Von Versailles bis Potsdam. André François-Poncet. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: André François-Poncet
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783958902879
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und denen angeboren ist, niemals einen Fehler einzugestehen, meinten, die Beseitigung des Vertrages, besonders seiner Klauseln über Reparationszahlungen und militärisches Statut des Reiches, müsse die Vorbedingung oder die erste Folge der Versöhnung sein. Auf diesem Boden war keine Verständigung möglich. Frankreich ist dennoch Stufe um Stufe auf der Leiter der Zugeständnisse herabgeglitten. Hätte Frankreich etwa bessere Ergebnisse erzielt, wenn es sich diese Zugeständnisse nicht hätte abpressen lassen, sondern sie – vorausgesetzt, dass sein Volk es geduldet hätte – allein, aus eigenem Antrieb und mit einem Schlage in Form der von den Deutschen geforderten »großen Geste« gewährt hätte? Man kann es mit Recht bezweifeln. Es ist nicht sicher, ob die fragliche große Geste nicht für ein Zeichen der Schwäche und der Angst gehalten worden wäre und zum Triumph der Nationalisten geführt hätte.

      Aus der Geschichte jener zwanzig Jahre zwischen den beiden Kriegen lassen sich nützliche und treffende Lehren ziehen. Die meisten davon hat man schon aus den Augen verloren. Man würde sich wohl eher daran erinnern, wenn nicht klar wäre, dass das deutsche Problem sich heute in anderer Weise darstellt als gestern. Einerseits spricht die Niederlage von 1945 zu den Deutschen eine weit beredtere und schwerer zu verfälschende Sprache als die von 1918. Die in den Städten aufragenden Ruinen, die Besetzung des gesamten Staatsgebiets durch die fremden Heere, der Zusammenbruch der Industrien, das Verschwinden jeder militärischen Streitmacht, das herrschende Elend – sie reden eine Sprache, der sich das germanische Ohr und das germanische Gehirn nicht verschließen können. Deutschland hat für lange Zeit aufgehört, für sich allein eine Gefahr für den Frieden zu sein. Aber es ist andererseits ein Ereignis von bedeutender Tragweite eingetreten, das die Sieger nicht vorausgesehen hatten. Einer von ihnen, einer von denen, die an ihrer Seite mit der größten Erbitterung und dem größten Heldenmut gekämpft hatten, löste sich von ihnen los. Ja noch mehr, er erhob sich gegen sie. Dem Siege folgte die Zwietracht. Der nationalistisch, militaristisch und panslawistisch gewordene russische Kommunismus erwies sich als expansions- und eroberungslustig. Sowjetrussland riss die Staaten Mittel- und Osteuropas an sich. Es umgab sich mit einem Ring von Satelliten, seinem Willen unterworfen und hinter einem eisernen Vorhang abgesperrt, bildete einen Ostblock, dessen Spitze sich gegen den Westen richtet. Es nahm eine offen feindselige Haltung gegenüber seinen Gefährten von gestern ein, gegen die liberalen Demokratien und besonders gegen die Vereinigten Staaten von Amerika, denen es seine eigenen imperialistischen Herrschaftspläne unterstellt. Es zwang Westeuropa, das eine Abneigung zeigt, den eigenen Augen zu trauen, sich auf seine Verteidigung einzurichten, seine Solidarität aufgrund des Marshallplanes zu organisieren, den ihm Amerika anbot, um dem Kontinent beim Verbinden der Kriegswunden zu helfen. Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken nahm sogar das Recht in Anspruch, Westeuropa die Annahme dieses Planes zu verbieten. So sind Europa und die Welt in zwei gegensätzliche Gruppen geteilt, und die Organisation der Vereinten Nationen, welche die Harmonie und den Frieden der Welt sichern sollte, bleibt gelähmt. Aber die Trennungslinie, die Bruchlinie zwischen den beiden Blöcken, läuft in Europa mitten durch Deutschland. Sie zerschneidet Deutschland in zwei Hälften. Der eiserne Vorhang der Sowjets fällt vor der russischen Besatzungszone herunter. Wenn auch selbst ohnmächtig, wird Deutschland dadurch ein zusätzlicher Wertfaktor, der im Kampf um die politische Vormacht, den seine Gebieter ausfechten, eingesetzt werden kann. Jeder von diesen versucht, den von ihm kontrollierten Teil Deutschlands auf seine Seite zu bringen und in seinem Lager zu behalten. Russland entwickelt mit der Kommunistischen Partei, von ihm beraten und gelenkt, die hinterhältigste Propaganda. Es wirft sich zum Vorkämpfer der Wiederherstellung der Reichseinheit auf. Es befürwortet die Wahl einer Nationalversammlung für das ganze Reichsgebiet, und diese soll dem Reich ein politisches Statut geben. Von dieser Nationalversammlung hofft Russland, dass in ihr seine Anhänger die Oberhand gewinnen. Russland schmeichelt den patriotischen Gefühlen der deutschen Nationalisten, der ehemaligen militärischen Kreise, die für sich zu gewinnen, es sich während ihrer Kriegsgefangenschaft bemüht hat, der großen Masse der »kleinen Nazis«, die es schont, nachdem es die Führer bestraft und ausgeschaltet hat. Russland verbreitet den Gedanken, Deutschland habe, wenn es sich mit ihm in einem Nationalkommunismus als Nachfolger des Nationalsozialismus verbinde, die Gelegenheit, sich an den kapitalistischen Demokratien zu rächen und seine Stellung als Großmacht wiederzugewinnen. Es gibt keine deutsche Gefahr mehr. Aber an ihrer Stelle ist eine russische Gefahr aufgetaucht, und sofort droht die deutsche Gefahr als Folge der russischen wiederaufzuleben. Um sich dagegen zu verteidigen, können die Westmächte sich nicht damit begnügen, mit der Abneigung zu rechnen, die die meisten Deutschen dem Bolschewismus gegenüber noch empfinden, oder mit dem Hass, den grausame Methoden der russischen Besatzung gesät haben. Sie müssen der Bevölkerung ihrer Zonen ein Dasein schaffen, das dem der Bewohner der Ostzone vorzuziehen ist, bessere Ernährung, größere und lohnendere Verdienstmöglichkeiten, ein sanfteres und liberaleres politisches Klima, die Aussicht auf Gleichberechtigung in der Organisation eines künftigen europäischen Staatenbundes; und außerdem dürfen sie keinen Zweifel darüber lassen, dass sie einem etwaigen Angriff der Slawen Widerstand zu leisten vermögen.

