Die Seeweite. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301012
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eine Stelle als Hausangestellte bei reichen Leuten in Massachusetts, in der Nähe von Boston.

      Plötzlich ging alles sehr schnell. Mir selbst kam ihr Auszug gelegen. Ich wohnte noch immer im gemieteten Zimmer und war glücklich, die kleine Wohnung mit dem recht einfachen Inhalt zu übernehmen. Nachdem sie weggefahren waren, hörte ich von den beiden nur noch wenig, allenfalls durch Bärbel, und auch dies nur ganz selten. Im Lauf der Zeit hatte ich sie vergessen, wenigstens für Monate, wenn nicht gar Jahre.

      Dann plötzlich, nach etwas über 15 Jahren, waren sie wieder da, zurück aus Amerika, kinder- und arbeitslos. Die Rös bat mich um Hilfe, um etwas Geld, für den Anfang. Ich gab ihnen, nicht sehr viel, aber immerhin. Sie waren offenbar ausgebrannt, und zu Norbert wäre die Rös nie betteln gegangen, sowenig wie Waldemar seinen Vater anpumpen wollte. Waldemar hielt sich an seine Schwester Yvonne. Sie hatte offenbar eine beträchtliche Karriere gemacht und arbeitete als «Vorzimmerdame» eines Direktors in der Stadt.

      Yvonne schien Waldemar mächtig geholfen zu haben – und später hat sie sich um meine Schwester in einer Weise gekümmert, wie ich es nie geschafft hätte.

      Einstweilen fand die Rös Arbeit im Spital, und Waldemar wollte sich als freier Fotograf installieren. Ich war von Anfang an skeptisch, ob er sich als selbständiger Fotograf würde etablieren können. Doch Waldemar schien gewitzter, als ich ihm zutraute, und schaffte mindestens einen halbwegs erfolgreichen Start.

      In einem Nachbardorf fanden sie bei einem Bauern eine ältere, sehr einfache, aber hinsichtlich Grösse und Preis ideale Wohnung. In einem grossen angebauten und heizbaren Schuppen konnte er ein Studio einrichten. Er brauchte dazu mehr Geld und pumpte mich an. Irgendwie konnte ich nicht nein sagen, und so habe ich ihm die ganze Ausrüstung vorgeschossen.

      Eine Weile schien alles gut zu gehen. Anfänglich luden mich die beiden ab und zu ein. Ich lebte damals allein in der Stadt und fand die Sonntagbesuche bei Schwester und Schwager nett. Doch die Einladungen blieben mehr und mehr aus. Zuletzt musste ein Jahr oder mehr vergangen sein, seit ich meiner Schwester und meinem Freund Waldemar zum letzten Mal begegnet war.

      Am Sonntag nach Ostern – es war der Weisse Sonntag 1983 – rief er mich am Morgen an. Ja, sie hätten schon seit einer Weile nichts mehr von sich hören lassen. Er, Waldemar, hätte halt viel zu tun, und immer wieder sei etwas dazwischen gekommen, wich er aus. Aber heute würde er gerne mit mir einen Ausflug machen. Mit der Rös käme er nicht dazu, und heute sei sie nicht da, sie müsse arbeiten. Rös ertrage lange Fussmärsche ohnehin schlecht. Er würde gerne mit mir am See entlangwandern, aber hätte bisher kaum eine Gelegenheit gesehen, mich dazu einzuladen. Ich fühlte mich etwas überrumpelt, aber ich sagte zu.

      Noch vor der Mittagszeit trafen wir uns auf dem Parkplatz beim Schloss. Der Frühling war voll ausgebrochen. Waldemar schien guter Laune und bedankte sich überschwänglich für mein Kommen. Er hatte seine Kamera mit allen möglichen Schikanen mitgebracht und versprach sich ein paar schöne Bilder vom sonnigen Tag.

      Ganz plötzlich freute mich die Idee der Wanderung. Ich hätte mich allein dazu nicht aufgerafft, und wir nahmen uns vor, den See zu umrunden, auf halbem Weg einzukehren, etwas zu essen und am frühen Abend zurück zu sein. Waldemar freute sich, viel Zeit zu haben. Wir hatten uns in den letzten Jahren nie ohne Rös getroffen.

      Anfänglich sprachen wir über seine Arbeit. Kunden und vor allem Aufträge für Werbeaufnahmen seien immer zahlreicher geworden. Letztere warfen bedeutend mehr ab als Bilder für Zeitungen, Agenturen und Bücher oder gar Hochzeiten. Allerdings verursachten sie auch bedeutend mehr Aufwand für Planung und Vorbereitung, bedingten eine kostspielige Ausrüstung und verlangten zum Teil endlose Diskussionen mit den Auftraggebern über Inhalte und Qualität. Aber im Ganzen gesehen gab sich Waldemar zuversichtlich. Er mochte noch keine Versprechen für eine Rückzahlung seiner Schulden machen, aber er komme der Sache bestimmt näher. Alles hänge auch davon ab, wie er und Rös in Zukunft zusammen leben könnten.

