„Nur ein Traum“, wiederholte Felicitas mechanisch.
Es dauerte einige Momente, bis sie sich so weit gefangen hatte, dass sie sich von Ailina löste und aufrichtete.
„Willst du ... es mir erzählen?“, fragte Ailina vorsichtig.
Felicitas schüttelte nur den Kopf. Sie war nicht stark genug, jetzt darüber zu sprechen. Einige Atemzüge lang saß sie einfach nur auf der Kante ihres Bettes und starrte an die weiße Decke. Langsam verblassten die Bilder aus ihrem Traum, doch die Augen des Mädchens sah sie noch deutlich vor sich.
„Bin ich jetzt vollkommen verrückt geworden?“, fragte Felicitas sich im Stillen. „Warum habe ich auf einmal solche Angst? Schließlich war es nicht das erste Mal, dass ich von ihr geträumt habe ...“
Ailina stand auf, ging hinüber zum Schreibtisch und ließ sich auf einen der Stühle fallen.
„Wie spät ist es?“, wollte Felicitas wissen, während sie sich mit dem Rücken an die Wand lehnte und die Knie anzog.
„Kurz vor sieben.“
„Also haben wir noch Zeit.“ Felicitas legte das Kinn auf die Knie.
Ailina nickte nur und begann zu zeichnen.
Felicitas beobachtete sie eine Weile dabei, dann schloss sie die Augen und spürte, wie sie von einer bleiernen Müdigkeit überfallen wurde. Doch Felicitas kämpfte gegen den Schlaf an aus Angst davor, in ihrem Traum wieder dem Mädchen in dem weißen Kleid zu begegnen. Schließlich stand sie auf.
„Kommst du mit in die Bibliothek?“, fragte sie Ailina. Sie konnte es nicht länger ertragen, einfach tatenlos herumzusitzen und ihren Gedanken überlassen zu sein.
„Okay.“ Ailina legte den Stift weg. Die beiden Mädchen zogen sich um und eilten schließlich durch die leeren Gänge des Schlosses. Durch die hohen Fenster drang helles Sonnenlicht herein und verbarg die silbernen Zeichen an den Wänden, die nur bei Nacht sichtbar waren.
Ihre Schritte hallten unheimlich laut wider und Felicitas war froh, als sie endlich in den kleinen Hof hinaustraten und die enge, bedrückende Stimmung, die im Inneren des Schlosses geherrscht hatte, hinter sich ließen. Dennoch sprachen sie auch hier kein Wort, bis sie vor der kleinen, unscheinbaren Tür standen, die in die Bibliothek führte.
Ailina zögerte kurz, bevor sie die Klinke herunterdrückte. Der lange Korridor, der sich dahinter erstreckte, war um einiges düsterer als die Gänge im Hauptgebäude.
Felicitas fiel auf, dass die Fenster, die in die Wände eingelassen waren, kleiner und vergittert waren. Sie spürte, wie sich auf ihren Armen eine Gänsehaut bildete, und wusste nicht, ob das an dem kühlen Luftzug hier drinnen lag oder an der Atmosphäre. Sie konzentrierte sich und lauschte auf das Murmeln, das sie beim ersten Besuch in diesem Gang gehört hatte, doch die Stimmen schwiegen und sie wusste nicht, ob sie das erleichterte oder erschreckte.
Die Bibliothek hatte keine Fenster und wurde nur von mehreren Fackeln und Kaminfeuern beleuchtet. Sie wirkte leer und verlassen. Nur die Bücher standen in ihren Regalen wie stumme Wächter.
„Hallo?“ Felicitas' Stimme klang laut und falsch in der Stille. „Meda, sind Sie hier?“
„Was möchtest du von ihr?“, fragte Ailina leise.
„Wegen ...“ Felicitas verstummte, als ihr bewusst wurde, dass sie Ailina nichts von der seltsamen Prophezeiung erzählt hatte, die Meda ihr gegenüber erwähnt hatte. „Als wir das letzte Mal hier waren, hat Meda irgendetwas erzählt über Onida und ... Licht und Schatten“, murmelte sie ausweichend. „Ich will wissen, was sie damit meint.“
„Was genau hat sie gesagt?“ Zu ihrem eigenen Erstaunen erinnerte Felicitas sich noch ziemlich genau an Medas Worte und es fiel ihr nicht schwer, sie noch einmal zu wiederholen.
