„Aus ...“, Felicitas überlegte fieberhaft. Sie konnte schlecht sagen: „Aus Burghausen“, schließlich lag das einige Hundert Kilometer entfernt. Und noch schlechter: „Ach, weißt du, ich bin weggerannt aus Enapays Schule, wo ich eigentlich lernen sollte, mit meinen überirdischen Fähigkeiten umzugehen.“ Deswegen erwiderte sie schroff: „Eigentlich geht dich das überhaupt nichts an.“
„Wenn du meinst“, sagte der Junge gleichgültig und hob die Schultern. „Also, ich wünsche dir noch einen schönen Tag.“ Damit drehte er sich um und war im Begriff, zwischen den Bäumen zu verschwinden.
Fassungslos sah Felicitas ihrer einzigen Möglichkeit hinterher, vor Einbruch der Nacht aus diesem Wald zu kommen. „Moment!“, rief sie etwas zu laut. „Warte mal!“
Als der Junge sich umdrehte, lächelte er, als hätte er gewusst, dass das fremde Mädchen in den schmutzigen Klamotten ihn wieder zurückrufen würde.
*
Aranck
Jetzt weiß sie also Bescheid, was es noch mal um einiges schwieriger für mich machen wird. Es wäre alles so leicht. Würden sie sich doch nicht so blenden lassen von dem Licht. Würden sie mir doch endlich zuhören. Aber so muss ich das Ganze alleine in die Hand nehmen. Ich muss sie führen, aber das ist mir unmöglich, wenn sie sich nicht führen lassen.
„Ich ... ich habe mich verlaufen!“, stotterte Felicitas. „Kannst du mir den Weg in das nächste Dorf zeigen?“
Der Junge warf einen kurzen Blick in den Himmel. „Du schaffst es nicht mehr aus dem Wald vor Einbruch der Nacht“, sagte er langsam.
„Aber ... aber was soll ich dann machen?“, fragte Felicitas verzweifelt.
Der Junge schien zu überlegen. „Meine Hütte ist ganz in der Nähe. Wenn du möchtest, kannst du die Nacht dort verbringen.“ Als er Felicitas' erschrockenen Blick bemerkte, fügte er schnell hinzu: „Keine Sorge, sie ist groß genug. Du kannst im Wohnzimmer schlafen.“ Er klang vollkommen ernst.
Felicitas wusste nicht so recht, was sie von diesem Angebot halten sollte. Sie musterte den Jungen misstrauisch und versuchte, sich ein Bild von ihm zu machen. Dieser hielt ihrem Blick unbeeindruckt stand.
„Ich weiß nicht ...“
Felicitas sah in den dichten Wald, der sie von allen Seiten umgab. Die Dämmerung hatte bereits zwischen den Bäumen Einzug gehalten und ließ ihre Umgebung düster und bedrohlich erscheinen. Auf ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut und sie wusste nicht, ob es an ihrer Angst oder an der Kälte lag.
„Wenn ich dir was tun wollte, hätte ich es doch schon längst getan, oder?“, fragte der Junge auf einmal.
„Ja. Ja, ich glaube schon.“ Felicitas klang unsicher. Ein fernes Heulen drang an ihr Ohr. „Gibt es hier Wölfe?“, fragte sie ängstlich.
„Ja, aber die leben noch tiefer im Wald“, erwiderte der Junge ruhig. Noch einmal wog Felicitas die Möglichkeiten ab. Entweder musste sie die Nacht in einem dunklen Wald voller Geräusche und wilder Tiere verbringen oder in der Hütte eines unbekannten Jungen, der ihr bis jetzt immerhin relativ ungefährlich erschien.
„Ich komme mit“, sagte sie leise. Der Junge nickte, als hätte er nichts anderes erwartet, drehte sich um und ging los. Felicitas beeilte sich, ihm zu folgen. Eine ganze Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Keiner schien wirklich zu wissen, was er sagen sollte.
„Wie heißt du?“, wollte der Junge schließlich wissen.
„Erst du.“
Es dauerte einige Augenblicke, bis er antwortete. „Aranck.“
„Felicitas.“
„Das ist ein schöner Name.“
„Ja.“
Während sie weitergingen, wurde die Dunkelheit um sie herum immer dichter, undurchdringlicher. Seltsamerweise beunruhigte Felicitas die Dunkelheit nicht so sehr, wie sie angenommen hatte. Hier im Wald spürte sie das erste Mal seit Langem wieder die Einsamkeit und die Faszination, die die Nacht schon immer auf sie ausgeübt hatte. Hier, wo kaum Menschen lebten, wo keine Wandler die Ruhe störten.
