Nur wenige Tage später lernte ich auch Erna und Sarah, Mutter und Schwester von Lukas, kennen und war von beiden beeindruckt. Bei Erna war es die Ausstrahlung einer leicht ergrauten, gescheit und erfahren wirkenden, aber völlig unverbraucht aussehenden Frau mit einer angenehm dunklen und warmen Stimme, und bei ihrer Tochter Sarah die natürliche Sicherheit, mit der die mehr als nur hübsche junge Frau auftrat und sprach, was mein Interesse weckte. Auch für Sarah war Rolf so etwas wie Vaterersatz geworden, wobei sich zwischen ihr und ihm aber nie ein Vertrauensverhältnis wie bei Lukas gebildet habe.
Rolf erzählte davon unumwunden und gab auch zu, selbst Distanz gesucht zu haben, aus purer Vorsicht, um niemals in den Verdacht zu kommen, dem Mädchen zu nahe gekommen zu sein. Erst viel später konnte ich nachvollziehen, was er damit wirklich meinte.
Im Lauf der Tage und Wochen erzählte Rolf selbst aus seiner Welt, von Sulzach, vom See, vom Heimberg, von der Seeweite, von Achstadt. Es war der Einstieg in ein Gespräch über seine Workaholic-Vergangenheit als Informatiker. Auch hier in der Klinik verbrachte er Stunden hinter seinem Laptop, im Internet surfend blieb er in Verbindung mit seinem eigenen Unternehmen für Informatik-Systeme und mit einzelnen Kunden. Er war offiziell nicht arbeitsfähig, aber als Inhaber der Firma hatte er keinen Augenblick daran gedacht, seine – wenn auch stark reduzierte – Mitwirkung im Geschäft aufzugeben. Er hänge noch immer drin mit seinem Knowhow, seinen Verbindungen und «last but not least» seinem Geld, und so lange werde er versuchen, keine Verluste aus Nachlässigkeit oder Dummheit hinnehmen zu müssen. Sein Stellvertreter mache zwar mit grossem Einsatz eine gute Arbeit, aber selbst so liessen sich Ungereimtheiten nicht ganz ausschliessen. Dabei sei er einst ein Roter gewesen und fühle sich manchmal noch immer als ein Mann der kleinen Leute. Er habe an Mao und seine Kulturrevolution geglaubt und die Sowjetunion als so etwas wie die Schutzmacht der ausgebeuteten und machtlosen Massen im Westen gesehen. Nur unter der fernen Drohung der Roten Armee, diesem lauernden Drachen im Osten, so glaubte er damals, sei es möglich gewesen, den unersättlichen Kapitalisten ein gutes Stück Wohlfahrt abzutrotzen. Zum eigentlichen Aufruhr habe er sich nie verführen lassen, auch nicht 1968, da hätte er sich mit 30 schon ein wenig zu alt gefühlt. Zwar habe er insgeheim die Heisssporne verstanden, sie gar angefeuert, aber Zeit für Radau habe er sich nie genommen. In Zürich hätten sich junge Leute mit der Polizei richtige Schlachten geliefert. Aus dieser Zeit seien ihm auch einige Kontakte geblieben. Aus einzelnen jener Revolutionäre seien inzwischen ernsthafte Politiker, gar ein Bundesrat, aber auch viele kleine Spiesser geworden, die jeden Abend ihr Geld zählten.
Andere hätten sich einfach wie er so gut wie möglich eingerichtet und seien dabei gar erfolgreich geworden, wie etwa der Jurist Thomas Richter, sein Berater für schwierige Verträge, oder hätten sich durchgewurstelt oder durchgekämpft wie sein einstiger Genosse Kurt Streit, ein Zeitungsschreiber. In Zürich habe Letzterer Prügel mit Kopfverletzungen bezogen. Danach begann er für die Achstädter Rote Zeitung unermüdlich nach kapitalistischen Sünden zu suchen und kam dabei, als Beispiel unter vielen, den nicht bezahlten Beiträgen für die Pensionskasse der Aasbachschen Spinnereiarbeiter auf die Spur.