„Es gibt kein Licht ohne Schatten und keinen Tag ohne die Nacht. Wie die Sonne, so hat auch Onida zwei Seiten. Keine vermag es, die andere zu besiegen. Und nur vereint können sie Großes vollbringen. Weißt du, was das bedeuten könnte?“
Ailina antwortete nicht sofort. Sie wirkte nachdenklich. „Onida“, murmelte sie, „immer wieder Onida ...“
„Was soll das heißen, immer wieder?“
„Die Stimmen in dem Gang zur Bibliothek ...“ Unwillkürlich hatte Ailina ihre Stimme zu einem Flüstern gesenkt. „Als wir das erste Mal hier waren, haben sie von Onida gesprochen. Ich habe es für unwichtig gehalten, aber ...“
„Was haben sie gesagt?“, wollte Felicitas wissen, mit vor Spannung zitternder Stimme. Sie wunderte sich selbst darüber, wie wichtig ihr diese Frage auf einmal erschien.
„Nicht viel. Sie sagten etwas über Kämpfe. Kämpfe, die waren, Kämpfe, die kommen und bis in die Ewigkeit andauern werden. Sie sagten etwas über Schicksal ...“
„Ich glaube nicht an Schicksal.“ Noch während sie das sagte, fragte Felicitas sich, ob es wirklich stimmte. Noch vor einigen Wochen hatte sie tatsächlich nicht daran geglaubt, ja, aber seither war so viel geschehen, so viel Unerklärliches und Unglaubliches, dass sie sich jetzt doch wunderte, ob das ganze Leben nicht irgendwie vorherbestimmt war.
Ailina lächelte. Ihr typisches, trauriges Lächeln. „Was hast du jetzt vor?“, wollte sie schließlich wissen.
Felicitas zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nicht ... vielleicht können wir hier etwas über diese Onida finden. Ich weiß zwar nicht warum, aber ich habe das Gefühl, dass es wichtig ist.“ Ihr Blick schweifte über die endlosen Bücherregale. „Ich habe allerdings keine Ahnung, wo wir beginnen sollen“, gab sie kleinlaut zu.
Ailina seufzte. „Ich würde sagen, am Anfang“, schlug sie vor und ging auf das erste große Regal zu. Mit der Hand fuhr sie über die dicken, in Leder gebundenen Buchrücken, während sie leise vor sich hinmurmelte. Felicitas zögerte kurz, dann ging sie auf das nächste Bücherregal zu. Sie bemühte sich, leise aufzutreten, da ihr selbst die Geräusche ihrer Schritte falsch vorkamen in dieser heiligen Stille.
Während sie den Blick über die Buchrücken schweifen ließ, sog sie tief den Geruch nach feuchtem Leder und altem Papier ein. Er beruhigte sie irgendwie, strahlte Sicherheit und Vertrautheit aus.
Sie suchten lange. Felicitas wusste nicht, wie viel Zeit genau vergangen war, aber hier waren so viele Bücher, dass es unmöglich war, sie innerhalb weniger Stunden alle durchzugucken. Sie hatte sich gerade entschlossen, aufzugeben und Ailina zu suchen, als sie eine plötzliche Bewegung, die sie im Augenwinkel wahrnahm, herumfahren ließ.
„Meda!“ Es gelang Felicitas nicht, den überraschten Unterton zu verbergen. Sie hätte gerne gewusst, wie lange die Alte sie wohl schon beobachtet hatte. „Ich wollte Sie noch etwas fragen ...“, setzte sie vorsichtig an.
Meda hob eine Hand. „Ich habe mich schon gefragt, wann du endlich kommen würdest“, sagte sie sanft. „Du wirst alles erfahren, wenn die Zeit dafür gekommen ist.“ Dann lächelte sie. „Solltet ihr nicht längst beim Frühstück sein?“
„Wie spät ist es denn?“
Meda legte den Kopf schräg, als würde sie überlegen, doch ihre durchdringenden, blauen Augen musterten Felicitas noch immer unverhohlen. Das Mädchen senkte den Blick.
„Fast halb zehn“, erklärte Meda schließlich.
Felicitas spielte mit dem Gedanken, noch hierzubleiben und die alte Bibliothekarin mit Fragen zu löchern, doch sie wusste, dass sie nicht mehr aus ihr herausbekommen würde. Außerdem war Meda ihr unheimlich, und wenn sie ehrlich war, freute sie sich über eine Ausrede, ihrem stechenden Blick zu entkommen. „Ich muss los“, murmelte sie kaum hörbar.
Meda nickte. „Komm bald wieder!“, rief sie ihr nach, während Felicitas durch die engen Gänge zwischen