Von Versailles bis Potsdam. André François-Poncet. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: André François-Poncet
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783958902879
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Die Engländer beklagen sich über die Haltung des Generals Mangin, und die Franzosen opfern ihn auf deren Wunsch.

      Trotz der Trümpfe, welche die Zentralisten somit in der Hand halten, begreifen sie, dass der Widerstand des Föderalismus zu kräftig ist, als dass sie mit ihm fertig werden könnten. Hugo Preuß ist genötigt, nachzugeben. Die Nationalversammlung sucht nach einem Ausgleich und kommt auf eine Lösung, die den Charakter eines Kompromisses hat. In Wirklichkeit war keiner der Beteiligten davon befriedigt.

      Deutschland verbleibt nach der Weimarer Verfassung ein Bundesstaat. Es besteht, wie vorher auch, aus einer Reihe von Gliedstaaten, unter sich durch ein zentrales Regierungsorgan verbunden. Jeder dieser Staaten besitzt ein Parlament, einen Landtag, der nach allgemeinem Stimmrecht und dem Grundsatz der Verhältniswahl gewählt ist, eine dem Landtag verantwortliche Regierung, eine Beamtenschaft, eine auf gewisse Gebiete beschränkte Zuständigkeit der Gesetzgebung, eine umfangreichere verwaltungsrechtliche Zuständigkeit und eigene Einnahmequellen. Aufgrund des Artikels 18 können die Grenzen dieser Staaten verändert, Gebiete von einem Staat abgetrennt und einem anderen angeschlossen sowie neue Staaten geschaffen werden, nach einer Abstimmung der daran interessierten Bevölkerungen, sobald sich eine Mehrheit von 3/5 der abgegebenen Stimmen dafür ausspricht. Dies scheinen wesentliche Zugeständnisse an die Föderalisten zu sein. Trotzdem sind sie es nur scheinbar, denn die Suprematie der Reichsregierung über die Bundesstaaten ist absolut. Die Gliedstaaten sind keine Staaten mehr. Man vermindert ihre Zahl von 26 auf 18. Sie heißen von nun an »Länder«. Die Reichsgesetzgebung kann jederzeit und in jeder Angelegenheit in die Gesetzgebung der Länder eingreifen. Marine, Diplomatie, Handel, Verkehr und Verkehrsmittel und das Münzwesen gehören ausschließlich zur Machtbefugnis des Reichs. Bayern, Sachsen und Württemberg hatten früher eigene Heere mit besonderen Abzeichen und eigene Kriegsministerien. Fortan wird es schon in Friedenszeiten nur noch eine Armee geben, die Reichswehr, die vom Reichswehrministerium in Berlin geleitet wird, wie es nur noch eine Reichspost-, eine Reichsbahnverwaltung und eine Notenbank geben wird. Überall hin streckt das Reich die Hand aus. Die Tragweite des Artikels 18 wird dadurch eingeschränkt, dass die Änderung des Gebiets oder die Neubildung eines Landes durch Reichsgesetz erfolgen muss. Außerdem wird sein Inkrafttreten um zwei Jahre nach Verkündigung der Verfassung verzögert. In Wirklichkeit wird er nie angewendet werden.

      Die Weimarer Verfassung stellt also einen beträchtlichen Fortschritt auf dem Wege zum radikalen Einheitsstaat dar. In diesem Sinne verschlimmert sie die Verfassung Bismarcks. Berlin und Preußen mit ihrem Beamtenapparat, ihren Befehlsgewohnheiten, ihrer Verachtung provinzieller Eigentümlichkeiten werden sich noch mehr als in der Vergangenheit für eine Zentralisierung des Reichs einsetzen. Der Föderalismus geht aus dieser Prüfung zwar nicht besiegt, aber geschwächt hervor. Das neue Deutschland wird kein Staatenbund, wobei die wesentliche Macht bei den Gliedstaaten läge, sondern ein Bundesstaat, in dem die Staatsgewalt dem Bundesorgan übereignet und von ihm nach Gutdünken auf die ihm untergeordneten Staaten übertragen wird.

      Das Organ des Bundes übt die gesetzgebende und vollziehende Gewalt aus.

      Die gesetzgebende Gewalt gehört dem Reichstag, der aufgrund des allgemeinen Stimmrechts und der Verhältniswahl von allen über zwanzig Jahre alten Deutschen für vier Jahre gewählt wird. Ihm zur Seite tagt eine zweite Kammer, der Reichsrat, der an den einstigen Bundesrat erinnert. Der Reichsrat setzt sich aus Vertretern der Bundesländer zusammen. In ihm hat jedes Land mindestens eine Stimme, und eine Stimme auf 700 000 Einwohner in den größeren Ländern. Er ist aber dem Reichstag nicht gleichgestellt. Er prüft die Gesetzesvorlagen der Regierung. Diese ist aber nicht verpflichtet, seiner Auffassung Rechnung zu tragen. Er kann das Inkrafttreten der vom Reichstag beschlossenen Gesetze aufschieben. Aber seine Opposition ist wirkungslos, wenn der Reichstag an seinem Beschluss mit Zweidrittelmehrheit festhält. Grundsätzlich gibt es zwei Kammern, in der Praxis aber nur eine Kammer, den Reichstag, der direkt aus dem Volke hervorgeht und das Recht hat, die Regierung jederzeit durch ein Misstrauensvotums zu stürzen. Vor ihm schwört der Reichspräsident seinen Eid. Der Reichstag hat das Recht, vor dem Staatsgerichtshof den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die Reichsminister anzuklagen, wenn sie die Reichsverfassung oder ein Reichsgesetz verletzen.

