Die Seeweite. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301012
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neue Familie

       Rolfs Abschied

       Paul Liberté

       Rolfs Garn

      Ich, Leo Buss, musste mir im Spätherbst 2003 meine verengten Herzkranzarterien durch Bypässe überbrücken lassen. Wenige Tage nach der erfolgreichen Operation konnte ich mich oben, an der Südflanke des Jura, in einem Zimmer mit wunderbarer Fernsicht von diesem doch ziemlich einschneidenden Ereignis erholen. Die Klinik war von vielen Patienten mit den unterschiedlichsten Krankheiten belegt. Viele trafen sich in Gruppen zu zwar nicht angeordneten, aber doch stark empfohlenen Wanderungen, Spielen, Hometrainerstrampel- und Entspannungsübungen. So lernte ich nach und nach einige Patienten kennen, solche, die viel reden wollten und eher schweigsame.

      Im Übrigen konnte ich mich auf mein sehr komfortables Einzelzimmer mit Sonnenterasse zurückziehen. Die tiefliegende Herbstsonne liess die bunten Wälder nochmals Tag für Tag strahlen, während sich die Bäume sachte, kaum wahrnehmbar, aber unaufhaltsam entblätterten. Wer wollte, begegnete sich bei den Mahlzeiten. Wenn ich dazu keine Lust hatte, brachte man mir mein Essen aufs Zimmer.

      Die etwa 30 Patienten der Abteilung, in der ich gepflegt wurde, waren zwar alle krank, aber sie hatten nicht nur sehr unterschiedliche Leiden, sondern auch sehr verschiedene Biographien. Sie kamen aus allen Teilen der Deutschschweiz und erinnerten mich an die Menschen aus meiner Kindheit. Da gab es Bäcker, Schreiner, Versicherungsverkäufer, Forstgehilfen, Fabrikarbeiter und Bürolisten, einen Juristen, eine Wirtin, eine Lehrerin, eine Raumpflegerin, alles in allem aber weit weniger Frauen als Männer, unter ihnen Raucher, Trinker, Fettleibige, Hypertoniker, Choleriker, Rechthaber und so weiter.

      Für alle gab es ein gefaltetes Schild mit Namen und Vornamen und alle stellten das Schild vor ihren Teller – mit Ausnahme von Rolf Schneider. So fragte ich ihn ganz einfach, wie er heisse, und er sagte es mir ohne Umstände. Er erschien mir unter den Männern an unserem Tisch, wenigstens anfänglich, der Wortkargste oder gar Schweigsamste, und gerade deshalb versuchte ich, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ich folgte ihm in die Cafeteria und setzte mich, höflich bittend, zu ihm an die Bar.

      Mit der Frau hinter der Theke machte er einen kleinen Spass. Sie sei aus dem Kosovo, erklärte er mir und schob «immer fröhlich» nach. Wir blieben beim Thema. Ohne Ausländer – oder speziell ohne Ausländerinnen – könnte man die Klinik schliessen. Sogar der katholische Geistliche sei aus Ungarn, er spreche dieses drollige Hochdeutsch, wie es eben für Ungarn typisch sei. Wenigstens sei es einfach gewesen, ihn abzuwimmeln. Der Chefarzt komme ursprünglich aus Polen, sei aber, wie er, Neuschweizer wie fast alle. Der Abteilungsarzt aus Islamabad hätte es allerdings noch nicht soweit gebracht, der sei noch immer nur ein Pakistani, kicherte Rolf. Zuletzt kamen wir auf die Putzfrauen zu sprechen, diese unzähligen Kleinverdienerinnen, auch sie meist aus dem ehemaligen Jugoslawien. Ich erzählte ihm, wie eine hübsche 18-Jährige in den ersten Tagen meine Schlaftabletten geklaut hatte für ihren ebenfalls aus dem Kosovo stammenden Freund, wie sie der Oberschwester gegenüber, von der sie ertappt wurde, tränenüberströmt zugab. Sie werde es bestimmt nicht wieder tun. Sie kam damit durch. Die Oberschwester war eine italienische Seconda. Er erwarte den Besuch seiner Freundin, erklärte Rolf nach einer Weile. Ich entschuldigte mich und ging auf mein Zimmer.

      Auch Rolf Schneider lebte in einem Einzelzimmer, ein paar Türen von mir entfernt. Anfänglich trafen wir uns, ausser bei den Mahlzeiten, meistens an der Kaffeebar. Später bestellten wir Tee oder Kaffee auf unser Zimmer. Wir luden uns gegenseitig ein. Es war nicht teurer, fanden wir heraus, vor allem aber freuten wir uns, nicht sofort bezahlen zu müssen.

      Es war dieser kleine Humor, zwanzig Rappen zu sparen oder zwischen Schweizern, Neuschweizern, Fastschweizern und Edelschweizern zu unterscheiden, den wir gemeinsam hatten und der es uns vermutlich leicht machte, miteinander noch und noch zu reden, über Gott, die Welt, unsere Welt und uns.