«Er hat damit die Rente meines Vaters gerettet», erklärte Rolf und fuhr fort: «Wenige Jahre später, der rote Kurt, wie wir ihn nannten, hatte es inzwischen zum Stellvertreter seines Chefs gebracht, musste das rote Blatt sein Erscheinen einstellen. Da begann der Eiferer ein Buch über den Faschismus in der Schweiz zu schreiben, welches allerdings nie gedruckt wurde. Seinetwegen habe ich die Festplatte und damit die Tagebücher einer zwar gewendeten, aber vormals strammen Hitler-Anhängerin kopiert. Das war eine unverzeihliche Dummheit mit für mich beinahe traumatischen Folgen. Die ehemalige Deutsche war die Mutter meiner Freundin. Mehr den wirtschaftlichen Zwängen, denen sich ein Familienvater gelegentlich ausgesetzt sieht, als seiner inneren Stimme gehorchend, wurde Kurt danach zum umtriebigen Redaktor eines Landanzeigers, Träger für Inserate mit bescheidenem redaktionellem Umfeld und dem stramm rechtsbürgerlichen Hintergrund der Achstädter Tageszeitung. Kurts Sozialismus existierte nur noch in seinem Reptiliengehirn. Endgültig erfolgreich wurde er, als ein bislang kleines, aber topfittes Regionalblatt den durch überdimensionierte Investitionen überschuldeten Zeitungsverlag kappte und die Redaktionen der Blätter straffte. Die Zeit der Medienkonzentration war angebrochen. Die Zeitung wurde eine Zeitung für alle und Kurt zum unermüdlichen Schreiber für alle. Später soll er in eine PR-Agentur für nichtstaatliche Organisationen gewechselt haben. Vor einem Jahr ist der Mann 55-jährig gestorben, angeblich an einem Krebsleiden.»
Rolf meinte, manchmal schlage sein Herz noch immer links, vor allem, wenn es um ein wenig mehr Gerechtigkeit gehe. Aber mit den Menschen, die sich lauthals als Sozialisten gebärdeten und in komfortablen Amtsstuben ihre ruhige Kugel schöben, hätte er mehr und mehr Mühe und dies nicht erst, seit der Koloss im Osten zusammengebrochen sei. Kurts früherer Eifer sei ihm manchmal beinahe lästig gewesen.
Seit über 20 Jahren besitze und führe er sein kleines Unternehmen und wisse daher, wie schwierig es sei, sich im Wettbewerb zu bewähren und erfolgreich durchzusetzen. Dieser meistens enorme und unermüdliche Einsatz verdiene Anerkennung und materielle Vorteile. Andererseits erscheine ihm ein kapitalistisches Haudegen- und Raubrittertum, wie es die Amerikaner vorlebten und der ganzen Welt aufzupfropfen versuchten, noch immer nicht nur dumm, sondern auch sehr gefährlich. Er glaube nicht an das Ende des Kampfes der Unterprivilegierten.
«Wenn die Besitzenden weiter raffen wie gegenwärtig, wird ‹Die Internationale› früher oder später wieder in Mode kommen», glaubte Rolf zu wissen.
Einerseits fühlte ich mich von seiner Vergangenheit und von seinem noch immer vorhandenen Ehrgeiz und Fleiss beeindruckt, andererseits – und dies bei weitem nicht zum ersten Mal – aber auch etwas beschämt über meine eigene banale Geschichte und meine etwas abgehobene Untätigkeit oder gar Faulheit in den paar Jahren als Rentner.
Um meine leichte Verlegenheit zu vertuschen, versuchte ich, mich mit meiner einstigen Arbeitswelt im Bereich von Werbung und Public Relations wichtig zu machen und von meinen eigenen kleinen Ausflügen ins weltweite Netz und seine virtuellen Räume zu erzählen.
Nur scheinbar beiläufig erwähnte ich meine Versuche, Geschichten aus meiner Vergangenheit und meiner Mitwelt zu schreiben. Es gelang mir sogar, zu einem kleinen Vortrag auszuholen: «Ich glaube an die therapeutische Wirkung des Schreibens, eines absichtslosen Schreibens ohne irgendwelchen literarischen oder künstlerischen Ehrgeiz, nur um so etwas wie Klarheit, Wahrheit, Ordnung, Übersicht in mir selbst zu finden, schmerzliche Bilder auszublenden, gute Tage zurückzuholen, Inventur zu machen, Bilanz zu ziehen und mich dabei nicht um Spannung oder schwierige Zeitsprünge, Gewichtung der Sätze, Rechtschreibung und Interpunktion, nicht um die Ärmlichkeit des Vokabulars, um die Ausgefeiltheit geistreicher Dialoge, die es im Alltag ohnehin kaum gibt, zu kümmern. Nicht einmal die faktische Wahrheit soll dominieren, sondern nur die erfühlte», erklärte ich dazu.
Für ihn erstaunlich sei, dass ihm mehr und mehr Kunden und andere Leute die ihm durch seine Arbeit begegneten, erzählten, sie versuchten Geschichten, Erlebnisse oder gar Einsichten aus ihrem Leben auf dem PC aufzuschreiben. Vielleicht sei der Computer für viele so etwas wie eine einsame Insel, auf der man sich ausschreien, ganz einfach entspannen oder sich mit sich selbst auseinandersetzen könne, ohne Spuren zu hinterlassen. Vieles würden diese Menschen kaum je einem Papier überlassen und zudem zwinge das Papier zu einer unwillkommenen Disziplin oder Denkarbeit. Der Raum im PC hingegen lade geradezu ein, frisch von der Leber weg zu schreiben. Eine Ordnung lasse sich im Nachhinein errichten oder eben nicht. Zudem lasse sich alles mit einem einfachen Klick löschen, abfallfrei. Im Zweifel war alles nur virtuell und leer,