      Der Regierungschef behält die Bezeichnung Reichskanzler. Er wird, wie auch die Minister, vom Reichspräsidenten ernannt, aber er und die Minister müssen das Vertrauen des Reichstags besitzen. Der Reichspräsident, der sie ernennt, entlässt sie auch aus ihren Ämtern.

      Die Weimarer Nationalversammlung hat also für die Einführung einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland Sorge getragen.

      Aber sie wollte, dass an der Spitze dieser Demokratie eine starke Exekutivgewalt stehe. Sie wollte eine autoritäre Demokratie schaffen. Unzweifelhaft hat sie aus diesem Grunde dem Reichspräsidenten sehr weitgehende Befugnisse eingeräumt. Der Reichspräsident wird vom deutschen Volk auf sieben Jahre gewählt, ist wieder wählbar und vertritt das Reich nach außen. Er schließt Bündnisse und Verträge mit den auswärtigen Mächten. Er beglaubigt und empfängt die Botschafter Er hat das Begnadigungsrecht. Er hat den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht. Er kann den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlass. Er kann die Forderung erheben, dass ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz binnen einem Monat einem Volksentscheid unterworfen wird.

      Dies sind seine ordentlichen Rechte. Sie entsprechen denen der Staatsoberhäupter anderer Republiken. Aber darüber hinaus ist er mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattet, die in einem Artikel festgelegt sind, der als »Artikel 48« Berühmtheit erlangen sollte.

      Gemäß den Bestimmungen des Artikels kann der Reichspräsident, wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, es mit Hilfe der bewaffneten Macht dazu zwingen. »Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet werden, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Von allen diesen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstages außer Kraft zu setzen.«

      Der Artikel 48 wurde von der Nationalversammlung sichtlich unter dem Eindruck der Ereignisse angenommen, die im März 1919 zu blutigen Kämpfen in Berlin, im April und Mai in Bayern und Sachsen geführt hatten. Sie wollte damit dem Staatsoberhaupt im Falle der Wiederkehr ähnlicher Ereignisse – und tatsächlich haben diese sich wiederholt – die Mittel an die Hand geben, die Aufstände zu unterdrücken und die öffentliche Ordnung durch geeignete Maßnahmen wiederherzustellen, als da sind Belagerungszustand, unmittelbar durchführbare Notverordnungen, Einsetzen der bewaffneten Macht. Dies unter der Voraussetzung, nach Wiederherstellung der Ruhe dem Reichstag über die unter dem Zwang einer Notlage dringlich getroffenen außerordentlichen Maßnahmen Rechenschaft abzulegen.

      Eine solche Vorsichtsmaßnahme schien damals so natürlich, dass dieser Artikel zu keiner ernstlichen Beanstandung Anlass gab. Tatsächlich überließ er es dem Reichspräsidenten, zu entscheiden, ob die öffentliche Ordnung und Sicherheit ernsthaft gefährdet wären und das Reich in Gefahr brächten. Dem Reichspräsident stand es frei, anzunehmen, Ordnung und Sicherheit des Reichs seien ernsthaft bedroht, nicht nur durch einen Umsturzversuch, eine bewaffnete Revolte in Preußen oder anderwärts, sondern auch durch eine Finanzkrise, eine Wirtschaftskrise, eine politische Krise oder durch die Haltung des Reichstags und, damit im Zusammenhang, die Schwierigkeit einer parlamentarischen Mehrheitsbildung. In diesen Fällen konnte der Reichspräsident das normale parlamentarische Regime zeitweilig aufheben und nach eigenem Gutdünken mithilfe von Notverordnungen regieren. Die Diktatur ging auf nahezu legalem Wege aus der parlamentarischen Demokratie hervor und steckte sie in die Tasche. Dazu kam es im Jahre 1930, als Feldmarschall Hindenburg den Reichskanzler Brüning deckte und anfing, mit Notverordnungen zu regieren. Man kann sagen: Von diesem Augenblick an war die Republik krank und sollte nicht mehr lange leben. Deutschland wurde reif für Hitlers Diktatur.

      Es trifft zu, dass der Artikel 48 bestimmt, dass die vom Reichspräsidenten beschlossenen außerordentlichen Maßnahmen auf Forderung des Reichstages aufgehoben werden müssen. Aber wird der Reichstag es je fordern? Nie wird er es wagen, in einen offenen Konflikt mit dem Reichspräsidenten zu