Es geht ihr jetzt besser. Die Worte hallten in Felicitas' Kopf nach. Wie sehr sie sich doch gewünscht hatte, genauso zuversichtlich sein zu können wie Sandra. Aber alles, woran sie gedacht hatte, war Evas lebloser Körper gewesen und die gähnende, kalte Leere, die Evas Tod in ihrem Inneren hinterlassen hatte.
Jahrelang hatten sie Albträume verfolgt. Doch irgendwann war es besser geworden. Nein, nicht besser. Erträglicher. Sie gewöhnte sich an Evas Abwesenheit und schwor sich, alles zu tun, um Sandra nicht auch noch zu verlieren.
Und jetzt war sie hier, weit entfernt von ihrer zweiten Schwester, und Eva war zurückgekommen.
Schon als sie in ihrem Traum das erste Mal dem Mädchen in dem weißen Kleid begegnet war, waren die Erinnerungen an Eva zurückgekehrt. Aber als sie festgestellt hatte, dass es tatsächlich ihre tote Schwester war, die sie in ihren Träumen heimsuchte und von ihr verlangte, den richtigen Weg zu gehen, waren die vergangenen Ereignisse wieder so nah und spürbar wie seit Langem nicht mehr. Und jetzt?
Noch immer rannte Felicitas. Sie wusste nicht, wohin, doch das war ihr egal. „Warum hat Meda das getan? Was spielt sie für ein Spiel? Und welche Rolle hat sie mir zugeteilt?“ Sie zwang sich dazu, die Gedanken in ihrem Kopf zu ordnen. All die merkwürdigen, rätselhaften Sätze, die sie in Medas Buch gelesen hatte, in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen.
In Medas Buch ...
Wieso hatte die Bibliothekarin solche Gedanken aufgeschrieben? So wichtige, vernichtende Gedanken? Waren sie nicht in ihrem Kopf besser aufgehoben, dort, wo niemand sie zufällig lesen konnte? So viele Fragen geisterten Felicitas durch den Kopf. Fragen, auf die sie keine Antworten wusste. Sie konnte sich nur an den Informationen orientieren, die sie bisher hatte, und das waren nicht viele. Dennoch versuchte sie, in Gedanken eine Liste zu erstellen.
Erstens: Meda schien irgendein seltsames Spiel zu spielen.
Zweitens: Es ging dabei um einen Kampf zwischen zwei Personen, Meda war anscheinend eine davon.
Drittens: Keiner der anderen Wandler schien davon zu wissen. Oder?
Viertens: Meda manipulierte die Träume anderer Wandler, um sie nach ihrem Plan handeln zu lassen.
Fünftens: Sie, Felicitas, schien eine Rolle in dem Spiel der Bibliothekarin zu spielen. Schließlich träumte sie schon seit Längerem regelmäßig von ihrer toten Schwester, die sie dazu bringen wollte, einen bestimmten Weg zu beschreiten. Medas Weg. Oder waren ihre Träume nur Zufall? Hatte die Bibliothekarin möglicherweise gar nichts damit zu tun?
„Nein“, dachte Felicitas energisch, „Meda manipuliert Träume, und auf einmal erscheint mir Eva und versucht mich dazu zu bringen, etwas Bestimmtes zu tun.“
Je länger sie über ihre Träume nachdachte, umso sicherer wurde sich Felicitas, dass sie nicht ihrem eigenen Unterbewusstsein entsprungen sein konnten. Schließlich hatte sie die Orte, an denen sie sich befunden hatte, nicht einmal annähernd erkannt. Und sie hatte schon so lange nicht mehr von Eva geträumt, dass es kein Zufall sein konnte, dass ihre kleine Schwester ausgerechnet jetzt mehrmals hintereinander in ihren Träumen aufgetaucht war.
„Was will Meda von mir?“, fragte sie sich. „Worum geht es hier eigentlich?“
Verzweifelt versuchte sie, die vielen einzelnen Puzzleteile zu einem Bild zusammenzufügen, doch es wollte ihr nicht gelingen, weil noch immer zu viele Teile fehlten. Eines davon war Onida. Wer verbarg sich hinter diesem Namen? Und was bedeuteten Medas Pläne für sie selbst, für Enapays Schule, für alle Wandler? Es wäre so einfach, mit einem der Lehrer darüber zu reden ... aber was würde Meda dann mit ihr anstellen? Die Bibliothekarin würde sicherlich nicht zulassen, dass sie ihre Geheimnisse ausplauderte ...
Jetzt hielt Felicitas doch an, blieb keuchend stehen und lehnte sich gegen einen dicken Baum. Er fühlte sich warm an. Ihre Beine zitterten heftig und gaben schließlich unter ihrem Gewicht nach. Sie rutschte auf den Boden, wo sie auf dem trockenen Laub sitzen blieb. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, sodass sie die Augen zusammenkneifen musste. Ihr T-Shirt klebte schweißnass an ihrer Haut, ihre Haare in ihrem Gesicht. Wie weit war sie gelaufen?
