Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Laura Schmolke
Издательство: Bookwire
Серия: Die Chroniken der Wandler
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960741732
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Ihre Knie zitterten und drohten unter ihrem Gewicht nachzugeben und sie hatte Angst, jeden Moment zusammenzubrechen.

      „Das ist der Preis“, dachte sie bitter, „für meine Fähigkeiten, die ich in diesem Spiel angewendet habe.“

      *

      Mingans Angebot

      Menschen sind schwach. Sie hängen an ihren Erinnerungen, an den süßen Träumen der Vergangenheit. Sie glauben, sie seien stark, sie glauben, niemand könne sie manipulieren. Aber das sind Lügen. Sie belügen sich selbst und sie wissen es.

      Als Mingan zurück zur Schule ging, wurde es bereits dunkel. Die Schatten unter den Bäumen wurden dichter und undurchdringlicher, und obwohl Mingan oft bei Nacht draußen war, richteten sich die Haare in seinem Nacken auf. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass sie da war. Dass sie ihm folgte auf Schritt und Tritt. Doch er hatte gelernt, mit seinem ungebetenen Gast zu leben, ihn als seinen zweiten Schatten zu betrachten.

      „Warum bist du schon da?“, fragte er leise. Er wusste, dass sie es hören würde, doch wie immer antwortete sie nicht. Mingan blieb kurz stehen und lauschte in den Wald hinein. Er hörte das Zwitschern der Vögel, das Rascheln der Blätter im Wind und seinen eigenen Herzschlag, laut und schnell. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sich umzudrehen, ließ es jedoch bleiben und ging weiter.

      Er hatte keine Angst. Früher hatte er welche gehabt, doch jetzt schon längst nicht mehr. Als sie gegangen war, hatte sie eine Leere zurückgelassen, eine eisige Leere, die am Anfang fast noch schlimmer gewesen war. Doch auch das war nun vorüber und er hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden.

      Enapay stand am Fenster und starrte hinaus über den von rotem Feuer erleuchteten Wald. Er mochte den Sonnenuntergang, wenn die Welt noch ein letztes Mal in hellem Licht erstrahlte, bevor die Schatten der Nacht sie umfingen.

      Seine Finger glitten über das kühle, goldene Medaillon um seinen Hals, während er sich fragte, was noch alles geschehen würde, bis es ihnen gelang, ihre Aufgabe zu vollenden.

      Auf einmal klopfte es leise an der Tür und Enapay zuckte kaum merklich zusammen. „Ja bitte?“

      Mingan trat ein. „Meister.“ Der Lehrer neigte kurz den Kopf. Enapay konzentrierte sich auf Mingans Gefühle, spürte aber nichts außer der tiefen Ruhe, die alle anderen Gefühle zu überdecken schien.

      „Setz dich“, bot Enapay an.

      „Nein danke.“ Mingan blieb stehen.

      „Wieso hast du mich aufgesucht?“

      „Ich bin wegen des Mädchens gekommen ... Felicitas.“ Jetzt war es Mingan, der in Enapays Gesicht nach Gefühlsausdrücken suchte. Doch der Meister blickte ihn nur weiter regungslos an. „Sie hat heute sehr gut gekämpft. Sie hat großes Talent.“

      „Worauf möchtest du hinaus?“ Enapay legte die Fingerspitzen aneinander.

      „Ich wollte Euch um Erlaubnis bitten, sie zusätzlich zu ihren normalen Unterrichtsstunden auszubilden.“

      Enapay schob einen Stuhl zurück und setzte sich. „Es ist nicht umsonst verboten, Schüler die Anevay-Techniken zu lehren“, sagte er langsam.

      „Ich meine nicht speziell die Anevay-Techniken.“

      „Aber es würde darauf hinauslaufen.“ Enapay sah Mingan an, doch der ältere Mann hielt seinem Blick stand. „Felicitas hat sich, genau wie die meisten anderen neuen Schüler, noch nicht vollkommen auf ihr neues Leben eingelassen. Es könnte gefährlich sein, ihr Waffen wie die Anevay-Techniken in die Hand zu geben.“

      „Ihr wisst genauso gut wie ich, dass die Schule sicher ist, solange der Bannkreis aufrechterhalten wird.“

      Enapay neigte leicht den Kopf. „Es herrschen gefährliche Zeiten, wir beide sollten uns darüber im Klaren sein.“

      Mingan begann, rastlos in dem kleinen Arbeitszimmer auf und ab zu gehen. Sein weiter schwarzer Umhang umwehte seine Beine bei jedem Schritt. Schließlich blieb er stehen und sah seinen Meister ernst an. „Ihr denkt, sie ist es, nicht wahr? Ihr denkt, sie ist Onida.“

      Enapay erwiderte seinen Blick ruhig. „Was ich denke, spielt keine Rolle.“

      Einige Sekunden lang herrschte Schweigen.

