparationen tragen. Auch soll der Krieg, dessen Lasten Frankreich vier Jahre hindurch getragen hat, der letzte aller Kriege gewesen sein. Das Mittel hierzu ist die Entwaffnung des Reichs. Es soll unter die Aufsicht eines Bundes aller friedliebenden Völker gestellt werden. Wiedergutmachung aller Schäden von gestern und Sicherheit für morgen sind die Hauptforderungen, die sich die französische öffentliche Meinung einhellig zu eigen macht. Sie erkennt nichtsdestoweniger an, dass die Deutschen tapfere Soldaten gewesen sind. Bei allem Abscheu empfindet sie für den deutschen Soldaten insgeheim eine gewisse Achtung, was ihr den Wunsch eingibt, die Ära der deutsch-französischen Konflikte möchte ein für alle Mal beendet sein.

      Engländer, Amerikaner und Franzosen sind gleichermaßen überzeugt, dass dieser grausamste und blutigste aller Kriege, den es je gegeben hat und nach ihrer Meinung je geben wird, von Deutschland, seinem Ehrgeiz, Machthunger und Hegemoniestreben gewollt und hervorgerufen worden ist, dass Deutschland schuldig ist und als schuldig behandelt werden muss.

      Den Deutschen dagegen hat man ihrerseits eingeredet, und sie haben es gehorsam anerkannt, dass sie nichts anderes taten, als sich in einem Krieg zu verteidigen, der ihnen aus Neid und Hass aufgezwungen wurde, um ihrem Land den gebührenden Platz an der Sonne zu verwehren. Nach Kriegsende wendet sich ihr Groll fast ausschließlich gegen die Engländer. Die Engländer haben das Reich blockiert und die Frauen und Kinder systematisch ausgehungert. Gott strafe England! Das ist das deutsche Schlagwort. Die Amerikaner, die sich auf den Schlachtfeldern als Neulinge erwiesen haben, betrachten sie mit einer recht verächtlichen Ironie. Ihre ganze Sympathie gehört den Franzosen. Sie erkennen an, dass die Franzosen gute Soldaten und würdige Gegner waren. Sie bewundern den »poilu«. Sie beneiden die Franzosen um Clemenceau und Foch und hoffen auf eine Versöhnung mit ihnen.

      So stellt sich beim Waffenstillstand das Gefühlsbild der Kriegführenden dar. Es währte nicht lange, so sollte es einschneidende Veränderungen erfahren.

      Untersucht man den Zustand der öffentlichen Meinung in Deutschland kurze Zeit danach, fragt man, wie sie in ihrer überwältigenden Mehrheit den Waffenstillstand vom 11. November 1918 und den ihm folgenden Frieden vom Juni 1919 auffasst, wie sie über die entscheidenden Ereignisse unterrichtet wird und darüber denkt, so begegnet man folgender Ansicht, von allen Zeitungen verbreitet, in allen Schulen gelehrt, in jedem Gehirn verankert, lange vor der Machtübernahme durch Hitler und den Nazismus:

      Deutschland ist nicht militärisch besiegt worden. Sein Heer wurde nicht im Felde geschlagen und durch eine Niederlage zur Übergabe gezwungen, seine Grenzen wurden nicht verletzt, es erfolgte keine Invasion.

      Deutschland ist vor allem ein Opfer der Blockade, eines unmenschlichen Kriegsmittels, demgegenüber der uneingeschränkte U-Bootkrieg völlig gerechtfertigt war.

      Deutschland wurde außerdem noch durch die Bekanntgabe der 14 Punkte betroffen, die nach der Erklärung des Präsidenten Wilson in einer Botschaft an den Kongress vom Januar 1918 die Grundlage für den Frieden bilden sollten.

      Die ganze Welt war gegen Deutschland verbündet.

      Deshalb hat es auf Veranlassung der Zivilregierung und der parlamentarischen Kreise um einen Waffenstillstand gebeten, als notwendige Voraussetzung für die Eröffnung von Verhandlungen über einen Frieden, der nach deutscher Ansicht auf der Basis der Gleichberechtigung zu verhandeln war, da es auf dem Schlachtfeld weder Sieger noch Besiegte gegeben hatte.

      Die von den Alliierten auferlegten Waffenstillstandsbedingungen waren indessen so drakonisch und hart wie bei einer Niederlage des deutschen Heeres. Deutschland hätte sie zurückweisen und den Kampf wiederaufnehmen können, aber in diesem Augenblick versetzten Sozialdemokraten, Marxisten und Juden dem Vaterlande einen Dolchstoß in den Rücken. Die Heimat verriet die Front. Sie revolutionierte und machte damit jeden Widerstand unmöglich.

      Deutschland rechnete trotzdem auf einen Verhandlungsfrieden. Es hatte die Revolution im Innern niedergeschlagen und sich eine republikanische und demokratische Verfassung nach dem Muster der Alliierten gegeben.

      Doch die Alliierten machten sich seine Ohnmacht zunutze, nachdem sie ihm beim Waffenstillstand Waffen und Verteidigungsmittel weggenommen hatten. Sie isolierten in Versailles die deutschen Vertreter, verwarfen ihre Einwände und Gegenvorschläge und lehnten jede Verhandlung mit ihnen ab. Als wahrhafte Betrüger legten sie zunächst den Köder der 14 Punkte Wilsons aus, warfen ihn dann beiseite