Johanna hatte zugehört. Niemals noch hatte jemand so zu ihr gesprochen. Obwohl sie nicht mehr verstand, als daß sie mit ihrem Hunger zufrieden sein müsse, dankte sie dem Pfarrer. Der Klang seiner Worte hallte wie Musik in ihren Ohren. Sie beugte sich und küßte nochmals des Pfarrers Hand.
Dann gingen sie voneinander, er dem Dorfe zu, sie zu ihrer Hütte. Der Hunger brannte in ihr – biß, zerrte an den Eingeweiden. Er war von Gott geschickt – aber warum schickt ihr Gott den Hunger, und den Anderen gutes Essen und schöne Puppen?
Die Sonne war untergegangen. Es war dunkel, den ganzen Heimweg war es stockdunkel.
Das erste, was sich tief, unverwischbar einbohrte in Johannas Bewußtsein, war ihre Armut, war die Erkenntnis, auf die Gnade Anderer angewiesen zu sein, sich noch freuen zu müssen, die ihr mit dem Ausdruck der Verachtung eine schimmelige Brotrinde zuwarf. Und ob dieser Gnade müsse sie schweigen, die Tränen hinunterwürgen, schweigen, schweigen, was auch immer in ihr vorging.
Die Trunksucht erhielt immer mehr Gewalt über die Alte. Johanna mußte die Arbeit allein verrichten. Kam Johanna heim, erwarteten sie böse Worte wegen ihrer Faulheit. Immer hieß es, sie sei nicht weitergekommen mit der Arbeit, obwohl die Alte gar nicht wußte, wie es auf dem Felde stand. Pflug und Zugtier hatten sie nicht, mit dem Spaten mußte Johanna die Erde umgraben, bis ihre Finger bluteten; sie mußte im Garten gebückt arbeiten, bis ihr Rücken unleidlich schmerzte, kam todmüde nachhause – statt Essen bekam sie Schläge und Flüche.
Wieder hatte der Bürgermeister weniger gezahlt. Die Alte schindete also noch mehr aus Johanna heraus.
Ein Fleck Erde hinter dem Hause, am Steilabhang des Berges, gehörte ihr, den wollte sie in einen Gemüsegarten verwandeln.
»Wir müssen verdienen – Johanna – verdienen –. Ich zahle drauf bei dir. Du mußt mehr arbeiten.«
Als der Garten so weit war, daß man das Gemüse anpflanzen konnte, war Johanna erschöpft. Sie lag zwei Wochen im Bett, hatte Fieber.
Die Tage der Krankheit ließen Johanna Zeit, über sich nachzudenken. Sie stieg hinab in die Tiefen ihrer kindlichen Seele und holte die versteckten Kümmernisse herauf. Sie wußte nun, daß sie die Alte ernährte, daß die Alte ohne sie längst verhungert wäre – und das gab ihr Selbstbewußtsein, Kraft. Aber auch eine Frage sprang ihr auf, ungestüm, wild, Antwort heischend: Wenn ich die Alte ernähre – warum darf sie mir dann befehlen? Wenn ich dies Brot verdiene – warum darf sie mir dann nach ihrer Willkür zumessen?
Stunden um Stunden vergingen, von Fragen gequält, warf sich Johanna auf dem Lager hin und her. Im Fieber schwollen ihre Gedanken an, Ungetüme verkörperten ihr Sinnen, Gespenster wimmerten in allen Winkeln, höhnische Stimmen, die sie verachteten, daß sie arbeite und darbe, geschlagen werde von der, für die sie sich ihren Leib zugrunderichtete – demütig den Wagen zog, auf dem ihr Henker saß. Da sprang ein roter Teufel aus der Erde, Flammen schossen empor rings um ihn, er schwang einen Spieß, donnerte zwischen die Gespenster: »Das muß so sein – schweig. Das muß so sein. Ich will es so!« Und die Gespenster verkrochen sich, mählich, zaghaft, das Feuer des Teufels leckte an ihren Gewändern, sie wimmerten wieder, nun aber vor Schmerz.
Die Sonne fiel durchs Fenster, die schwache, glanzlose Herbstsonne, und mischte ihre Strahlen mit der Glut, die aus dem Ofen leuchtete.
