Von Versailles bis Potsdam. André François-Poncet. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: André François-Poncet
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783958902879
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entstehen konnten. Sie hat ein Reichsgericht als Kassationshof und einen Staatsgerichtshof als oberstes Gericht vorgesehen, vor dem die Streitfälle zwischen dem Reich und den Ländern wie der Länder untereinander entschieden werden sollten, ferner die vom Reichstag gegen den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die Reichsminister erhobenen Klagen wegen Verfassungsbruchs. Denn der Reichspräsident hat Waffen gegen den Reichstag. Er kann ihn in die Schranken weisen, er kann ihn auflösen, während er selbst auf Vorschlag des Reichstags nur kraft eines Volksentscheids seines Amtes enthoben werden kann. Und wenn dieser günstig für ihn ausfällt, dann gilt er automatisch als wiedergewählt, und der Reichstag wird aufgelöst.

      Die Verfasser des Artikels 48 wären sehr erstaunt gewesen, wenn man ihnen gesagt hätte, dass er die größten Schwierigkeiten hervorrufen und zum Stein des Anstoßes werde, an dem eines Tages das Werk der Nationalversammlung zerbrach.

      Aber es ist zuzugeben, dass die Weimarer Nationalversammlung schwer zu vereinigende Ziele verfolgte. Sie wollte sich sehr demokratisch gebärden. Deshalb übertrug sie dem Reichstag eine vorbeherrschende Stellung. Sie sah weitgehend das Eingreifen des Volkes durch die Einführung des Volksbegehrens und des Volksentscheides vor. Gleichzeitig errichtete sie eine ebenso mächtige Exekutivgewalt, die ebenfalls auf Volksabstimmung begründet war. Sie stellte zwei Gewalten einander gegenüber, von denen sie annahm, sie würden harmonisch zusammenarbeiten. Aber wenn diese Harmonie fehlte, wurden die beiden Gewalten zu Gegnerinnen. Den Sieg davontragen würde die entschlossenere von beiden, nämlich diejenige, welche die Mehrheit der öffentlichen Meinung für sich hätte, über die bewaffnete Macht verfügte und sich besser auf die Auslegung des Verfassungstextes verstände. Eine solche Entschlossenheit konnten die sozialistischen Abgeordneten des Reichstags nicht aufbringen. Ihr Prestige hatte unter dem Gang der Ereignisse gelitten, es konnte dem des Feldmarschalls Hindenburg nicht die Waage halten.

      Neben diesem Geburtsfehler erscheinen die Grundrechte, welche die Verfassung in ihre Artikel aufnahm, das Versammlungsrecht, die Vereinsfreiheit, das Eigentumsrecht, die Freiheit der Meinungsäußerung, Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit und religiöse Neutralität des Staates, alles an sich sehr schätzenswerte Garantien, heute verblasst. Mit einer Handbewegung konnten sie – wie es geschehen ist – beseitigt werden. Dennoch stellt die Weimarer Verfassung gegenüber der Bismarck’schen Verfassung vom 16. August 1871, diesem Bund von Monarchen unter der Fuchtel des Königs von Preußen, dieser Karikatur eines Parlamentarismus mit einem Reichstag ohne Autorität, einem Kanzler ohne Verantwortung vor der Kammer, mit Ministern, die ohne parlamentarische Mitwirkung berufen wurden, einen bemerkenswerten Fortschritt dar. Nach dem Vorbild ausländischer Verfassungen, wie der schweizerischen oder der US-amerikanischen geschaffen, stellt sie wirklich eine demokratische Verfassung des in den westlichen Demokratien gebräuchlichen Typs dar. Sie war eine brauchbare Grundlage für ein parlamentarisches Regime und hätte andauern und normal funktionieren können, wenn sie die vorbehaltlose Zustimmung der Nation und die Unterstützung durch die politische Moral gefunden hätte. Aber wie die Geschichte so mancher anderen Verfassung beweist auch die der Weimarer, dass die Texte nicht viel zu bedeuten haben. Schließlich tun die Menschen immer hinzu oder hinweg, was sie wünschen, und biegen sie nach ihrem Maß zurecht. Man wünscht, dass sich die Menschen Vorschriften unterordneten; aber es sind die Menschen, die Herren über die Vorschriften sind.

      Der Weimarer Nationalversammlung hat es an gutem Willen nicht gefehlt, und im Ganzen gesehen hat sie beachtliche Arbeit geleistet. Sie beging Fehler eher aus Mangel an Psychologie und Kenntnis des eigenen Volkes. Dieser Vorwurf trifft den Professor Hugo Preuß. Es war ein Fehler, nicht bemerkt zu haben, dass die dem Reichspräsidenten verliehenen außerordentlichen Vollmachten im Fall einer schweren Krise ihrem eigentlichen Sinn entfremdet und gegen die Verfassung benutzt werden konnten. Die Zukunft hat dies deutlich gezeigt. Aber es war auch ein Fehler, der meist nicht hervorgehoben wird, die Länder gegenüber der Reichsinstanz zu entmachten, die Autorität der Zentralgewalt noch zu steigern und diese in Berlin zu belassen, wo sich der ganze Einfluss der Kreise des alten Regimes konzentrierte. Man glaubte, die Zentralgewalt werde in ganz Deutschland den demokratischen Geist verbreiten. Aber auf dem Wege über Amtsstuben, Beamten, Verbände, Gesellschaften und Vereine verbreitete sie den nationalistischen und reaktionären Geist. Und so wird es morgen wieder sein, wenn man erneut den gleichen Weg einschlägt. Der demokratische Geist wird sich in Deutschland nur dort entwickeln, wo er geboren ist und seine ersten Wurzeln geschlagen hat, im Leben von Dorf, Stadt und Provinz, in der städtischen Verwaltung und der Regierung der Länder im Süden und Westen. Zentralisation und Vereinheitlichung werden in Deutschland stets eine Neigung zur Diktatur und das Streben nach Wiederherstellung des nationalistischen Dynamismus und der militärischen Stärke des Landes bemänteln.

