„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Felicitas' Kehle fühlte sich unangenehm trocken an und jedes einzelne Wort löste unsagbare Schmerzen aus.
„Du bis gefangen in einem Netz aus Lügen“, flüsterte das Mädchen. „Du musst hinter den Horizont schauen, um die Wahrheit zu erkennen.“
*
Eva
Eigentlich geht es in einem Krieg immer nur um zwei Personen. Zwei Menschen, die irgendein Problem miteinander haben und es nicht mit Worten lösen können. Deswegen ersinnen sie ein Spiel. Ein strategisches Spiel, bei dem einer schachmatt gesetzt werden muss. Krieg ist nur ein anderer Name für dieses Spiel.
Felicitas schreckte hoch und schnappte nach Luft. Einige Augenblicke lang blieb sie in ihrem Bett sitzen und ließ ihren Blick durch das inzwischen so vertraute Zimmer wandern. Ailina war am Schreibtisch eingeschlafen, den Bleistift noch in der Hand, den Kopf auf ihrer Zeichnung. Durch den Vorhang fiel helles Sonnenlicht. Felicitas zwang sich tief durchzuatmen, um sich zu beruhigen. Doch ihre Hände zitterten und ihr Herz hämmerte so laut in ihrer Brust, dass sie fürchtete, es könnte Ailina wecken.
Weil sie nicht ruhig sitzen bleiben konnte und vielleicht auch, weil sie zu große Angst davor hatte, noch einmal einzuschlafen, stand sie auf. Barfuß tapste sie durch den Raum, zog sich leise um und band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Kurz bevor sie das Zimmer verließ, fiel ihr Blick in den Spiegel, der an der Wand neben der Tür hing. Ein seltsames Gefühl ergriff von ihr Besitz. Als spürte sie, dass nach diesem Tag nichts mehr so sein würde wie zuvor.
So stand sie also dort, in dem noch immer fremden und zugleich schrecklich vertrauten Zimmer und starrte ihr Spiegelbild an. Ihr fiel auf, dass sie erwachsener aussah, oder vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Aber da war etwas in ihren Augen, ein vollkommen neuer Ausdruck, der dort tief unter der Oberfläche lag.
„Ereignisse verändern Menschen“, sagte sie sich im Stillen, während sie fluchtartig den Raum verließ. „Kein Grund, sich Sorgen zu machen.“ Zuerst hastete sie nur eilig die Gänge entlang, dann begann sie zu rennen. Die silbernen Symbole an den Wänden waren jetzt im Tageslicht kaum sichtbar und überhaupt wirkte das Schloss auf einmal viel freundlicher als nachts. Die Schatten waren hellen, bunten Flecken gewichen, die durch die Fenster hereinfielen und eigenartige Muster bildeten. Das Grau der Steine wirkte auf einmal nicht mehr bedrohlich, sondern nur noch trist. Wie spät es wohl war? Bisher war Felicitas immer nur in der Nacht, am späten Abend oder am frühen Morgen in den Korridoren unterwegs gewesen.
Ihre Füße trugen sie immer weiter, Treppen hinunter und Gänge entlang und sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie erst bemerkte, wohin sie unterwegs war, als sie in den Hof hinaustrat. Draußen war es warm und sonnig, Vögel zwitscherten und vereinzelte Wolken zogen über den Himmel. Felicitas legte den Kopf in den Nacken, genoss die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut und die frische Luft und versuchte, den Kopf freizubekommen. Sie zögerte kurz, bevor sie weiterging.
Als sie schließlich vor der Tür zur Bibliothek stand, war ihr Anflug von Leichtigkeit einem anderen Gefühl gewichen. Es lag schwer und drückend auf ihrem Brustkorb, schnürte ihr die Luft ab, machte ihr das Atmen schwer. Ihre Finger waren feucht, als sie die Türklinke hinunterdrückte und in den langen Gang trat. Krachend fiel die Tür hinter ihr ins Schloss und auf einmal wirkte alles viel düsterer. Ihre Schritte klangen unangenehm laut. Doch diesmal hörte sie auch etwas anderes, das sie entfernt an das Säuseln von Wind erinnerte.
Die Stimmen waren so leise, dass Felicitas keine Worte verstehen konnte. Sie verschmolzen zu einem eigenartigen Singsang, der ihr einen kalten Schauder über den Rücken jagte.
Die Bibliothek war genauso groß und leer, wie Felicitas sie in Erinnerung hatte. Sie spürte, wie schnell ihr Atem ging und wie sehr ihr Herz raste, und plötzlich wusste sie, was es für ein Gefühl war, das sie seit dem Entschluss, in die Bibliothek zu gehen, fest in seinem Griff hatte: Angst.