      An dieser Aufgabe kann Frankreich in wirksamster Weise mitarbeiten. Seine Lebensformen, der Ideenkreis, in dem es sich bewegt, die Atmosphäre seiner Kultur, seine Überlieferungen machen es ihm leichter als jeder anderen Nation, in Süd- und Westdeutschland Gehör und Verständnis zu finden. Gewiss hätte Frankreich tausend Gründe, in einer radikalen Ablehnung gegenüber jenem Volke zu verharren, das es im Verlauf von noch nicht einem Jahrhundert dreimal überfallen und so vielen seiner Kinder brutalste Misshandlungen und abscheuliche Martern zugefügt hat. Indes lässt sich nicht feststellen, dass Frankreich von Hass und Rachedurst beseelt sei. Zwar vergisst es die Vergangenheit nicht, aber sein Instinkt, seine tiefe Humanität treiben es im Gegenteil dazu, sich noch einmal auf die Suche nach den Wegen einer besseren Zukunft zu begeben und bei den Deutschen eine Entwicklung zu fördern, die es erlaubt, sie in den Kreis der Demokratien des Westens aufzunehmen und dauerhafte gutnachbarliche Beziehungen zu ihnen herzustellen.

      Ich habe meinen Abriss der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen in der Zeit zwischen den Kriegen mit der Potsdamer Konferenz abgeschlossen. Diese stellt in der Tat den letzten Augenblick dar, da die Alliierten noch untereinander einig sind und man glauben kann, es sei ihnen gelungen, gemeinsame Grundsätze für eine gemeinschaftliche Regierung Deutschlands bis zum Abschluss eines endgültigen Vertrages festzulegen. Kaum zwei Monate später ist diese Einigkeit schon hinfällig. Es beginnt ein unruhevoller und dramatischer Zeitabschnitt, die Periode des »Kalten Krieges«, wobei die Sorge um die Zukunft und die Angst wieder in die Herzen einziehen. Sie dauert noch an, reich an überraschenden Wendungen und verschiedenen Zwischenfällen. Ich habe die Probleme angeführt, die diese Periode zu lösen hat, und die Faktoren, aus denen sie sich zusammensetzt.

      Wie werden diese Probleme gelöst werden? Niemand vermag es zu sagen. Gleichwohl kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass das neue Kapitel der Geschichte, das vor uns aufgeschlagen ist, in eigentümlicher Weise dem ähnelt, das wir erlebt haben, und dass der Totalitarismus Stalins seltsam an den Totalitarismus Hitlers erinnert. Muss man daraus den Schluss ziehen, dass aus dem gegenwärtigen Konflikt zwangsläufig ein dritter Weltkrieg entsteht? Nein – wenn wir Nutzen aus den Lehren ziehen, die die jüngste Vergangenheit erteilt hat.

      Hier gewinnen die Lehren der Zeit zwischen den beiden Kriegen ihre ganze Aktualität zurück. Die westlichen Demokratien, die Staaten, die das bilden, was man als das »atlantische Europa« bezeichnen kann, sind sich der sie bedrohenden Gefahr bewusst. Sie haben die Grundlage für eine gemeinsame, koordinierte Verteidigung geschaffen. Wenn Sowjetrussland sieht, dass es keine Aussicht mehr hat, sie zu trennen, ihren Widerstand und ihren Zusammenhang von außen zu brechen oder von innen zu sprengen, so ist es möglich, dass es vor der Gefahr eines Weltbrandes zurückschreckt. Wenn es begriffen hat, dass wir ihm gern den Genuss eines Regimes nach seinem Geschmack belassen, aber auch entschlossen sind, uns von ihm nicht verschlingen zu lassen, dann wird es sich vielleicht anschicken, die Formel eines auf der Teilung der Einflusssphären und dem Gleichgewicht der Kräfte beruhenden Friedens zu suchen.

      Hätte sich Adolf Hitler einem kompakten und geschlossenen Block gegenübergesehen, so hätte er nicht gewagt, einen Krieg zu entfesseln.

      Für das Abendland wäre es die schwerste Gefahr, wenn die Schwäche seiner Regierungen, der Defaitismus seiner öffentlichen Meinung, die Heftigkeit seiner