Schweizer Tobak. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301005
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der französischen Restarmee nach Grossbritannien ertrunken, die Tochter starb während der deutschen Besatzung an Diphtherie. Es gab in dieser Zeit für die Zivilbevölkerung kaum Medikamente. Madame Janvier konnte nach der Befreiung der Stadt in der Wohnung bleiben, weil sie bereit war, Flüchtlinge und Obdachlose aufzunehmen. Auch dafür bekam sie vom Staat eine Unterstützung. Der Staat half überall, wo Not sichtbar wurde und letztlich immer auf Kosten der Währung. Der Franc blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg auf Talfahrt.

      Als die Flüchtlingswelle vorbei war, vermietete Madame Janvier weiterhin ihr zweites Zimmer und fristete so ein einigermassen erträgliches kleines Leben.

      Als André und Miriam über ihr einzogen, war sie bereits ziemlich gebrechlich. Die fünf Treppen wurden zur Qual. Man begegnete sich ab und zu im Treppenhaus und Miriam bot ihr an, wenn sie ohnehin Einkäufe machte, ihr den einen oder anderen Gang zu ersparen. Madame andererseits hütete ab und zu ihre erstgeborene Tochter Corinne. Sie wurde mit ihren über achtzig Jahren so etwas wie eine zweite Grossmutter. Der Kleinen erzählte sie Kindergeschichten und den Eltern ihr eigenes Leben. Madame Janvier starb nach einer Gallensteinoperation in einem Erholungsheim in Rambouillet. Sie hatte keine Angehörigen in Paris, Freundinnen und Bekannte aus ihren aktiven Jahren waren längst gestorben. Ausser ein paar Leuten aus dem Haus kam niemand zum Begräbnis auf dem Cimetière de Montmartre. Corinne war sehr traurig, dass es Madame nicht mehr gab und für Miriam war mit ihr das alte Frankreich gestorben. Im neuen Frankreich trank man Cola, ass Pizza und Spaghetti und es gab McDonalds. Anglizismen hatten Einzug gehalten. Aus der Cassecroute war ein Sandwich geworden, aus der Revue eine Show – grässlich.

      Zum Begräbnis von Madame Janvier war ebenfalls das Paar von nebenan gekommen. Sie waren etwas älter als André und Miriam und lebten mit ihren drei Kindern schon länger in der Wohnung mit drei Zimmern. Das war für jene Jahre ganz komfortabel. Grössere Wohnungen waren noch immer Mangelware und daher meistens unverhältnismässig teuer.

      Der Mann, ein angelernter Elektrozeichner, arbeitete anfänglich als Ingenieur in den Laboren für Nukleartechnik von Châtillon im Süden der Stadt. Den Job verdankte er seiner Dienstzeit als Soldat in Deutschland und Algerien, er liess ihm genügend Zeit für eine Ausbildung zum Elektroingenieur an einer Abend- und Wochenendschule. Nach seinem Abschluss, als das Paar sein erstes Kind erwartete, wechselte er in eine private Installationsfirma, weil er da bis zu sechzig Stunden die Woche arbeiten konnte und durch die Überstunden auf ein weit höheres Einkommen kam.

      Was für Jean-Noël und seine Frau so etwas wie Komfort und besseres Leben bedeutete, war für Hunderttausende von Arbeitern die einzige Möglichkeit, um über die Runden zu kommen.

      Jean-Noël erzählte von seinen Erfahrungen in der Armee. 24 Monate hatte er dort verbracht, 18 waren in jenen Jahren die obligatorische Dienstzeit, sechs davon in Deutschland, die übrigen in Algerien. Er hatte durch die verlängerte Dienstzeit die kleine Karriere eines Adjutanten geschafft. Nein, er habe niemanden getötet, Glück gehabt, doch einige seiner Kameraden waren umgekommen oder mussten mit der Last, Leben vernichtet zu haben, weiterleben. Bei weitem nicht allen war es gelungen, sich danach im zivilen Leben wieder zurechtzufinden, sich eine materielle Basis zu schaffen, zu heiraten und ein sogenanntes normales Leben zu führen. Es gab Schwerverletzte an Körper, Geist und Seele, viele blieben arbeitslos, waren ge- oder zerbrochen.

      Das Paar kam aus dem Limousin und es dauerte eine Weile, bis Jean-Noël sich dazu überwinden konnte, seinen Geburtsort zu nennen, denn das alte Dorf Oradour gab es nicht mehr. Seine Grosseltern, seine Mutter und seine beiden Brüder waren mit allen Einwohnern von einer SS-Truppe in die Kirche getrieben, das Dorf in Trümmer gelegt und die Kirche angezündet worden. Nur Wenige überlebten die grauenhafte Tragödie, weil sie zufällig nicht im Ort waren, als das geschah.