      „Sie hat unglaubliche Talente“, hob Mingan noch einmal hervor, „und in Zeiten wie diesen können wir jeden ausgebildeten Wandler gebrauchen!“ Dann war es wieder still. Auf einmal schien das Ticken der alten Wanduhr den ganzen Raum auszufüllen, von den Wänden widerzuhallen und immer lauter zu werden. Mingan spürte das plötzliche Verlangen, sich die Hände auf die Ohren zu pressen, um dem gleichmäßigen Geräusch zu entkommen.

      Schließlich erhob Enapay sich wieder und trat zurück ans Fenster. Er sah Mingan nicht an, als er sprach.

      „Sie wird eine Trainingspartnerin brauchen.“

      ***

      Es war dunkel und kalt. Felicitas sah sich um und bemerkte, dass sie sich noch immer im Wald befand. Nein, dieser Wald war anders. Die Bäume waren höher und standen dichter beisammen, sodass man weder den Mond noch die Sterne sehen konnte. Und trotzdem leuchtete um sie herum ein diffuses, grünes Licht, das beruhigend und zugleich beängstigend wirkte.

      „Hallo?“ Felicitas' Stimme warf zwischen den großen Bäumen ein unheimliches Echo zurück.

      Plötzlich hörte sie ein Rascheln hinter sich. Sie fuhr herum, konnte jedoch niemanden entdecken. Eine Welle von Panik überkam sie.

      „Wer ist da?“, rief sie und erschrak vor ihrer eigenen Stimme.

      Dann war es wieder still. Totenstill. Sie hörte nur ihren eigenen Herzschlag, viel zu schnell, und ihren Atem, keuchend und laut.

      „Es kann nicht ewig so bleiben wie jetzt.“ Noch bevor Felicitas sich umdrehte, wusste sie, wer da zu ihr sprach. Das Mädchen in dem weißen Kleid stand mit dem Rücken zu ihr. Seine langen, braunen Haare fielen offen über seinen Rücken und glänzten grünlich in dem sonderbaren Licht. „Du darfst deinen Weg nicht verlassen, Felicitas“, sagte es ruhig, „sonst kannst du deine Aufgabe nicht erfüllen.“

      „Welche Aufgabe?“, wollte Felicitas schreien. „Wer bist du und was willst du von mir?“ Doch sie traute sich nicht, die Stille zu durchbrechen.

      Einige Herzschläge lang stand sie nur reglos da, bis das Mädchen sich auf einmal umdrehte. Seine dunkelbraunen Augen fixierten Felicitas mit diesem eindringlichen und zugleich abwesenden Blick und seine Stimme klang zart und zerbrechlich, als es erneut zu sprechen begann: „Und du musst sie erfüllen. Tu es für mich.“

      „Das ... das ist unmöglich!“, hauchte Felicitas. Sie taumelte einen Schritt zurück, dann noch einen, den Blick starr auf das Gesicht des Mädchens gerichtet. Für einen kurzen Augenblick flackerte ein anderes Bild in ihrem Kopf auf: ein Raum, hell erleuchtet und warm. Ein Blumenstrauß auf einem weißen Tisch. Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte.

      Felicitas stolperte rückwärts, immer weiter zurück. Sie wollte weg, doch ihre Füße schienen ihr nicht mehr zu gehorchen. Blinde Panik erfasste sie. Und da riss sie den Mund auf und schrie. Schrie, so laut sie konnte, schrie, bis sie keine Luft mehr bekam und sich alles um sie herum in endloser Dunkelheit verlor.

      ***

      „Felicitas!“ Felicitas riss die Augen auf und fuhr hoch. Sie schnappte nach Luft, als hätte man sie gerade vor dem Ertrinken gerettet, während ihr Blick gehetzt durch den kleinen Raum wanderte.

      „Sch, ganz ruhig! Alles ist gut.“

      Erst jetzt bemerkte Felicitas Ailina, die neben ihrem Bett kauerte.

      „Sie ... sie ...“ Felicitas' Stimme zitterte und brach dann weg. „Ich hatte solche Angst!“, brachte sie schließlich mühsam hervor.