Vielleicht war das, was ich getan habe, falsch. Aber sie muss ihr Schicksal annehmen. Um jeden Preis.
„Ein Zufall.“ Sie zwang sich, ruhig zu atmen. „Ein Zufall, nichts weiter.“ Eilig blätterte sie in dem Buch. Sie war so begierig darauf, mehr zu erfahren, dass sie nicht mehr darauf achtete, wenig Lärm zu machen.
Eigentlich geht es in einem Krieg immer nur um zwei Personen. Zwei Menschen, die irgendein Problem miteinander haben und es nicht mit Worten lösen können. Deswegen ersinnen sie ein Spiel. Ein strategisches Spiel, bei dem einer schachmatt gesetzt werden muss. Krieg ist nur ein anderer Name für dieses Spiel.
Felicitas kniff die Augen zusammen, um die Buchstaben besser lesen zu können. Sie waren nicht so ordentlich niedergeschrieben wie die anderen, waren verschnörkelter und teilweise zwischen den Zeilenlinien.
Es ist ein Spiel. Nichts weiter. Ein tödliches Spiel. Ein Spiel, das ich gewinnen muss, um jeden Preis. Ich darf keine Rücksicht auf meine Figuren nehmen, muss sie nur dazu bringen, nach meinen unsichtbaren Fäden zu tanzen. Muss sie dazu bringen, meinen Willen auszuführen, ohne sie wissen zu lassen, dass ich es bin, die sie lenkt.
Die nächsten Sätze musste Felicitas mehrmals lesen, bis ihr Sinn einigermaßen in ihr Bewusstsein gedrungen war.
Menschen sind schwach. Wandler sind schwach. Was eignet sich besser, um sie gefügig zu machen, als ihre eigenen Erinnerungen? Sie sind wie Träume. Mal weit entfernt, mal nah, aber immer unerreichbar.
Eva.
Eva bedeutet Leben.
Was für eine Ironie.
Das Buch fiel Felicitas aus den zitternden Händen. Ihr Kopf drehte sich. Sie zog sich am Schreibtisch hoch, stand schließlich auf den Füßen. Als sie sich umdrehte, stand Meda zwischen zwei Bücherregalen und sah sie an. Ihre stechenden, blauen Augen gaben nichts von ihren Gefühlen preis, als Felicitas langsam auf sie zuging.
„Es ist deins, nicht wahr?“, flüsterte Felicitas und starrte die alte Bibliothekarin an. „Du hast das geschrieben.“
Meda antwortete nicht. Sah Felicitas nur an, endlos lange.
„Ja“, sagte sie schließlich.
„Wieso?“ Felicitas wusste nicht, ob sie Angst haben oder wütend sein sollte, ob sie Meda angreifen oder weglaufen sollte. „Wieso?“ Diesmal schrie sie.
„Es ist das Beste für uns alle.“
Felicitas öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Sie wollte Meda anschreien, ihr klarmachen, dass sie nicht eine ihrer Spielfiguren war, die man so einfach kontrollieren konnte. Doch sie brachte keinen Ton heraus. Einen kurzen Augenblick lang, der Felicitas wie eine Ewigkeit vorkam, stand sie der Bibliothekarin gegenüber.
Dann drehte Felicitas sich um und rannte. Durch die Bibliothek hindurch, den Gang entlang und schließlich hinaus in den Hof. Die Mauern umgaben sie von allen Seiten, sperrten sie ein, kamen immer näher, drohten sie zu erdrücken.
„Ich schaff das nicht ... Ich bin nicht eure Spielfigur ... Es geht nicht um Krieg ... Eva ...“ Die Gedanken wirbelten durch Felicitas' Kopf, wirr und konfus. „Ich gehöre nicht hierher“, sagte sie leise. „Ich gehöre nicht hierher“, wiederholte sie, lauter jetzt. Wen wollte sie überzeugen? Enapay, der jetzt vermutlich in seinem Bett lag und schlief? Ailina, die so viel durchgemacht hatte? Meda, die versucht hatte, sie zu manipulieren? Oder sich selbst?
„Ich bin nicht eure Spielfigur. Ich bin nicht eure Spielfigur. Ich bin nicht eure Spielfigur!“, wiederholte sie, während sie langsam auf das große, hölzerne Tor zuging, das aus dem Schloss hinausführte. Ohne zu zögern, drückte sie dagegen und ein Teil von ihr wunderte sich darüber, dass es so widerstandslos aufschwang.
Doch irgendwo, tief in ihrem Inneren, war ihr klar, warum das Tor nicht verschlossen war: zum einen, weil man die Schule von außen nicht finden konnte. Zum anderen hielt Enapay es anscheinend für unmöglich, durch den Wald zu fliehen.
Wäre sie bei klarem Verstand gewesen, hätte Felicitas sich gefragt, warum. Weil das nächste Anzeichen menschlicher Zivilisation zu Fuß unerreichbar war? Weil es in diesen Wäldern wilde Tiere gab?
