Mehr als je zuvor wurde ihr im Augenblick klar, wie viel Unheil sich durch die Jahre und Jahrzehnte in einer an sich so friedlich scheinenden ländlichen Gegend anhäuft. Vor zehn Jahren hatten zwei Kriminelle mit gestohlenen Maschinenpistolen die Post eines Nachbardorfes überfallen. Nur durch Glück wurde niemand verletzt oder gar getötet. Verbrechen gab es nicht nur in Amerika …
Vielleicht war sie von schlechten Nachrichten hierzulande und in der Welt durch ihre Arbeit stärker sensibilisiert als andere Zeitgenossen, dachte Ilse an jenem sonnigen Nachmittag, da in der ganzen Gegend die Kirschbäume blühten und sie in alten Papieren wühlte, weil Johann, ihr Schwiegervater, vor 20 Jahren verstorben war. Sie packte die Papiere zusammen und räumte den Ordner zurück in den Schrank.
Inzwischen erwartete sie Wilhelm und Erna zu Kaffee, Tee und dem nach altem Rezept selbstgebackenen Dresdner Stollen. Ilse begann den Tisch zu decken. Erna war schon zum Mittagessen gekommen. Seit sie von ihrem Mann getrennt und geschieden lebte, kam sie öfter als früher, meistens mit ihren Kindern Sahra und Lukas. Heute waren sie nicht dabei. «Besuchstag», sagte Erna lakonisch.
Erna hatte beim Essen die Erinnerung an ihren Grossvater Johann aufgebracht. Als Grossvater starb, war sie erst 17 Jahre alt gewesen und sein plötzliches Ende hatte Erna sehr erschüttert. Ilse musste sich damals um ihre Tochter Sorgen machen. Erna begann, extrem wenig zu essen und wollte die Kunstgewerbeschule verlassen. Ilse war überzeugt, dass sie nur dank der damals noch lebenden Grossmutter zu trösten war, denn irgendwie bewunderte Erna mehr und mehr die bald 80-jährige Hedwig, von der man wusste, wie sehr sie an ihrem Mann hing, man sah ja immer wieder, wie liebevoll die beiden Alten miteinander lebten.
Eigentlich wunderte sich Ilse, warum Erna gerade jetzt an Johann dachte. Gewiss war es die runde Jahreszahl, der Frühling, der blaue Himmel oder was immer. Erna wirkte blass und wenig gesprächig. Aber auch das hatte nichts zu sagen. Ernas Leben war nicht sehr einfach, seit sie von Pawel geschieden lebte, aber sie war auch nicht sehr glücklich gewesen, als sie noch mit ihm zusammenlebte.
Das Gespräch über Johann und seinen Tod hatte Ilse angeregt, in den alten Papieren zu wühlen.
Wilhelm begleitete Erna an den See. Sie liebe diese Landschaft nach wie vor, obwohl sie die Stadt als Wohnort vorziehe, versicherte Erna immer wieder.
Am See erzählte Erna ihrem Vater, dass Pawel krank sei. Er leide vermutlich an der neuen Schwulenseuche aus Kalifornien. Sein Freund, mit dem er in Zürich zeitweise zusammenlebe, läge in San Francisco in einem Spital. Nein, Sarah und Lukas seien heute nicht bei ihm, sondern bei einer Freundin. Sie fürchte sich vor einer Ansteckung der Kinder und diese wüssten von der tödlichen Bedrohung noch nichts. Sie mache sich schwere Sorgen.
Wilhelm versuchte sie zu beruhigen. Er hatte von der geheimnisvollen Krankheit, die offenbar vor allem unter Schwulen grassierte, gehört, sich aber darüber noch keine Gedanken gemacht. Ilse hatte ihn einmal darauf angesprochen. Sie war noch immer hoch interessiert an allem, was sich in der Welt tat. Keinen Augenblick hatte Wilhelm dabei an die Möglichkeit einer unmittelbaren Nähe dieses neuen Übels gedacht.
Er und Ilse würden für sie und die Kinder immer da sein, versicherte Wilhelm seiner Tochter und nahm sich vor, Ernas Mutter am Abend die böse Geschichte zu erzählen.
Bei Tisch begann Ilse von ihrem Ausflug in die Vergangenheit zu reden, über die Jahre, die so schnell vorbeigingen, über ihre latenten Schuldgefühle, über ihre Sehnsucht, endlich damit fertig zu werden und über die Einsicht und den immer wiederholten Vorsatz, sich nichts vorwerfen zu müssen und nichts vorwerfen zu wollen. Eigentlich wollte sie sich mit all diesen alten Geschichten nicht mehr auseinandersetzen. Und doch tat sie es immer wieder, die vermeintliche oder wirkliche deutsche «Schuld» hing an ihr wie eine Klette. Der geringste Anlass konnte die Auseinandersetzung mit dem Thema auslösen – eine Nachricht aus den Medien, eine Bemerkung aus ihrem Bekanntenkreis oder gar von Fremden. Am schlimmsten war es für Ilse, wenn ihre eigenen Kinder Fragen stellten oder auch nur eine unreflektierte, meist harmlos gemeinte Bemerkung fallen liessen, etwa «das geteilte Deutschland hat den Vorteil, nicht mehr gefährlich zu werden» oder «Hitler kam doch vor 50 Jahren legal an die Macht und das ganze Volk hat ihm zugejubelt!».
