Die Seeweite. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301012
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hatte sie nach Kaiserfeld in die Klinik gebracht. Sie war die Schwester von Rolf Schneider.

      Ja, sie kannte ihn. Er war einige Jahre älter und lebte allein. Die Eltern lebten noch. Rolfs Mutter Bärbel hatte während einiger Jahre neben Susannes Mutter in der Spinnerei gearbeitet. Rolfs Vater war Aufseher, ein düsterer Kerl, fand sie.

      Mit Manfred traf sich Susanne ein paar Tage später ein letztes Mal. Er wollte sie nicht mehr treffen. Sie würde ihn nie mehr sehen.

      Der Bruch war hart, aber für Susanne nicht der erste. Warum endeten ihre Beziehungen immer, und warum immer so oder ähnlich? Martina versuchte, sie zu trösten, doch daraus wurden eher Vorwürfe: «Du überforderst die jungen Männer, du nimmst sie in Beschlag, das will keiner. Du schleppst sie zu schnell ins Bett. Sie sehen dich nicht als Frau fürs Leben, sondern als leichte Beute. Zudem, einmal sind sie zu jung und ein andermal zu alt.» Ähnliches hatte sie sich schon oft anhören müssen. Dabei kam es immer zu lautstarken Auftritten mit Türknallen und Tränen. Das war auch jetzt so.

      Dabei war Susanne keineswegs mannstoll, sexbesessen oder schlimmer. Sie sehnte sich ganz einfach nach einer festen Bindung oder Ordnung, vielleicht sogar Sicherheit für ihr Leben, und sie sah in den Männern, die ihr freundlich begegneten oder ihr gefielen, immer wieder Kandidaten guten Willens. Sie nahm die Männer ins Bett, weil sie glaubte, daraus würde so etwas wie Liebe. Nie hatte jemand herauszufinden versucht, warum sie dies glaubte.

      Sie wusste nicht – noch nicht – dass es besser war, sich diese Sicherheit selbst zu schaffen.

       Rolf über Waldemar

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      Am Sonntag, als sich Waldemar erschoss, rief mich gegen Abend meine Mutter Bärbel an. Bei Waldemar und Rös sei Schreckliches geschehen, ich solle nach Hause kommen, sie könne am Telefon nicht reden. Ich sass, wie meistens an Sonntagen, im Geschäft und testete neue Programme. Der Anruf war mir zuwider, und doch wollte ich Bärbel in ihrer offensichtlichen Bestürzung nicht mit Norbert allein lassen.

      Wir kannten uns seit der Schulzeit. Die Sekundarschule besuchten wir in derselben Klasse. Er war ein stiller, fleissiger Schüler, der wie ich selten auffiel. Beide konnten wir es uns einfach nicht leisten, aufzufallen. Er fürchtete seinen Vater und ich die ganze Klasse. Ihn hänselten viele wegen seines Namens Waldemar, den im Alltag jedermann zum Dackelnamen «Waldi» kürzte. Die Obersten und Stärksten in der Hackordnung der Klasse schrien ihm nach: «Waldi Dackel, beiss uns». Seinen Zorn stachelten sie weiter an mit: «Oder bist du einer von denen, die nur kläffen, he?» Er war nicht stark genug, um sich zu wehren, und hätte er geweint, wären die Lacher noch grausamer geworden. Zu Hause beklagte er sich ohnehin nicht, sein Vater hätte mitgelacht. Gerard Fürst war anders. Ihm wagte niemand zu trotzen, und schon bald stellte sich Gerard vor seinen Freund, und in Gerards Anwesenheit wurde Waldemar in Ruhe gelassen. Natürlich blieb es beim Waldi, aber ohne schäbigen Unterton, womit er leben lernte. Die beiden sassen in der Klasse nebeneinander und galten als unzertrennlich. Bei Gerard lernte Waldi Gitarre spielen.

      Ich habe ihn nie verspottet und vermied auch allen anderen gegenüber jeden Anlass, mich selbst zum Gespött oder zum Opfer zu machen. Ich glaube, ich war ein Leisetreter oder gar Feigling und bin es vielleicht noch immer. Hin und wieder breche ich aus meiner Gewohnheit oder Rolle aus, meistens unpassend und damit oft verheerend.

      Am Anfang fühlte ich mich, vermutlich wie er, in der Schule eher unglücklich, und ich habe im Gegensatz zu Waldemar nie einen Freund durch dick und dünn gehabt. Die meisten waren besser angezogen, konnten mit irgendetwas auftrumpfen, und ich besass kaum ein Taschenmesser, was mich demütigte. Aber ich lernte schnell, verhielt mich ruhig und konnte wie Waldi ohne Prüfung in die Sekundarschule wechseln. Inzwischen spielte ich nicht nur im Jugendspiel, sondern auch im Schulorchester Trompete und lernte so den etwas älteren und talentierten Dölf Pfister kennen. Dölf wurde mein Freund. Die Pfisters waren in meinen Augen wohlhabende Leute. Ihr Haus und ihre Druckerei machten mir Eindruck.