      Rolf litt an seiner zerstörten Lunge und war schon längere Zeit hier. Auch er war, wie ich, Opfer zehntausender gerauchter Zigaretten, nur viel direkter, nicht über den Umweg der Herzkranzgefässe. Seine Lunge, soweit es sie noch gäbe, sei so etwas wie ein Teerfass, hatte er, unsicher lächelnd, gespöttelt. Vor zwei Monaten sei er zum zweiten Mal an der Lunge operiert worden, wo und wie hatte er mir genau erklärt, und doch kann ich das alles nicht wiedergeben ohne Gefahr zu laufen, irgendwelche medizinischen Ungenauigkeiten auszubreiten. Jetzt war er zur Erholung und weiteren Beobachtung hier.

      Zigaretten waren also unser kleinster gemeinsamer Nenner. Wir rauchten keine mehr, aber an sie knüpften sich viele weitere Gespräche an, etwa über die Subventionen für die Tabakbauern, die Tabaksteuern und die Zigarrenfabrikanten der Seeweite. Den Zigaretten verdankten wir, darüber waren wir uns einig, unsere bösen Krankheiten. Wir erzählten uns, wie wir zu Rauchern wurden, ich als 14-jähriger Forstgehilfe, der sich, grossmäulig ein grosses Beil schwingend, schon fast als Mann fühlen wollte, und er, wie hunderttausend andere, in der Rekrutenschule. Er steigerte sich in seinen Konsum durch Beruf und Lebensgewohnheiten schon bald zum eigentlichen Kettenraucher, der ohne Zigarette kaum leben konnte. Erst seine Beziehung zu Erna, seiner früheren Freundin, wirkte gegenläufig, aber da war er schon weit über 40, zudem begann er sich damals nur leicht zu mässigen. Wirklich aufhören konnte er erst nach der letzten grossen Operation, in der man ihm einen Teil seiner Lungenflügel entfernt hatte. Seither lebte er zwar ohne Zigaretten, aber nicht ohne Sauerstoffflasche.

      Wenn ich mit ihm sprach, irritierte m ich der diskret farblose und doch unübersehbare Luftschlauch, der von der Sauerstoffflasche zur Nase führte. Im Lauf der Tage gewöhnte ich mich daran. Irgendwie strahlte Rolf Gelassenheit aus, obwohl ich sie für die Oberfläche einer durchaus unruhigen Seele hielt. Er war gross, etwas blass und schien kräftig, daran hatte ich jedoch so meine Zweifel. Auch da vermutete ich ein Aussehen, das mit seiner wirklichen Verfassung wenig gemeinsam hatte.

      In wenigen Wochen würde er – gegenüber früher etwas reduziert, geschwächt und vermutlich für immer auf medizinische Betreuung angewiesen – zu einem nach wie vor lebenswerten Leben nach Hause gehen können. Kurz vor seiner zweiten Operation sei er zu seiner langjährigen Freundin gezogen.

      Er hatte mir Susanne vorgestellt, als sie ihn besuchte – sie kam beinahe täglich, meistens zum gemeinsamen Frühstück am kleinen Tisch, danach müsse sie in ihren «Schuppen» zur Arbeit fahren. Ich schätzte sie um zehn bis 15 Jahre jünger als er, also um die 50. Sie betreibe im gleichen Dorf eine Konditorei mit Cafeteria – die meinte sie mit «Schuppen».

      Susanne erzählte fröhlich und ungefragt von ihrer Familie, von ihrem Bruder Marcel, der mit seiner einstigen Frau am Bielersee lebe und dort dem Mann ihrer Tochter, einem Weinbauern, im Rebberg helfe. Auch von Aldo, ihrem jüngeren Bruder, der jetzt mit Rolfs ehemaliger Freundin zusammenlebe, berichtete sie. Sie selbst sei ein paar Jahre verheiratet gewesen und im Hinblick auf eine unglaublich einschneidende Erfahrung und Enttäuschung glücklicherweise kinderlos geblieben. Aber sie liebe ihre Nichten und Neffen. Sie fahre ihnen jedes Jahr mindestens einmal nach. Das wären ihre Ferien.

      Bei einem ihrer Besuche gab sie einigermassen humorvoll preis, wie ungeschickt, geradezu naiv oder gar dumm sie sich in jüngeren Jahren Männern gegenüber verhalten habe, bis Rolf in ihr Leben getreten sei. Als ihr einmal mehr, einfach so im Reden, bewusst wurde, Rolf könnte sterben, bekam sie feuchte Augen, ohne wirklich zu weinen. Sie würde es überstehen, dachte ich mir dabei.

      Einer der ersten Besucher, die mir Rolf nach Susanne vorstellte, war Lukas, ein junger Mann, höchstens 30, den ich spontan für einen Marathonläufer hielt, kein Gramm Fett zu viel, mit einigermassen harten Zügen.

      Er war der Sohn von Rolfs früherer Freundin Erna. Sein Vater, ein Tscheche, war vor beinahe 20 Jahren gestorben. Die Mutter hatte den Knaben zusammen mit seiner etwas älteren Schwester Sarah mehr oder weniger alleine aufgezogen. Die beiden Kinder entwickelten auch zu Rolf ein freundschaftliches Verhältnis, Lukas besonders in der Zeit seiner Pubertät. Seine Mutter hatte ihm von Rolfs Krankheit geschrieben, und so war er für diesen Besuch aus Paris hergereist.