„Meda?“ Ihre Stimme klang dünn und zittrig und verlor sich in dem weiten Raum. Ohne dass sie es wirklich merkte, steuerten Felicitas' Beine auf die gegenüberliegende Seite der Bibliothek zu.
Nebel. In ihren Gedanken, überall um sie herum. Er hielt sie gefangen, verweigerte ihr eine klare Sicht. Aber sie wusste, dass Meda ein Lichtstrahl war, der dazu beitragen konnte, dass sich dieser Nebel verflüchtigte. Also ging sie stetig vorwärts, auf der Suche nach der alten Bibliothekarin. Gerade passierte sie einen großen steinernen Kamin, als ihr der Schreibtisch auffiel, der in einer Nische dahinter stand. Er war aus dunklem Holz und voll mit Büchern und Papieren.
„Meda?“, fragte sie wieder leise und trat näher an den Schreibtisch heran. Der große Bürostuhl dahinter war leer. Einige Sekunden lang starrte Felicitas auf das Chaos vor sich, dann drehte sie sich um, um weiter nach der Bibliothekarin zu suchen. Aus Versehen stieß sie dabei mit dem Arm einen Stapel Bücher und Papiere um, der mit einem lauten Poltern auf dem Boden aufkam.
Erschrocken sprang Felicitas zurück. Als der erste Schock vorüber war, blickte sie sich eilig um, doch niemand schien ihr Missgeschick bemerkt zu haben. Deswegen kauerte sie sich schnell hin und begann damit, die heruntergefallenen Sachen wieder aufzusammeln, als sie das schwarze Buch sah. Es lag aufgeschlagen auf dem Boden und schien Felicitas anzustarren, mit seinen fast vollkommen leeren Seiten.
Felicitas nahm es in die Hand und wollte es gerade zuklappen, als ihr das Wort ins Auge fiel.
Onida stand dort in ordentlicher, schräger Handschrift.
Scheinbar endlos lange starrte sie auf das eine Wort, unfähig weiterzulesen und zugleich unfähig, das Buch wieder zuzuschlagen. In ihrem Kopf rasten die Gedanken, als sie sich bewusst wurde, dass sie gerade vielleicht die Antwort in der Hand hielt. Die Antwort auf die eine Frage, die ihr so unheimlich wichtig erschien.
Sie starrte weiterhin auf das Buch und wusste, dass das, was sie gleich tun würde, falsch war. Auf einmal wünschte sie sich, sie hätte Ailina geweckt, damit sie jetzt nicht allein war. Aber vielleicht war es besser so. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich die folgenden Buchstaben zu einem sinnvollen Satz zusammenfügten. Vielleicht war das, was ich getan habe, falsch. Aber sie muss ihr Schicksal annehmen. Um jeden Preis.
Mehr stand nicht auf den beiden Seiten. Felicitas sah noch einmal schuldbewusst über die Schulter, doch sie schien die Einzige zu sein, die um diese Uhrzeit in der Bibliothek war. Dann blätterte sie zögernd um.
Ich sehe mich um, immer wieder. Erwarte, dass in den Schatten jemand steht, jemand auf mich lauert. Unendlich viele Augenpaare beobachten mich, verfolgen jeden meiner Schritte. Warten auf den richtigen Augenblick, um aus der Dunkelheit hervorzuspringen, um mich zu packen. Niemand würde mein Schreien hören. Niemand würde mir helfen. Denn ich bin alleine.
Lange starrte Felicitas auf den einen Absatz und versuchte, ihn zu begreifen. Das Leder des Buches fühlte sich samten und weich und zugleich brüchig in ihren Händen an.
Wem es wohl gehörte? Meda? Was wollte sie mit diesen Worten sagen? Litt sie unter Verfolgungswahn? Hatte es etwas mit ihrer Vergangenheit zu tun? Mit jenem plötzlichen Ereignis, von dem Ituma gesprochen hatte? Oder war es eine Art Tagebuch? Felicitas wusste, dass sie das nur herausfinden würde, wenn sie weiterlas.
Ja, die Nacht ist endlos und ich weiß, dass es kein Erwachen geben wird. Dass sie nicht aufwachen wollen. Aber ich weiß, dass sich hinter unserer Sonne ein ganzes Universum öffnet.
Wieder musste sie umblättern. Auf der nächsten Doppelseite stand nur ein einziger Absatz.
Menschen sind schwach. Sie hängen an ihren Erinnerungen, an den süßen Träumen der Vergangenheit. Sie glauben, sie seien nicht zu manipulieren, sie glauben, sie seien stark. Aber das sind Lügen. Sie belügen sich selbst und sie wissen es.
Felicitas spürte, wie ihre Hände wieder zu zittern