Die Seeweite. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301012
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sehr wohl verantwortlich.»

      «Warum redest du nicht mit diesem Bauern, dem Res, in den sie verliebt zu sein scheint?»

      «Der kennt das Spiel nicht, noch nicht. Er würde mich vermutlich auslachen. Weisst du, wenn sie liebt, ist die Rös eine wunderbare Frau. Ich meine nicht im Bett oder nicht nur im Bett, sondern auch so, im Alltag. Sie liebt alles. Sie hat dabei eine erstaunliche Bandbreite, von der Natur über Bilder und Bücher zur Musik. Sie hört stundenlang klassische Musik, meistens mit Kopfhörer, damit ich sie nicht störe, sagte sie einmal. Sie liebt ganz besonders Kinder, und da sind wir schon wieder beim Thema. Der Res hat von seiner geschiedenen Frau zwei Kinder. Die kommen so alle zwei Wochen zu Besuch. Die beiden Mädchen werfen sich der Rös jeweils in die Arme. Sie spielt und tanzt mit ihnen, erzählt ihnen Geschichten, und der Res ist da und freut sich. Dann benehmen sich die vier als Familie, und ich fühle mich verraten, ich erlebe diese Idylle einerseits als Beleidigung und andererseits als Bestätigung für mein Versagen. Was soll ich also mit ihm reden.»

      «Vielleicht solltet ihr Hilfe bei einem Psychologen, der Eheberatung oder in einer Selbsthilfegruppe suchen.»

      «Wir haben Ähnliches schon in Amerika versucht, ohne Erfolg. Und hier habe ich mit meinem Arzt gesprochen, der auch Therapien anbietet. Er sagte, wenn wir zusammenbleiben wollten, müssten wir beide kommen. Die Rös sagt, sie brauche das nicht, sie wisse, was sie wolle: Den Res als ihren Freund, ohne sich von mir zu trennen. Schliesslich habe der Res zwei Kinder, und sie ziehe es vor, deren Freundin zu bleiben und nicht ihre Stiefmutter zu werden. Res sehe das genauso. Zudem sehe sie nicht, wie ich von meiner Arbeit leben könnte, meine Knipserei bringe bei all meinen Schulden zu wenig ein. Einer anderen Frau hätte ich ohnehin nichts zu bieten, und somit könne ich gewiss wie bisher weiterleben, ohne mich von ihr trennen oder gar scheiden zu lassen. Im Übrigen hätte ich ja den Res akzeptiert, von Anfang an.»

      «Hast du das?»

      «Schlimmer, und wie alles hat es eine Vorgeschichte. Sie beginnt am Anfang unseres gemeinsamen Lebens. Zuerst war da die Schwangerschaft und dann der Abort. Danach haben wir uns für die Auswanderung nach Amerika entschieden und wollten mindestens vorläufig eine Schwangerschaft um jeden Preis vermeiden. Es gab noch keine Pille, nicht in den ersten Jahren und nicht ohne ärztliches Rezept. Ich weiss nicht, ob du dir das vorstellen kannst. Wir lebten für Jahre mit geradezu lächerlichem Sex. Wir begegneten uns wie Teenager oder geilten uns mit fantastischen Geschichten auf. Später verhüteten wir Kinder, weil wir sie uns einfach nicht leisten konnten. Die Konjunktur drüben war miserabel. In Rös’ Augen wurde ich mehr und mehr zum Versager. Sie musste mitarbeiten, um uns über Wasser zu halten. Unser Sex blieb pubertäre Fummelei.

      Irgendeinmal kamen die Jahre, in denen es uns besser ging und wir beinahe glaubten, Kinder würden endlich unser beschissenes Leben verbessern. Und da kamen keine Kinder. Für mich wurde alles noch schwieriger. Rös beschimpfte mich nicht nur als Versager, sondern auch als impotent und zeugungsunfähig. Unser Verhältnis wurde immer unerträglicher. Und so kamen wir zurück in die Schweiz, nach 20 Jahren. Jetzt hat sie sich in diesen Res verliebt. Aber ich glaubte, das würde sich geben und sie würde zu mir zurückkehren. Jetzt habe ich meine Zweifel, und sie ekelt sich vor mir, vor der Art, wie ich esse, atme, rieche, lache, einfach alles an mir ekelt sie an.»

      «Aber das sind doch alles lauter Widersprüche. Du sagst, sie ekelt sich vor dir, aber du sollst sie nicht verlassen. Entweder ist alles anders, oder du machst dir etwas vor.»

      «Vielleicht. Vielleicht hänge ich noch immer an ihr und kann sie nicht freigeben. Vielleicht, weil ich mich schuldig fühle oder ganz einfach feige bin, vielleicht aber auch, weil ich mich vor Einsamkeit fürchte, weil ich mir vorkomme wie ein verprügelter und verjagter Hund.»

      «Du machst dich lächerlich. Pack deine Sachen und geh.»

      «Wohin soll ich gehen? Ich habe mich dort eingerichtet, ich wohne ja nicht nur dort, es ist auch mein Arbeitsplatz, und ich kann von dem, was ich alleine verdiene, noch immer kaum leben.»

