Schreie.
Dunkelheit.
Weiße Wände. Helles Sonnenlicht, das von draußen hereinflutete.
Das Summen von Geräten.
Der Geruch nach Desinfektionsmitteln.
Bevor Felicitas wirklich begreifen konnte, was geschah, war es auch schon wieder vorbei.
***
Ailina zog ihre Hand aus Felicitas' Umklammerung.
Felicitas schlug die Augen auf und sah gerade noch, wie ihre Freundin zitternd in sich zusammensackte.
*
Unter den Sternen
Sie alle haben etwas erlebt, was ihr Leben verändert, sie für immer geprägt hat. Die Sterne wissen es. Sie wissen alles, denn sie sind immer da, am Tag wachen sie unsichtbar über uns, in der Nacht werden sie manchmal von einer Wolkendecke verborgen. Aber sie sind da und es ist sicher, dass sie irgendwann wieder zum Vorschein kommen werden.
Im ersten Moment begriff Felicitas gar nicht, was geschehen war. Die Bilder hallten in ihrem Kopf nach, dröhnten in ihrem Bewusstsein.
Mingan reagierte schneller. Er sprang auf und eilte um den Tisch herum, kniete sich neben Ailina und nahm ihre Hand.
„Was ... was ist passiert?“ Mehr brachte Felicitas nicht heraus. Sie stand auf, wollte irgendetwas tun, um zu helfen, aber sie wusste nicht, was. Also stand sie einfach nur da und beobachtete Mingan. Der Blick seiner hellen Augen war auf Ailinas Gesicht geheftet und so intensiv, als wolle der Lehrer durch den Körper seiner Schülerin hindurchsehen.
„Wieso ... was ...“ Wieder gab Felicitas den Versuch, ihre Angst in Worte zu fassen, auf. Ihre Knie zitterten und Schwindel überkam sie, sodass sie sich zurück in den Sessel fallen ließ.
Es dauerte einige endlos lange Sekunden, bis Ailina endlich die Augen öffnete. Mingan half ihr dabei, sich aufzurichten und wieder in den Sessel zu setzen.
„Was ist passiert?“, wollte Ailina wissen. Verstört wanderte ihr Blick durch das kleine Zimmer.
„Du bist ohnmächtig geworden“, erklärte Mingan sachlich. Während er wieder zu seinem Sessel ging, stützte er sich schwer am Schreibtisch ab. „Die Übungen haben dich zu viel Energie gekostet. Ich musste dir welche übertragen.“
„Energie übertragen?“, fragte Ailina abwesend.
Mingan nickte. „Vielleicht ist es besser, wenn ihr jetzt geht und euch ausruht“, meinte er schließlich. „Wir können uns morgen früh noch einmal treffen, wenn ihr wollt. Dann lassen wir es ein bisschen langsamer angehen.“
„Okay“, stimmte Felicitas erschöpft zu und stemmte sich aus dem Sessel.
„Schafft ihr es alleine in euer Zimmer?“, fragte Mingan besorgt.
„Natürlich.“ Ailina schien es so weit wieder ganz gut zu gehen und sie wirkte viel sicherer auf den Beinen als Felicitas. Deswegen half sie ihrer Freundin den Gang entlang und schließlich mehrere Treppenstufen hinunter, bis sie wieder in einem vertrauteren Teil des Schlosses angelangt waren.
Felicitas versuchte, Ailinas Blick aufzufangen, während sie nebeneinander den langen Korridor entlanggingen, der zu ihrem Schlafraum führte. Doch Ailina starrte konzentriert geradeaus. Eine ganze Weile lang spielte Felicitas mit dem Gedanken, ihre Freundin auf die Erinnerungen anzusprechen, deren Zeugin sie soeben geworden war. Aber anscheinend wollte Ailina nicht darüber reden und Felicitas wollte sie nicht dazu zwingen.
Es kostete sie unendlich viel Kraft, sich die Zähne zu putzen und in ihren Schlafanzug zu schlüpfen. Den Philosophieaufsatz ließ sie unbeachtet auf dem Schreibtisch liegen, sie hatte jetzt wirklich keine Lust, noch über Die Grenzen der Freiheit nachzudenken.
