Ailina nickte gedankenverloren. Obwohl ihr Blick noch immer starr auf das Bild gerichtet war, schien sie es nicht wirklich zu sehen. In der entstandenen Stille klang das Ticken der merkwürdigen Uhr unerträglich laut, und als plötzlich ein heller, kurzer Klang die Luft erfüllte, zuckten Felicitas und Ailina erschrocken zusammen.
„Sieben“, sagte Mingan nur.
Ailina schüttelte leicht den Kopf, als wollte sie lästige Gedanken vertreiben, dann sah sie Felicitas an. „Willst du noch irgendwas Bestimmtes üben? Ich nicht unbedingt.“
Felicitas schüttelte den Kopf. „Ich auch nicht.“
Sie schaute hinüber zu Mingan, doch der hatte die Augen geschlossen. Kurz fragte Felicitas sich, ob ihr Lehrer eingeschlafen war, als sie auf einmal ein stechender Schmerz durchzuckte. Sie wusste nicht genau, wo er herkam, aber er war plötzlich da in ihrem Brustkorb und trieb ihr bei jedem Atemzug Tränen in die Augen. Neben ihr schnappte Ailina verzweifelt nach Luft.
„Es ist nicht dein Schmerz, Felicitas!“, versuchte sie sich klarzumachen, „nicht dein Gefühl! Konzentrier dich auf deine eigenen Gefühle!“
Sie schloss die Augen, bemühte sich, den stechenden Schmerz weitestgehend zu ignorieren, zwang sich, an etwas anderes zu denken. Sie sah Sandra vor ihrem inneren Auge, ihr Lächeln und ihren orangefarbenen Bikini, den sie auf dem Foto getragen hatte. Versuchte, die Wärme heraufzubeschwören, die sie immer spürte, wenn sie an ihre kleine Schwester dachte. Ein eigenes Gefühl ... Sie erinnerte sich noch genau an den einen Moment in Italien, als sie auf der Klippe stand, zwanzig Meter unter ihr das raue Meer. Sie hatte das Gefühl gehabt, bis in die Unendlichkeit sehen zu können. Der salzige Wind hatte mit ihren Haaren gespielt, mit ihrem Kleid, und sie hatte sich frei gefühlt. Für einen ganz kurzen Augenblick hatte sie sich gewünscht, fliegen zu können. Einfach hinaus, über das endlos blaue Meer, in den Sonnenuntergang hinein. Die Welt mit all ihren Sorgen und Problemen hinter sich zu lassen und ein neues Leben anzufangen. Irgendwo dort draußen.
Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was sie in diesem Moment gefühlt hatte: das Kribbeln in der Magengegend, der Glaube daran, jede nur erdenkliche Aufgabe bewältigen zu können, die Zuversicht, dass ihr alles gelingen würde und zugleich diese Sehnsucht nach Freiheit. Sie ließ sich von diesen Gefühlen durchströmen, spürte sie in jeder Faser ihres Körpers. Und endlich konnte sie wieder frei atmen.
Als sie die Augen öffnete, saß Mingan ihr gegenüber und lächelte. „Gut gemacht.“
Auch Ailina schien den Angriff gut abgewehrt zu haben, denn sie hatte den Kopf müde gegen die Lehne des Sessels gelegt. Augenblicklich spürte auch Felicitas die vertraute Erschöpfung, die sich immer dann in ihr breitmachte, wenn sie viel Energie verbraucht hatte.
„Wie ich sehe, habt ihr mit dem Abwehren kein Problem, aber in einem richtigen Kampf muss das schneller gehen. Ihr dürft die fremden Gefühle erst gar nicht an euch heranlassen, müsst sie von vornherein abschirmen. Denn die Schmerzen, die eure Gegner euch zufügen, werden weit größer sein als die, die ich euch jetzt zugemutet habe. Wenn ihr sie spürt, könnte es schon zu spät sein.“
„Wie bei dem Körperkontakt“, murmelte Ailina.
„Genau.“ Mingan nickte. „Als ihr eure Fähigkeiten erhalten habt, war es euch nicht möglich, andere Menschen zu berühren, ohne deren Gefühle zu spüren. Doch inzwischen könnt ihr euch so weit abschirmen, dass Körperkontakt möglich ist. Genauso muss das auch mit Angriffen funktionieren. In einem Kampf müsst ihr die ganze Zeit über euren Schutzschild, eine Mauer aus eigenen, starken Gefühlen errichtet halten, sonst seid ihr verletzlich.“
Mingan wartete kurz. Anscheinend wollte er wissen, ob Felicitas und Ailina das verstanden hatten. Also nickten die beiden schnell.