      Wie er das meine, fragte ich ihn etwas überrascht. Und jetzt begann er nach und nach seine traurige Geschichte zu erzählen. Ich will versuchen, sie möglichst in seinen Worten wiederzugeben, obwohl ihm das Reden nicht ganz leicht zu fallen schien und er immer wieder weit ausholte:

      «Rös und ich verbringen im Moment eine schwierige Zeit, und ich habe ehrlicherweise keine Ahnung, wie wir unsere gemeinsame Zukunft bewältigen können oder wollen. In Wirklichkeit leben wir schon jetzt nicht mehr zusammen. Sie verbringt ihre Freizeit fast ausnahmslos mit unserem Nachbarn und Hausbesitzer Res. Sie hilft ihm in ihrer Freizeit auf dem Hof, macht den Haushalt und seit einiger Zeit schläft sie mit ihm.»

      «Einfach so, warum lässt du dir das gefallen?»

      «Das ist eine lange Geschichte. Du weisst, wir haben keine Kinder, und Rös sieht und sah die Schuld schon immer bei mir. Vielleicht trifft es auch zu. Wir haben uns nie dazu aufgerafft, Klarheit zu schaffen. Vielleicht hätte Klarheit die Gratwanderung unseres gemeinsamen Lebens gefährdet. In Amerika waren wir aufeinander angewiesen, wenigstens haben wir uns dies gegenseitig immer eingeredet.»

      «Aber als ihr geheiratet habt, war doch die Rös schwanger?»

      «Schon, aber vermutlich nicht von mir. Wenigstens hat sie mir dies, als wir schon lange drüben lebten, immer wieder, meistens im Streit, höhnisch an den Kopf geworfen. Auch darüber gab es nie letzte Gewissheit. Das hat sie im Nachhinein immer wieder beteuert. Als sie das Kind verlor, war ich von meiner Vaterschaft überzeugt gewesen. Ich wusste nicht, dass es da noch einen anderen Mann gab oder geben konnte. Ich hatte mich auf das Kind eingestellt und eigentlich freute ich mich.»

      «Wer war denn der andere?»

      «Sie hat es mir nie gesagt. Vermutlich einer aus dem Dorf, ich verdächtigte Dölfs jüngeren Bruder, den Alex Pfister. Sie hat dies nie zugegeben. Immer, wenn es für sie eng wurde, hat sie gekniffen. Gescheit, sportlich und sexy sei er gewesen, eben kein unfähiger Schnellspritzer, wie sie mich hin und wieder beschimpfte. Ihr Schweigen half mir, ihre Geschichte als Erfindung oder gar Wunschtraum abzutun. Sie aber machte unsere seitherige Kinderlosigkeit zum Beweis. Dagegen verdächtigte ich sie, noch vor unserer Trauung, versucht zu haben, das Baby durch irgendwelche obskuren Gifte oder Machenschaften abzutreiben, letztlich gar erfolgreich, und sie habe dabei vermutlich ihre Gebärmutter oder andere Organe beschädigt oder zerstört. Zwar geschah es in den Flitterwochen, aber ich stellte mir den Abgang als langsamen Prozess vor. Solche Verdächtigungen erwiderte sie mit unbeschreiblichen Wutanfällen. In der Folge weigerten wir uns beide immer wieder, uns untersuchen zu lassen. Das Drama hat uns über 20 Jahre verfolgt, gedemütigt und doch irgendwie zusammengeschweisst.»

      «Das verstehe ich nicht. Warum eigentlich erzählst du mir das jetzt?»

      «Weil ich mich jetzt wirklich von der Rös trennen will und dabei Verständnis oder gar Hilfe suche. Du bist ihr Bruder, und ich weiss nicht, was geschieht, wenn ich wirklich ausziehe.»

      «Was befürchtest du?»

      «Beispielsweise, dass du dein Geld sofort zurückhaben willst.»

      «Vielleicht, wenn mich dein Entscheid unvermittelt getroffen hätte. Sei beruhigt, gewiss würden wir darüber reden und eine Lösung suchen. Andererseits kenne ich meine Schwester und bin ihr keineswegs hörig. Geldsorgen sind kaum ein brauchbarer Grund, um bei einer Frau zu bleiben.»

      «Zum anderen ist die Rös gefährdet, sie hat schon mehrmals gedroht, sich umzubringen, wenn ich gehen würde. Dabei hat sie sich durch all die Jahre immer wieder Affären geleistet, Männer, in die sie sich verliebte und die sie in jedem Fall fallen liessen. Danach versuchte sie in aller Regel, sich mit mehr oder weniger geeigneten Mitteln umzubringen und immer so, dass für nicht Eingeweihte eine gewisse Mitverantwortung an mir hängen bleiben sollte. Immer wieder lebte ich mit dieser erschreckenden Perspektive. Es war ein Spiel, ein böses Spiel, sie weiss es, und ich muss es beenden, so oder so. Sie spielt es, weil sie glaubt, ich würde nie den Mut haben, sie zu verlassen. Es wäre das Ende des Spiels, und alles kann danach geschehen. Ich muss diese böse Ahnung und diese Last loswerden, und suche Hilfe nach allen Seiten. Vor einer Woche habe ich meine Schwester im Tessin besucht, sie arbeitet jetzt dort in einer Bank, und mit ihr über meine Sorgen gesprochen. Sie wollte mir nicht raten, meine Frau