«Ich habe mir nichts vorzuwerfen, ich war Verführte, ich wurde genügend bestraft durch den Tod meiner Eltern und Brüder und beim Brand von Dresden mit dem Tod der ganzen übrigen Verwandtschaft», erklärte die inzwischen 69-jährige Frau auch an diesem Nachmittag im durchsonnten Wohnzimmer.
Was Ilse erzählte, war für Erna nicht neu. Immer wieder kamen die alten Geschichten hoch, oft vermischt mit Ereignissen der Gegenwart, die Ilse irgendwie in einen Bezug zu ihrer Vergangenheit setzte. Auch wenn dabei immer wieder neue Einzelheiten ans Licht kamen, nervten Erna die Erörterungen ihrer Mutter ab und zu. Früher hatte sie sich darüber mit ihr hin und wieder gestritten. Es gab auch Spannungen wegen Pawel. Erna glaubte zu spüren oder gar zu wissen, dass Ilse ihn, den Tschechen aus Prag, nicht mochte. Vielleicht waren die unguten Gefühle gegenseitig. Pawel hatte aus seiner Meinung über Deutschland und Deutsche nie Zweifel aufkommen lassen. Pawels Eltern hatten unter der «Übernahme» von Böhmen und Mähren ins «Reich» schwer gelitten und fanden die Vertreibung der Deutschen am Ende des Krieges als selbstverständlich, ja gerecht.
Pawel ging Ilse darum wenn möglich aus dem Weg. Er mochte sie nicht, und Ilse gab sich so übertrieben als «Sowieso-Schweizerin» oder zumindest als «umgedrehte Deutsche» und am allerliebsten als liebenswürdige Schwiegermutter, so dass selbst Erna die zweifellos vorhandenen Ressentiments nicht übersehen konnte.
Als Erna sich von Pawel trennte, wich sie jedem Gespräch mit der Mutter aus. Sie brachten nichts als sinnlose Anstrengungen, und da Erna ohnehin nur alle paar Wochen vorbeischaute, liessen sich die manchmal auch etwas larmoyanten Rückblicke auf die mütterliche Vergangenheit leichter aushalten.
Am späten Abend erzählte Wilhelm seiner Frau von Pawels Krankheit. Wilhelm war überrascht, wie wenig erschrocken sie sich darüber zeigte. Sie wusste offenbar schon sehr viel über die neue Plage und sah für Ernas Mann, sollte sich der Verdacht bestätigten, keine Rettung. Die Krankheit sei angeblich in San Francisco ausgebrochen und, bevor sie wirklich und in ihrer ganzen Tragweite entdeckt worden war, von schwulen Flight Attendents in die ganze Welt verschleppt worden. «Pawel wird sterben, traurig für die Kinder, die ihren Vater verlieren», meinte sie erstaunlich trocken, wie Wilhelm empfand. Er hatte Pawel gut gemocht.
Was Ilse viel mehr beschäftigte und worüber sie mit Wilhelm nur selten sprach, war eine seit Ernas Kindheit immer wieder erlebte Enttäuschung, dass ihre Tochter Sorgen und Nöte zuerst mit ihrem Vater besprach. Irgendwie hatte Erna zu Wilhelm mehr Vertrauen oder sie fühlte sich von ihm besser verstanden, und darauf war Ilse neidisch oder gar eifersüchtig. Bei Erna war alles anders als bei den beiden Söhnen. Diese suchten kaum je Trost oder Ratschläge – weder bei ihr noch bei Wilhelm. Sie wirkten im Notfall meistens ganz einfach zugeknöpft oder gar verstockt und liessen sich Mitteilungen über widrige Umstände nur stückweise abtrotzen. Meistens überraschten sie ihre Eltern mit bereits getroffenen Entscheiden oder gar vollendeten Tatsachen.
Das war auch nicht immer einfach – aber Ilse erlebte dabei wenigstens keine Zurücksetzung.
Ilse fühlte sich manchmal sehr einsam.
Susanne Amrein
Die Bäckerei-Konditorei mit Cafeteria an der Strasse zum Bahnhof von Sulzach gehörte schon in dritter Generationen den Ostermanns, entfernten Verwandten des grossen, längst verstorbenen Gönners der katholischen Diaspora. Ende der 50er Jahre liessen die Ostermanns das alte Haus durch einen Neubau mit Läden und für damalige Zeiten modernen Wohnungen ersetzen. Die Konditorei erweiterten sie durch einen damals trendigen «City Tea-Room», wo der Ostermann fast jeden Abend einen Pianisten – meistens «wandernde» Österreicher und sich wienerisch gebende Altcharmeure – auf einem Flügel süsse Weisen und anderes klimpern liess. Jeden Freitag spielte seine Frau bei Kerzenlicht den Postillion d’Amour