„Also gut, ich werde euch jetzt angreifen und ihr müsst meine Angriffe abwehren, bevor ihr den Schmerz überhaupt spürt“, verkündete Mingan schließlich. Wieder schloss er die Augen.
Felicitas versuchte erneut die Gefühle heraufzubeschwören, die sie eben schon genutzt hatte, um Mingans Attacke abzuwehren. Doch den Schmerz gar nicht erst zuzulassen, war schwieriger, als ihn zu bekämpfen. Sie spürte, wie Mingans Angriffe gegen ihren Schutzschild prallten, wieder und wieder, und mit jedem Mal wurde es schwieriger, ihnen standzuhalten. Jeder Angriff, den sie abwehrte, forderte Energie.
Als Mingan die Augen endlich wieder öffnete und Felicitas und Ailina ansah, wartete Felicitas nur noch wenige Augenblicke, bis sie sich erlaubte, die Gefühle, die sie so zwanghaft festgehalten hatte, loszulassen. Erleichterung durchströmte sie, als sie merkte, dass Mingan seine Angriffe tatsächlich eingestellt hatte. Ailina neben ihr atmete zittrig aus.
„Habt ihr schon gelernt, wie man in einen fremden Geist eindringt?“, wollte Mingan wissen.
Ailina und Felicitas schüttelten den Kopf.
„Gut“, Mingan warf einen Blick auf die Uhr, dann musterte er seine Schülerinnen, „haltet ihr noch eine halbe Stunde durch?“
„Ja“, antwortete Ailina tapfer, obwohl sie schon ziemlich erschöpft klang. Auch Felicitas nickte.
„Gut, wir wollen ganz einfach beginnen. Eine von euch schließt die Augen und denkt an irgendein bedeutendes Erlebnis. Eines, das sie jederzeit vor ihrem inneren Auge heraufbeschwören kann, an das sie sich ganz genau erinnert. Die andere versucht, dieses Ereignis mitzuerleben. Das geht am leichtesten, wenn sie auch die Augen schließt und ihr euch berührt, also beispielsweise an den Händen fasst.“
Felicitas und Ailina tauschten einen langen Blick. Dann streckte Ailina die Hand aus und Felicitas ergriff sie zögernd. Wieder freute sie sich kurz darüber, wie leicht es ihr inzwischen fiel, andere Leute zu berühren, ohne sofort deren Gefühle wahrzunehmen.
„Ich ... versuche mich an etwas zu erinnern, okay?“, fragte Ailina.
„Ja.“
Nach Ailina schloss auch Felicitas die Augen.
„Versuche deinen Atemrhythmus an den von Ailina anzupassen“, riet Mingan noch. Felicitas nickte und hoffte, dass ihr Lehrer es sah. Dann bemühte sie sich, sich auf Ailina zu konzentrieren, die eigenen Atemzüge den langen, gleichmäßigen ihrer Freundin anzupassen. Langsam schien das nervtötende Ticken der Wanduhr leiser zu werden, bis es schließlich ganz verklang. Schwärze umfing sie, legte sich über sie wie eine erstickende Decke. Und Felicitas ließ sich fallen, stürzte in die Dunkelheit. Tiefer, immer tiefer.
Dann war alles vorbei.
***
Zuerst empfand sie die Kälte. Dann sah sie die Wolken und die Berggipfel, die diese durchbrachen. Die Berge wurden von der Sonne angestrahlt, sodass der Schnee glitzerte wie tausend Diamanten und die grauen Felsen in helles, orangefarbenes Licht getaucht wurden. „Wunderschön“, sagte plötzlich eine leise Stimme hinter ihr.
Überrascht fuhr Felicitas herum und blickte direkt in das leicht gebräunte Gesicht eines Jungen. Er hatte schmale Lippen und dunkle, braune Augen, die sie voller Lebensfreude anblitzten.
„Ja.“ Obwohl es Felicitas war, die sprach, hörte sich ihre Stimme fremd an.
„Sie gehört Ailina!“, schoss es ihr durch den Kopf. „Ich bin hier in ihrer Erinnerung!“
Sie musterte den Jungen genauer. Er war hübsch. Unter seinem roten Skihelm quollen braune Locken hervor und er lächelte.
„Ich wünschte, wir könnten diesen Moment festhalten“, seufzte Felicitas mit Ailinas Stimme. „Ich wünschte, er würde niemals vergehen.“
„Ich auch.“ Der Junge legte einen Arm um Felicitas. Dann löste sich die Szenerie um sie herum plötzlich auf und wieder schien Felicitas zu fallen,