Doch Felicitas war nicht bei klarem Verstand. Alles, was sie wollte, war fliehen. Also rannte sie. Vorbei an dem kleinen, azurblauen See, in dem sich der Himmel spiegelte und hinein in den Wald. Sie achtete nicht darauf, wohin sie lief. In ihrem Kopf drängten die Erinnerungen an die Oberfläche, die sie so lange unterdrückt hatte. Sie versuchte, sie zu vergraben, tief unter dem stechenden Schmerz in ihrer Seite, tief unter dem Gefühl, benutzt worden zu sein. Sie brachen mit einer solchen Macht hervor, dass Felicitas ihnen völlig ausgeliefert war.
***
Der kleine Raum war hell erleuchtet und es war warm. Der Regen trommelte gegen die Fensterscheiben und zeichnete Schlangenlinien auf das Glas. Einen kurzen Moment lang wunderte Felicitas sich, warum sie solche Angst davor gehabt hatte, hierherzukommen. Doch dann sah sie den kleinen, weißen Tisch und die Blumensträuße. Bunte Blumen in einem fast völlig weißen Raum. Felicitas kam es vor, als wollten die bunten Farben sie verhöhnen. Als wollten sie ihr weismachen, das Leben hätte einen Sinn.
„Ich habe Angst, Mama“, flüsterte Sandra leise und griff nach der Hand ihrer Mutter.
„Ich auch“, dachte Felicitas, sprach es aber nicht laut aus. Sie musste stark bleiben. Also ging sie weiter. Obwohl sie am liebsten stehen geblieben wäre, einfach hier und jetzt. Sie wollte das kleine Bett auf der anderen Seite des Zimmers nicht erreichen, wollte Eva nicht sehen. Und trotzdem folgte sie ihren Eltern und Sandra. Ein merkwürdiger Geruch nach Blumen, Desinfektionsmitteln und Einsamkeit stieg ihr in die Nase. Ja, Einsamkeit. Bis jetzt hatte sie noch nicht einmal gewusst, dass man Einsamkeit riechen konnte. „Oh, meine Kleine!“ Ihre Mutter blieb neben dem Bett stehen und schluchzte laut auf. Sie presste Sandras Kopf gegen ihren Bauch, als hätte sie Angst, sie auch noch zu verlieren.
Felicitas sagte gar nichts. Sie starrte nur auf den leblosen, starren Körper, der jetzt vor ihr lag. Auf den Körper ihrer Schwester.
Eva bedeutet Leben.
Was für eine Ironie.
Sie war erst drei gewesen. Und immer glücklich und voller Energie. Bis ihre Anfälle schlimmer geworden waren. Bei der Erinnerung stiegen Felicitas Tränen in die Augen. Eva hatte gehustet. So furchtbar gehustet, sie hatte nicht mehr aufgehört. Ihr kleiner, zierlicher Körper war unter den schweren Decken kaum auszumachen gewesen, überall an ihren Armen waren Geräte angeschlossen gewesen. Sie war von Krämpfen geschüttelt worden und die Ärzte standen nur daneben, sagten, sie könnten nichts mehr tun. Noch jetzt wollte Felicitas am liebsten laut aufschreien, wenn sie sich an die Ohnmacht und die Verzweiflung erinnerte, die von ihnen allen Besitz ergriffen hatten. Sie hatten nichts tun können. Eva hatte verzweifelt nach Luft geschnappt, doch ihr Husten war zu stark gewesen. Dann war es vorbei gewesen, so plötzlich, wie es begonnen hatte.
Und jetzt lag Eva hier. Klein und kalt und leblos mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen. Irgendjemand hatte einen Kranz aus Blumen um ihren Kopf gelegt. Sie leuchteten in einem kräftigen Rot, ganz im Gegensatz zu Evas blasser Haut. Sie war schon immer blass gewesen. Aber nie so blass.
Jetzt weinte Felicitas doch. Sie wollte weg von hier, wollte schreien, so laut, dass die ganze Welt es hören konnte. Dass die ganze Welt wusste, was passiert war und den Atem anhielt, sich nicht einfach erbarmungslos weiterdrehte, während doch ihre eigene kleine Welt in sich zusammengefallen war.
Ihr Vater legte die Arme um sie und hielt sie fest.
„Warum weint ihr?“ Sandra löste sich aus der Umarmung ihrer Mutter. „Eva kommt jetzt in den Himmel und von dort kann sie uns sehen. Sie hat da ganz viele Spielsachen und Freunde und Süßigkeiten und wir müssen nicht traurig sein, weil es ihr jetzt besser geht.“ Sie sah einen nach dem anderen aus ihren großen, braunen Augen ernst an. „Das hat mir der Herr Pfarrer gesagt.“
Ihre Mutter