Einförmig zogen die Tage ins Land, arbeitsreich, freudlos. Johanna wurde groß und stark, mit ihren vierzehn Jahren sah sie aus, als ob sie viel älter wäre. In ihren Gesichtszügen lag etwas Müdes, Verbrauchtes. Ihr Geist blieb auf sich angewiesen, sie lernte nichts, verrichtete ihre Arbeit, schlief, bis es wieder Zeit zur Arbeit war. Ihre Seele lag brach. Auch die Natur konnte sie nicht freuen. Die alte Märchenwelt war abgestorben. Neue Schönheiten fand sie nicht.
Auch um die Alte stand es recht schlecht. Ihre Kräfte nahmen ab, der Branntwein fraß an ihren Nerven. Sie sprach wirr, schwatzte die unsinnigsten Litaneien. Johanna begann die Alte zu fürchten.
Da kam eine furchtbare Nacht. Johanna erwachte erschreckt, die Hütte war taghell erleuchtet. Auf dem Tisch brannte ein offenes Feuer – die Alte lief umher – ihre Kleider und Haare waren Flammen – ihre Gesichtszüge waren schmerzverzerrt – die Arme flogen durch die Luft – sie schrie – schrie in namenloser Qual – –
Die Kerze war umgefallen, ausgegossener Branntwein hatte Feuer gefangen.
Johanna raffte ihre Kleider zusammen, wollte der Alten helfen, wußte aber nicht, wie. Die Alte streckte die Arme aus, als ob sie das Mädchen abwehren wollte – aus ihrer Kehle krächzten rauhe Laute – unverständlich – Ausgeburten der Phantasie – Schreie des Schmerzes –
»Fort – fort – du bist der Satan – die Hölle ist hier – die Hölle – bin fromm gewesen mein Leben lang – – gehöre in den Himmel – hast keine Macht über mich, Satan – keine Macht – scher dich fort – sonst – gieß ich dir Wasser über den Schädel – Wasser – Weihwasser – heiliges Wasser –«
Vor Entsetzen floh Johanna. Sie wollte die Alte aus der Hütte locken. Sie rüttelte an der Tür. Die Tür war verschlossen.
»Gib mir den Schlüssel – den Schlüssel – Großmutter.«
Die Alte hörte nicht. Sie war auf den Tisch gesprungen, der Tisch brach ein, das Feuer floß über den Boden, das Bett flammte auf, an den Wänden züngelte Lohe empor, am Kasten leckten rote Zungen. Johanna schrie – wollte retten – sprang zurück – ihre Finger brannten. Es gab nur ein Entrinnen: durch das Fenster. Mit einem Sesselbein durchschlug Johanna die dünnen Bretter, mit denen das Fenster verschlossen war, und kletterte hinaus. Als sie draußen war, fuhr die Lohe bereits durchs Dach.
—
Barfuß, halbnackt, lief Johanna ins Dorf, klopfte an Fenster. Die Bauern erwachten, schimpften, reckten sich träge, wollten in Ruhe gelassen sein. Nur wenige standen auf. Als sie die Hütte erreichten, war sie eine einzige Flamme. Man mußte vor allem trachten, den angrenzenden Wald vor Entzündung durch Funkenflug zu bewahren. Die Hütte war nicht mehr zu retten. Ein Wimmern stieg aus den Flammen empor, verhallte langgedehnt in der Nacht –
Am Morgen räumte man die Trümmer weg, halb verkohlte Balken; unter ihnen lag die Leiche der Alten, halb verbrannt. Von den Habseligkeiten Johannas war nichts übrig geblieben.
Tags darauf begrub man die Alte, nicht auf dem Friedhof. Neben der Mauer wurde sie verscharrt; der Pfarrer blieb aus, nur Johanna war dabei, als der Totengräber das Grab zuwarf.
Nun war Johanna wieder ohne Heim. Die Gemeindevertreter traten zusammen und berieten, wo man sie unterbringen sollte. Nun war die Sorge nicht groß, im Gegenteil, jeder wollte sie haben, sie war eine billige Arbeitskraft, eine Magd, der man keinen Lohn zu zahlen brauchte. Der Bürgermeister nahm sie, er habe früher für sie gesorgt, sagte er, es sei seine Pflicht, weiter über sie zu wachen. Vorher hatte er ihren Körper geprüft, ihre Arme belastet, ihre Kraft erprobt. Da er den größten Hof hatte, konnte er sie gut brauchen.