Gerade als Felicitas Aranck fragen wollte, wie weit es noch bis zu seiner Hütte sei, schälten sich ihre Umrisse aus der Dunkelheit. Sie stand auf einer kleinen Lichtung und irgendwo in der Nähe hörte Felicitas das Plätschern von Wasser. Der Mond ließ das Gras silbrig schimmern und tauchte die kleine Hütte in unheimliches Licht.
Noch einmal fragte Felicitas sich, ob ihre Entscheidung, Aranck zu folgen, richtig gewesen war, aber jetzt war es sowieso zu spät, um noch etwas zu ändern. Deswegen folgte sie dem Jungen einmal um die Hütte herum, bis sie vor einer dunklen Tür standen. Aranck stieß dagegen und sie schwang mit einem leisen Quietschen auf. Im Inneren der Hütte war es dunkel, nur durch die Fenster fiel helles Mondlicht. Aranck ging vorneweg und Felicitas folgte ihm zögernd, stieß gegen eine hölzerne Kante und fluchte leise.
Sie konnte die Umrisse des Jungen in einer Ecke ausmachen, wie er sich über irgendetwas beugte. Dann flammte ein kleines Feuer auf und tauchte den Raum in ein gemütliches, goldenes Licht. Wie er so über den kleinen Kamin gebeugt dastand, wirkte Aranck auf einmal ganz anders als im Wald. Jetzt erst erkannte Felicitas, dass seine Haare nicht schwarz, sondern dunkelbraun waren und seine Haut ungewöhnlich blass. Auf einmal sah er viel kleiner und verletzlicher aus und Felicitas fiel auf, dass er kaum älter als sie selbst sein konnte.
„Möchtest du Tee?“, fragte Aranck.
„Äh, ja gerne, danke.“ Der Junge verschwand durch eine der drei Türen, die von diesem Raum abzweigten, in ein anderes Zimmer.
„Du kannst dich ruhig hinsetzen“, rief er von dort aus.
Felicitas ging zögernd auf das kleine, dunkelrote Sofa zu, das zusammen mit zwei ebenfalls dunkelroten Sesseln vor dem Kamin stand. Es war weich, und erst als sie sich darauf niederließ, merkte sie, wie erschöpft sie eigentlich war. Dennoch sah sie sich weiter im Zimmer um. Es war klein und gemütlich eingerichtet. Außer dem Sofa und den Sesseln standen hier noch ein kleiner Tisch mit drei Stühlen, ein Schrank und eine Kommode. Jetzt fielen Felicitas auch die kleinen Figuren auf, die auf der Kommode standen. Sie warf einen schnellen Blick auf die Tür, hinter der Aranck verschwunden war, stand dann auf und ging hinüber auf die andere Seite des Raumes.
Erst als sie direkt davorstand, erkannte sie, dass die Figuren allesamt aus Holz geschnitzt und angemalt waren. Die meisten von ihnen stellten Tiere dar. Sie entdeckte einen Wolf, der sie lauernd und mit gefletschten Zähnen böse anstarrte. Einen Tiger, der wachsam und mit halb zusammengekniffenen Augen ein Reh beobachtete.
Und auf der Fensterbank, über allen anderen, einen roten Drachen. Er hatte die Flügel ausgebreitet und war mindestens doppelt so groß wie die restlichen Tiere. Seine Augen waren gelb und blickten traurig ins Leere. „Gefallen sie dir?“ Felicitas zuckte zusammen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Aranck zu ihr getreten war.
„Ja, sie ... sind wunderschön. Hast du sie selbst gemacht?“
Aranck lächelte. „Ja, ich schnitze gerne. Ich habe noch viel mehr als nur diese hier gemacht. Aber die meisten gebe ich dem Förster mit, wenn er einmal die Woche vorbeikommt. Im Tausch gegen das Essen.“ Er drehte sich um und ging zurück zum Kamin. In der Hand hielt er einen riesigen Metalltopf, den er an einem Haken an einer Eisenkette über dem Feuer befestigte. Wieder verschwand er kurz und kehrte gleich darauf mit einem Eimer Wasser zurück. Er schüttete etwas davon in den Topf und ließ sich in einen Sessel fallen. „Es dauert immer ein wenig, bis es kocht“, erklärte er.
Felicitas fühlte sich ins Mittelalter zurückversetzt. Kochte dieser Junge Wasser tatsächlich über dem Feuer? Felicitas musterte ihn von hinten. Seine Haare schimmerten im Schein des Feuers rötlich und die