      Nach Gerards dramatischem Todesschuss begann Waldemar, mit uns in Pfisters Papierkeller Dixie zu spielen, er spielte Gitarre und Banjo, und so wurden auch wir Freunde. Er war ein recht guter Sänger und versuchte immer häufiger, sich selbst auf seiner Gitarre begleitend, die damaligen amerikanischen Vorbilder nachzuahmen, zum Beispiel Gene Autry in seinen Westernfilmen. Seine Trauer in den oft etwas sentimentalen Songs wirkte für mich immer sehr echt. Waldemar neigte zur Trübsal, obwohl wir nie genau wussten, und es vielleicht auch nicht wirklich wissen wollten, warum. Allerdings klagte er ab und zu über Schikanen seines Vaters, der unser Trio mindestens anfänglich nicht mochte.

      Eigentlich waren wir schon bald im Dorf und der näheren Umgebung bekannt und hatten immer häufiger bezahlte Auftritte. Das war vor allem Dölf Pfisters Verdienst, der diese Art von Bestätigung aktiv suchte. Als Dölf nach Zürich zog, begann unser Trio auseinanderzudriften. Das gemeinsam aufgesparte Geld verbrauchten wir auf einer ziemlich abenteuerlichen Ferienreise in die Camargue mit Pfisters Lieferwagen, den nur Dölf fahren durfte, und einem von den Pfadfindern geborgten Zelt. Dölf, zwei Jahre älter als wir, wollte unbedingt seine Freundin Renate dabei haben. Ihre Eltern liessen sie nicht mitfahren.

      Ich habe dieses Detail nicht vergessen, weil wir auf dem Zeltplatz am Meer mit zwei Holländerinnen bekannt wurden, mit denen Dölf schon nach zwei Tagen jede Nacht verbrachte. Waldemar und ich waren ratlos, und ich glaube, Dölf auch. Er wich jedem Gespräch darüber aus. Wir machten keinen Aufstand, er war unser Fahrer. Wir schwiegen auch danach. Die Reise bildete mehr oder weniger den Schlusspunkt für unser Trio und die gelebte Freundschaft mit Waldemar.

      Als ich in der Stadt in der Texline Arbeit fand, gab ich das Trompetespielen auf. Es war unmöglich, im Haus, in dem ich wohnte, zu üben, noch schwieriger, am Abend nach Sulzach zu den Proben zu fahren, und einem andern Verein wollte ich mich nicht anschliessen.

      Obwohl oder gerade weil Waldemar im Dorf und, für mich erstaunlich, bei seinen Eltern blieb, hatten wir uns aus den Augen verloren. Mehr oder weniger aus heiterem Himmel erzählte mir Bärbel, die Rös werde den Waldemar heiraten, sie sei schwanger. Norbert hätte völlig unangemessen wie ein Eifersüchtiger getobt und meiner Schwester mehr oder weniger das Haus verboten. Für ihn sei sie erledigt, und mit den Gretlers wolle er ohnehin nichts zu tun haben. Er werde zur Hochzeit nicht erscheinen. Es waren für die beiden sehr unliebsame Wochen. Ähnlich uneinsichtig und unversöhnlich verhielt sich auch Waldemars Vater. In der Folge der Auseinandersetzung verliess Waldemar die Wohnung seiner Eltern und zog in eine Hals über Kopf gemietete kleine Stadtwohnung, in der er mit Rös leben wollte.

      Sie verbrachte ihre Nächte weiterhin im Bezirksspital, wo sie inzwischen als Hilfspflegerin arbeitete. Auch wenn die Braut schwanger war, «geziemte» sich das Zusammenleben Unverheirateter groteskerweise nicht. Rös und Waldemar hielten sich daran, keine Ahnung warum, nach allem!

      Sie heirateten ohne Kirche, nur im Stadthaus. Es war ein trüber Tag, und so ähnlich schaute auch das Hochzeitspaar in die Welt. Seine Schwester Yvonne und ich spielten Trauzeugen. Danach gab es ein bescheidenes Mittagessen. Waldemar sprach davon, in der Stadt eine Arbeit zu suchen und im Walzwerk zu kündigen. Wir vermieden es, über unsere Eltern zu sprechen. Yvonne hatte sehr viel dazu beigetragen, dass wir während des Essens in immer bessere Stimmung kamen. Bisher hatte ich sie kaum beachtet, aber ich fühlte, dass sie den beiden etwas Unglücklichen gut tat.

      Am Tag danach reisten sie für eine Woche ins Tessin. In jener Woche verlor meine Schwester ihr Kind. Dieser Verlust verstörte das Paar nachhaltig. Plötzlich schienen sie nicht mehr zu wissen, warum sie einander geheiratet hatten, und doch mochten beide das gemeinsame Projekt nicht aufgeben. Scheidungen waren noch immer verpönt, ein klares Zeugnis und Eingeständnis des Versagens unverantwortlicher Leute. Um keinen Preis wären sie bereit gewesen, davon bin ich überzeugt, ihren Vätern die Freude des Scheiterns zu machen. Meines Erachtens suchten sie nach einer starken Klammer für ihr Zusammenbleiben, und da entstand die Idee, nach Amerika auszuwandern.

      Noch hatte Waldemar im Walzwerk nicht gekündigt und keine andere Stelle angenommen. Für ihr Projekt suchte er Hilfe bei Alice Fürst, der