Obwohl sie total erschöpft war, gelang es ihr nicht sofort einzuschlafen. Immer wieder liefen die gleichen Bilder vor ihrem inneren Auge ab - Bilder, die noch nicht einmal ihren eigenen Erinnerungen angehörten. Das Mädchen versuchte sie zu verdrängen, doch sie jagten es und hielten es fest. Irgendwann setzte Felicitas sich auf und spähte zu Ailina hinüber. Ihre Freundin lag am Rand des Bettes, kaum sichtbar unter der dicken Decke.
Wie gerne hätte Felicitas sie gestellt, all die Fragen, die ihr auf der Zunge brannten. Aber sie wollte Ailina nicht wecken.
Also legte sie sich wieder hin und starrte an die Decke. Es war nicht sehr hell im Zimmer, obwohl die Sonne schon längst aufgegangen sein musste. Wahrscheinlich wurde sie von einer dicken Wolkenschicht verdeckt.
Je länger Felicitas so dalag und über Ailina nachdachte und über Jessy, über July, Christiane, Alex und die anderen, umso mehr wurde ihr bewusst, wie wenig sie diese Menschen kannte.
„Wir sind alle Schatten“, dachte sie. „Niemand kennt den anderen wirklich, aber wir sind im gleichen Lichtstrahl gefangen. In einem Lichtstrahl, der uns nach und nach unsere Gestalt raubt und uns verblassen lässt, bis wir mit ihm verschmelzen.“
Sie wusste nicht, wie sie darauf gekommen war. Aber es passte gut zu der Überzeugung der Wandler, sie seien das Licht.
Am nächsten Morgen hatten sie in der ersten Stunde Philosophie. Zum Glück hatte Felicitas es noch geschafft, vor dem Frühstück ihren Aufsatz zu vollenden, sodass sie Ituma die verlangten drei Seiten vorzeigen konnte.
„Ich bin positiv überrascht, dass alle ihre Hausaufgabe gemacht haben“, verkündete Ituma, setzte ein übertriebenes Lächeln auf und wog den Stapel Aufsätze bedächtig in der Hand, als handele es sich um einen wertvollen Schatz. „Ich werde sie mir heute Abend durchlesen.“
Jessy fluchte leise.
„Jetzt würde ich gerne von euch hören, wo die Grenzen der Freiheit eurer Meinung nach liegen. Würdest du anfangen?“ Sie nickte Simon zu.
„Na ja“, Simon schien zu überlegen, wie er seine Gedanken am besten formulieren sollte, „ich denke, jeder hat gewisse Freiheiten. Man darf einen Menschen beispielsweise nicht einfach zu etwas zwingen, was er nicht möchte.“
„Doch, in gewissen Fällen schon“, warf July ein. „Stell dir mal vor, wie es zum Beispiel in Parkanlagen aussehen würde, wenn nicht jeder seinen Müll wegräumen würde!“ Sie rümpfte die Nase.
„Ach komm schon, als ob sich irgendwer an das Ich-räume-natürlich-meinen-Müll-auf-Gesetz hält!“, warf Alex verächtlich ein. „Das kontrolliert doch eh keiner!“
„Und warum nicht?“, fragte Ituma. „Jeder hätte gerne einen aufgeräumten Park, aber viele sind sich zu schade, ihren eigenen Müll wegzuräumen. Wie weit, meint ihr, sollte man gehen, um die Menschen zu ihrem Glück zu zwingen?“
Felicitas merkte, dass Ituma genau auf diese Frage hinaus gewollt hatte.
„Man sollte niemanden zu irgendetwas zwingen!“, verkündete Leo, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich zurück.
„Andere Meinungen?“, trieb Ituma das Gespräch voran.
„Manche Sachen sind okay“, meinte Ailina. „Oft muss man Kompromisse eingehen, um sich auf irgendetwas zu einigen. Streng genommen schränkt man dabei auch immer die persönliche Freiheit ein. Aber zum Beispiel das Aufstellen von Blitzern, das die Leute daran hindern soll, zu schnell zu fahren, ist meiner Meinung nach in Ordnung. Wenn die Sicherheit anderer auf dem Spiel steht, darf man die Freiheit einzelner – in diesem Fall derjenigen, die meinen, unbedingt zu schnell fahren zu müssen – schon einschränken, finde ich.“
„Du meinst also, man darf die Bedürfnisse einzelner unter das Wohl der Allgemeinheit stellen“, fasste Ituma noch einmal zusammen.
Ailina nickte. Felicitas wusste schon, was jetzt kommen würde, bevor