Erst jetzt wurde Felicitas wirklich bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie war. Panik übermannte sie, als sie sich umsah und verzweifelt feststellte, dass der Wald in allen Richtungen gleich aussah. Obwohl sie jetzt schon so lange in der Dunkelheit gelebt hatte, war ihr ziemlich mulmig bei dem Gedanken, hier im Wald von der Dämmerung überrascht zu werden. Deswegen stand sie eilig auf und klopfte sich den Schmutz von der Hose.
Jeder Schritt kostete sie unendlich viel Kraft, als hätte jemand tonnenschwere Gewichte an ihre Füße gebunden, aber sie zwang sich, weiterzugehen. Um all die Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen, begann sie leise zu summen. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass es Hurt von Christina Aguilera war.
Felicitas wusste nicht genau, wie viel Zeit vergangen war. Die Schatten waren länger geworden, die Sonne über den Baumwipfeln nicht mehr zu sehen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Dunkelheit in den Wald Einzug hielt. Auf einmal ließ ein plötzliches Geräusch hinter ihr sie herumfahren.
„Ich hätte nie so kopflos weglaufen dürfen“, dachte Felicitas sich, während sie gegen die erneut aufsteigende Panik ankämpfte. „Was habe ich mir nur dabei gedacht?“
Sie wusste ganz genau, was sie dazu gebracht hatte, wegzulaufen. Es war vor allem die Angst vor Meda gewesen, die Angst davor, in etwas Größeres verwickelt zu sein, von dem sie keine Ahnung hatte. Und natürlich die Erkenntnis, dass die Bibliothekarin sie für ihre Zwecke benutzen wollte, indem sie ihre Träume manipulierte. Indem sie schmerzende Erinnerungen wieder ausgrub. Und ihr deutlich machte, dass sie eingesperrt war. Eingesperrt in ihrer eigenen Ohnmacht, eingesperrt in Enapays furchtbarer Schule, so weit weg von Sandra und ihrem früheren Leben.
Ein erneutes Rascheln im Unterholz schreckte sie aus ihren Gedanken. Sie kniff die Augen zusammen und suchte mit ihrem Blick den dunklen Wald um sich herum ab. „Hallo“, fragte sie zögernd, „ist da jemand?“ Hoffnung und Angst lieferten sich in ihrem Inneren einen erbitterten Kampf. Wenn tatsächlich ein Mensch in der Nähe war, konnte dieser sie vielleicht mitnehmen.
Dann würde sie es doch noch schaffen, wieder nach Hause zu kommen, zu Sandra und ihren Eltern. Andererseits konnte es auch alles andere als ungefährlich sein, mitten im Wald auf einen Fremden zu treffen ...
„Wer bist du?“
Felicitas wirbelte herum und machte einen erschrockenen Satz zurück, als der Junge auf einmal vor ihr stand. Er war klein, nur etwas größer als Felicitas selbst, hatte feine, fast mädchenhafte Gesichtszüge, schwarze Haare und dunkle Augen. In der Hand hielt er ein Messer. Als Felicitas es sah, wich sie noch weiter zurück. Der Junge folgte ihrem Blick.
„Oh, ach so“, sagte er ruhig und lächelte, steckte das Messer aber nicht weg. „Keine Sorge, ich will dir nichts tun. Das ist nur zur Sicherheit. Du weißt schon, falls du auf einmal auf den Gedanken kommen solltest, mich umzulegen oder zu entführen.“
„Was?“, fragte Felicitas entgeistert. Mehr brachte sie nicht heraus.
„Das war natürlich ein Scherz.“ Jetzt steckte der Junge die Waffe doch weg. „Ich wollte damit nur sagen, dass man vorsichtig sein sollte. So tief im Wald. Um diese Uhrzeit.“ Er schwieg kurz und musterte Felicitas von oben bis unten. Als er ihre durchgeschwitzten, dreckigen Klamotten bemerkte, hob er eine Augenbraue. „Ich möchte ja nicht neugierig erscheinen, aber dürfte ich wissen, wieso du um diese Uhrzeit so tief im Wald bist?“
„Ich ...“, setzte Felicitas an, brach dann aber ab, weil ihr auf die Schnelle keine plausible Antwort einfiel. Deswegen sagte sie nur: „Das könnte ich dich auch fragen!“
„Oh, du lebst wohl nicht in der Nähe?“, fragte der Junge. „Ich dachte, in den Dörfern gelte ich schon als eine Art Mythos.“
Felicitas versuchte verzweifelt, den Worten des Jungen zu folgen, aber entweder war sie zu erschöpft oder er redete völlig unzusammenhängend.