      «Dann such dir eine Stelle. Du hast ja einen richtigen Beruf. Im Moment findest du bestimmt eine Stelle. Mach das Fotografieren zum Hobby. Die Rös wird nie zur Vernunft kommen, wenn du sie nicht vor vollendete Tatsachen stellst. Ich kenne sie aus unserer gemeinsamen Kindheit. Sie setzt ihre Umgebung stets bis zur Erpressung unter Druck. Das hat sie vom Vater gelernt und an der Mutter ausgelassen. Bei ihr oder durch sie hat sie alles erreicht. Wir waren zwar mausarme Leute, aber wenn sich die Rös etwas wünschte, bekam sie es. Mutter setzte dafür Himmel und Hölle in Bewegung. Kam die störrische Kleine trotzdem nicht zum Ziel, spannte sie den Norbert ein. Ja, sie spielte die beiden gegeneinander aus. Es war auch in meinen Augen ein Spiel.»

      Nun holte auch ich sehr weit aus, denn das heillose Kampfspiel, so offensichtlich, ja verständlich es mir zwischen Waldemar und Rös erschien, so unerklärlich und bedrohlich hatte es damals zu Hause auf mich gewirkt. Waldemar hörte mir unentwegt, ja interessiert zu.

      «Es stimmt, Vater hat das Rösi wechselweise in den Himmel gehoben und dann gleich wieder schikaniert. Mutter verhielt sich Rös gegenüber immer gegenteilig. Es war, als ob die beiden sich ihretwegen bekämpften oder mindestens einen Wettbewerb lieferten. Da gab es so etwas wie Rivalität oder gar Eifersucht.

      Mit 15 fand Mutter bei den Pfisters von der Druckerei für Rös eine Stelle als Haushaltshilfe, danach ging Rös für ein halbes Jahr nach Genf als Au pair-Mädchen. Schliesslich wurde sie Hilfspflegerin im Spital, alles Stellen, bei denen sie nachts nicht zu Hause war. Ich hatte dauernd das Gefühl, Mutter wollte die Rös aus Eifersucht vom Vater fernhalten.

      Hin und wieder verbrachte Rös das Wochenende und auch ihre Ferien mit uns. Die Tage begannen jeweils voll Überschwang, wobei sich Vater und Mutter wiederum gegenseitig zu übertreffen suchten, und sie endeten in stundenlangen Gehässigkeiten. Mit 19 lebte Rös wieder voll Zuhause. Ich war inzwischen ausgezogen, und so war genug Platz da. Offenbar kam es auch in dieser Zeit zu schweren Auseinandersetzungen. Vater versuchte, sein Rösli noch immer voll zu kontrollieren. Während einer Weile soll sie tatsächlich mit Alex Pfister geflirtet haben, das hat mir die Bärbel erzählt. Alex hat Rös offenbar abgewiesen, und das hat sie tief gekränkt. Dann kamst du. Vater hat getobt, keine Ahnung, was er gegen dich hatte. Aber Rös heiratete dich, und ihr seid nach Amerika ausgewandert. Ich sehe deine Probleme schon, obwohl ich dir nicht in allem folgen kann. Wenn du willst, werde ich mit Rös reden und ihr raten, dich ziehen oder den Res fallen zu lassen.»

      «Sie wird sich kaum etwas sagen lassen. Sie wird mich bei dir verhöhnen und sie wird weiter drohen, weil ich fürchte, ihr wirkliches Motiv ist eine Art Rache, die sie sich um keinen Preis entgehen lassen will. Irgendwie fühle ich mich auch wirklich schuldig. Vielleicht war ich in vielem, um nicht zu sagen, in allem, ein Kümmerling, nur ein kleiner Bock, der sich seine Lust selbst beschaffte, ohne mit Einsatz wirklich zu suchen und zu werben. Vielleicht habe ich die Rös einst genommen, weil sie mich wollte, weil sie mich brauchte, weil sie für mich bequem war. Wer also möchte es ihr übel nehmen, auszubrechen und sich mit Res ein bisschen Lebensfreude – ein Stück wirkliches Leben, wie sie es nennt – zu holen und mir die verlorenen Jahre anzukreiden, mich dafür anzuprangern.

      Dabei glaubte ich einst, eine Frau mit gesundem Selbstverständnis und einem liebevollen warmen Herzen geheiratet zu haben. Erst allmählich – in Amerika – begannen ihre Wutausbrüche. Es war, als ob ein fremdes Wesen von ihr Besitz ergreifen würde. Sie hat mich erschreckt und entsetzt. Im besten Fall lief sie danach weg und kam später zurück mit Entschuldigungen und Schuldgefühlen. Erschöpft und weinend fielen wir uns jeweils in die Arme und hofften, alles würde sich zum Besseren wenden, da wir uns doch so dringend brauchten. Die Jahre kamen und gingen. Jede Phase haben wir noch und noch durchlebt.

      Die Ausbrüche begannen meistens unvorhersehbar mit kleinsten Meinungsverschiedenheiten, eskalierten zu wilden Szenen und endeten in chaotischer Zerstörung von Geschirr und Möbeln. Sie schrie und schlug blindlings um sich, rannte mit dem Kopf gegen die Wand, warf sich zu Boden, um letztlich in einer Art von hilflosem Weinen aufzugeben. Es gelang mir kaum, sie vor sich selbst zu schützen. Sie wurde für mich urplötzlich zu einem fremden Wesen, einem Wesen, das einer fremden Macht folgte Immer, wenn es mir danach gelang, zu diesen grässlichen Szenen Abstand zu gewinnen, entsetzte mich