      Ein anderer Fehler ist noch weniger offenbar, aber nach unserer Meinung nicht weniger eine Tatsache, nämlich die Anwendung der Verhältniswahl auf alle in der Weimarer Verfassung vorgesehenen Wahlakte. Unzweifelhaft gibt es kein wirklich gutes Wahlsystem, und es wäre am besten, es grundsätzlich von Zeit zu Zeit zu ändern. Aber mit dem System der Verhältniswahl sollte nicht bei einem Volke begonnen werden, das erst zu demokratischen Methoden hingeführt und für sie gewonnen werden muss. Es setzt eine schon gereifte politische Erziehung voraus. Es erweckt weder die Neugierde noch das Interesse der Wähler. Es wird dem Wert der Persönlichkeit weniger gerecht und erschwert es, Persönlichkeiten zu entwickeln. Es bringt Parteistreitigkeiten hinter den Kulissen mit sich, die auf den Außenstehenden recht abstoßend wirken. Endlich gibt es dem parlamentarischen Leben etwas Mechanisches und erschwert dennoch die Bildung von Regierungsmehrheiten.

      Wie dem auch sei, Tatsache ist, dass der Parlamentarismus der Weimarer Verfassung niemals die Herzen der Deutschen gewonnen hat. Diese haben ihn mehr als einen fremden Import empfunden, dazu bestimmt, im Ausland Anklang zu finden, weniger als bodenständigen Ausdruck deutschen Wesens. Ohne Verständnis für die furchtbare Schwierigkeit von Fragen und Lagen, der der Parlamentarismus gegenüberstand, machten sie ihn für die Mittelmäßigkeit seiner Lösungen verantwortlich und tadelten die Verwirrung, Langwierigkeit und Langeweile seiner Debatten, die Gehässigkeit seiner Intrigen und die Häufigkeit seiner Ministerkrisen. Der Großteil der deutschen öffentlichen Meinung fand weder in den Weimarer Verfassungseinrichtungen noch in der Art, wie sie sich gebrauchen ließen, Ursache, von seiner alten antiparlamentarischen Grundtendenz abzuweichen. Es sind nur wenige, die dem Reichstag eine Träne nachweinten, als Hitler ihn zu einem Werkzeug automatischer Jasagerei herabdrückte.

      Der Nationalversammlung vom 19. Januar 1919 widerfuhr es, dass ihre Zusammensetzung bald nicht mehr der Entwicklung der politischen Gesinnung entsprach. Die Wahlen hatten den Schwerpunkt auf die Linke verlegt, und die politische Entwicklung ging nach rechts. Als die revolutionäre Gefahr vorüber war, erhoben die Generale, der Großgrundbesitz und das Großkapital wieder das Haupt und gewannen Einfluss. Die Nationalversammlung machte den Fehler, ihr Dasein bis in den Sommer 1920 zu verlängern. Ihre Debatten verliefen unter fast allgemeiner Teilnahmslosigkeit. Die Verfassung, die sie zur Welt gebracht hatte, wurde ohne Begeisterung aufgenommen. Sie hatte die Arbeiterschaft durch die Brutalität enttäuscht, mit der die Regierung die revolutionäre Bewegung unterdrückt hatte, durch die Zaghaftigkeit ihrer Sozialpolitik, die im Widerspruch zu den von ihr proklamierten Grundsätzen stand, und durch den Umfang ihrer Zugeständnisse an das Bürgertum. Nicht weniger hatte sie aber auch dafür gesorgt, dass sich das Bürgertum von ihr abwendete durch das verwegene Bild der parlamentarischen Demokratie, die von ihr eingeführt worden war.

      Am 14. Juni 1919 erklärte der damalige Wirtschaftsminister Wissell auf dem sozialdemokratischen Kongress: »Das Volk sieht sich in seinen Erwartungen enttäuscht. Es ist kein Zweifel, dass wir die politische Demokratie entwickelt haben. Aber im Ganzen haben wir nichts anderes getan, als das fortzusetzen, was Prinz Max von Baden begonnen hatte. Wir haben eine Verfassung auf die Beine gebracht. Aber es ist uns nicht gelungen, das Volk wirklich daran zu interessieren. Im Wesentlichen hat unser Staatsleben seine alten Formen beibehalten. Nur in sehr geringem Maße haben wir ihm einen neuen Geist eingehaucht. Die Revolution hat nicht die Wirkung gehabt, den Geist Deutschlands wirklich tiefgehend zu verändern. Das kulturelle und soziale Leben ist nur wenig anders geworden. Die Öffentlichkeit muss feststellen, dass die Regierungsgrundsätze, die uns leiten, sich nicht fühlbar von denen des alten Regimes unterscheiden. Es ist möglich, dass die Geschichte über die Nationalversammlung und unsere eigene Regierung ein strenges Urteil