      Eine Tante hatte Jean-Noël für ein paar Tage nach Limoges mitgenommen, um seiner Mutter etwas Erholung zu verschaffen. Diese versuchte, sich und ihre drei Buben so gut es ging durchzubringen. Es gab im Ort ausser Hilfeleistungen an Alten und Gebrechlichen, Putzen und Waschen keine Arbeit und kein Einkommen von irgendwoher. Die Grosseltern im gleichen Haus bedurften selbst der Pflege. Aber wenigstens gehörte ihnen das Haus und es gab einen Garten mit etwas Gemüse. Das Leben unter der Besatzung war zermürbend. Jean-Noëls Vater kämpfte in der Résistance. Immer wieder wurde nach ihm gesucht, letztlich wurde er verraten, aufgegriffen, erhängt und später auf einer Gedenktafel als Held gefeiert. Davon konnte man nicht leben. Überall war Armut, war Hunger. Nach der Zerstörung Oradours war Jean-Noël Waise, er hatte auch seine zwei Brüder verloren und konnte bei der Tante in Limoges bleiben.

      Nur langsam erholte sich die Wirtschaft im Limousin. Für das berühmte Porzellan aus Limoges gab es wenig Nachfrage. Kaum besserte sich die Lage ein wenig, da zehrte Indochina an der Substanz. Keiner im Volk wollte diesen Krieg gegen die Menschen in Vietnam, Laos und Kambodscha.

      Als die französische Armee einbrach, sprangen die Amerikaner ebenso erfolglos in die Bresche. Das etablierte Frankreich versuchte sich inzwischen mit enormem Aufwand auf Kosten der Wohlfahrt im eigenen Land in Nordafrika festzukrallen.

      Drei Generationen von Männern und Frauen waren geprägt von diesen auszehrenden Weltkriegen, der Schlächterei in Indochina und zuletzt diesem Befreiungskrieg der Algerier. Sie bekamen ihren Marschbefehl oder trugen im Land die traurigen Folgen. Es war nicht nur vaterländische Pflicht, dem Befehl zu folgen, sondern Verrat, es nicht zu tun. Die Wehrpflicht der Bürger war seit der französischen Revolution für alle Nationen des durch die Jahrhunderte geschundenen Kontinents zur Regel geworden. Nur die Sozialisten und Kommunisten rannten schon seit der Jahrhundertwende dagegen an. Für alle anderen war Krieg eine unvermeidliche Realität, ein grosses Geschäft und für viele die Basis einer kleinen oder grossen Karriere.

      Frankreichs Bevölkerung war ausgeblutet, durch die Niederlagen gedemütigt, politisch zermürbt und wirtschaftlich ruiniert, daher strömten Millionen französischer Bürgerinnen und Bürger in die kommunistische Partei. Nur so glaubten sie, zu ihrem Recht und zu einem erträglichen Leben zu finden. Viele waren keine wirklichen Kommunisten, schon gar nicht von Moskaus Gnaden.

      Gewalt war das letzte Mittel, meistens entzündete sie sich an Hitzköpfen, Fanatikern oder auch nur Radaubrüdern. Das war in der Schweiz, beispielsweise in Zürich oder Bern, nicht anders, doch die Grösse des Raumes und die Zahl der Menschen vor allem in Paris waren unvergleichbar, stellte André fest.

      Was den verwöhnten und eingebildeten Spiessern des Schmauchtals als unpassend oder gar verwerflich erschien, war für Frankreichs Menschen nach Jahrhunderten der Unterdrückung durch Bonzen und Pfaffen eine hart erkämpfte, stolze und unantastbare Tradition.

      Jean-Noëls Frau Veronique war gelernte Krankenschwester. Ihr Vater war beim Überfall der Deutschen an der belgischen Grenze in Gefangenschaft geraten und im Lager an einer Lungenentzündung gestorben. Ihre Mutter und Jean-Noëls Tante waren Nachbarinnen und so kannten sich die beiden schon als Kinder. Nach Jean-Noëls Dienstzeit heirateten sie und zogen nach Paris, weil er dort Arbeit fand und diese zudem weit besser bezahlt war als in der Provinz.

      Trotz ihrer drei Kinder hatte Veronique diese Arbeit nie ganz aufgegeben. Sie übernahm noch immer aushilfsweise Nachtwachen und Stellvertretung an Wochenenden im nahen Hôpital Bichat. Jean-Noël hütete derweil die Kinder, fütterte sie, ging mit ihnen auf den Spielplatz im nahen Park und brachte sie abends zu Bett.

      Viel anderes gab es nicht ausser einer Gruppe für die Tänze und Lieder des Limousin. Einmal die Woche trafen sie sich, sangen und tanzten. Veronique und Jean-Noël lösten sich ab: Einmal sie, einmal er.

      Die beiden sparten. Irgendwann würden sie den Moloch Paris verlassen, nach Limoges ziehen, dort eine Wohnung kaufen oder gar ein Haus bauen und ein Ingenieurbüro für elektrische Anlagen eröffnen.

      Obwohl sie eigentlich in verschiedenen Welten lebten, wurden und blieben Veronique und Miriam Freundinnen, auch als das Paar mit ihren Kindern wirklich nach Limoges gezogen war.

      Etwa zur gleichen Zeit fanden und kauften auch André und Miriam eine grössere Wohnung mit Terrasse in einem neuen Haus mit Aufzug auf der Buttes Chaumont mit Sicht auf den romantischen Park und die ganze Stadt, nicht weit von den Schulen, in denen sie unterrichteten. Die beiden Mädchen waren jetzt acht und zehn Jahre alt.