Schweizer Tobak. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301005
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Das behauptete Madame Arnoud, daran duldete sie keinen Zweifel.

      Sie sprach ein für ihre Herkunft erstaunlich gutes Französisch. André liebte es, am Abend in ihrer Loge zu sitzen und ihr zuzuhören. Durch die Jahrzehnte hatte sie eine Unmenge Bücher gelesen. Die Bücher, sagte sie, hätten ihr geholfen, neben dem Trunkenbold zu überleben.

      André versuchte nicht, ihre Weltsicht in Frage zu stellen, er fühlte sich als ihr Gast. Die Geschichte Frankreichs war bisher nicht seine Spezialität gewesen. Ihn hatte in der Mittelschule die italienische Renaissance fasziniert und erst nach den Monaten in Paris wechselte er die Richtung.

      Zudem hatte Madame Arnaud seit kurzem einen Fernseher, der ständig lief. Vor zwei Jahren erst, erinnerte sie ihn, war der grosse General als erster Mann der Republik zurückgekommen. De Gaulle, obwohl kein Freund der Kommunisten, würde vielleicht dem Volk, so hoffte sie, den Stolz zurückgeben und endlich den Krieg in Algerien beenden. Er werde den Sozialisten und Kommunisten Konzessionen machen, davon war sie überzeugt.

      Anfänglich glaubte André, Madame Arnoud sei gewissermassen die Repräsentantin der älteren Generation und gäbe kaum die Stimmung einer Mehrheit wieder. Zunehmend musste er jedoch zur Kenntnis nehmen, wie sehr auch die Kommilitonen an der Sorbonne und anderen Hochschulen einer sozialistischen, wenn nicht gar kommunistischen Weltsicht anhingen. Ideologisch nicht weit entfernt bewegten sich auch die Meinungsmacher des Lehrkörpers. Für André war das alles sehr erstaunlich.

      Andererseits erlebte er selbst, unter welch armseligen Verhältnissen viele seiner Kommilitonen lebten. Es gab sie durchaus, die «Fils à papa», die Blousons noir aus vermögenden Familien, doch das war nicht die Regel. Nicht nur im privaten Bereich mangelte es an allen Ecken und Enden. Auch die Einrichtungen in den Hörsälen liessen viele Wünsche offen, sie waren veraltet, ungenügend unterhalten, zum Teil schäbig bis unbrauchbar und vor allem im Winter wurde völlig ungenügend geheizt.

      Er hatte bisher in einem Land gelebt, in dem alles, was nur leicht nach «roten Ideen» aussah, aufs Schärfste verurteilt und zurückgewiesen worden war. Wirkliche oder vermeintliche Sympathisanten, die nach Ostdeutschland oder Russland reisten, wurden nach ihrer Rückkehr ausgegrenzt und ab und zu gar verprügelt. Hier in Frankreich und besonders in Paris gab es durchaus beide Lager, die sich auch nichts schenkten, doch stellten die linken Parteien eine einflussreiche und ernst zu nehmende Macht dar, die, auch wenn eine labile Mehrheit sie noch immer ablehnte, in ihrem Kern als patriotisch und rechtschaffen galt. Es gab das Lager der Stalinisten, der Moskauhörigen, aber es gab auch die Ami-Hörigen. Beide waren blind auf einem Auge, meinte Madame Arnoud trocken, wenn André sie auf die blinde Seite ihrer Sicht aufmerksam machte.

      In den Kinos wurden Filme aus der Sowjetunion nicht nur gezeigt, sondern öffentlich gepriesen. André ging hin, mit grosser Skepsis, in Erwartung reiner Propaganda und war beinahe irritiert über die völlig unpolitische Handlung der Geschichte, einer Liebe in der riesigen Kornebene der Wolga, wie sie sich in irgendeinem Land hätte zutragen können, eine Art Romeo und Julia auf dem Land, die tragisch endete. André war gerührt, er hätte beinahe geheult und das wegen eines Filmes aus der Sowjetunion.

      Viele Jahre später, als er mit Miriam in eine gemeinsame Pariser Wohnung zog, war auch der letzte Krieg längst überwunden, die Denkmäler, Paläste, Kirchen und Häuser der Stadt vom klebrigen Russ befreit. Im Westen der Stadt war ein neues modernes Zentrum entstanden. Die Caravelle, der zweistrahlige Jet, war zu einem grossen Geschäft geworden. Frankreich war wieder da, wie es sich Madame Arnoud gewünscht hatte.

      Noch mehr aber musste sie sich 1968 über den Aufstand der französischen Jugend gefreut haben. Was die eigentlich wollte, wusste niemand so genau, aber sie zertrümmerte festgefahrene Strukturen, befreite sich aus der Enge straffer Gewohnheiten und der Zucht autoritärer Würdenträger in allen Bereichen. Neue und bessere Luft sollte in die Hörsäle, Amtsstuben und Fabriken strömen.

      Viele der Aufrührer, vor allem im Bereich der studierenden Jugend, übernahmen Ideen der Befreiung aus Amerika. Dort richteten sie sich gegen die intolerante Sturheit der festgefahrenen etablierten Kasten, die Rassendiskriminierung. Sie sahen in ihnen den Verrat der Ideen von John F. Kennedy und als Folge den schwachsinnigen Krieg in Vietnam.

      Im Elyséepalast hielt Pompidou Hof. Doch der Alltag der lohnabhängigen Menschen blieb nach wie vor ein sehr bescheidener. André und Miriam lebten in einem älteren Haus im 18. Arrondissement. Ihre Wohnung mit zwei Zimmern und einer kleinen Küche ohne Bad und Terrasse lag im sechsten von acht Stockwerken ohne Aufzug. Sie waren jung, Treppensteigen war gesund, mit einem Bébé war es schon ein wenig beschwerlicher, für ältere Leute eine Qual. Um ihrem Bedürfnis nach Sauberkeit zu folgen, besuchten sie zweimal die Woche die öffentlichen Duschen, wie beinahe alle Leute im Quartier.

      Sie kamen damit zurecht, aber für ihn war das alles sehr eng. Ab und zu verwünschte er dieses «Loch», wie er es nannte. Als dann die erste Tochter zur Welt kam, wurde alles noch schwieriger, nicht nur wegen der Enge, sondern auch, weil Miriam nur noch wenig arbeiten konnte und er selbst bisher keine feste Anstellung gefunden hatte. An einen Umzug war jetzt noch weniger zu denken als zuvor. Wenn Miriams Eltern nicht immer wieder geholfen hätten, wäre das Leben sehr schwierig geworden. Nie bat er seine Mutter oder seine Geschwister um Hilfe. Sie hätten ihm mit Sicherheit vorgeschlagen, die Zelte in Paris abzubrechen und mit seiner kleinen Familie in die Schweiz zurückzukehren. Das wollte Miriam nicht und das wollte er nicht. Die beiden hatten darüber nicht wirklich Streit, aber ihre Beziehung nahm Schaden. Es blieb nichts übrig für ihre kulturellen Ansprüche und auch nicht für die Pflege ihrer bisherigen Freundschaften. André befürchtete so etwas wie einen sozialen Abstieg. Er hielt sich und seine Situation für bedauernswert.

      Die manchmal beinahe zerbrechlich wirkende Miriam fand sich damit besser ab. Sie war weniger verwöhnt, obwohl sie ihre Jugend ausserhalb der Stadt mit mehr Freiraum verbracht hatte. Sie lernte entgegen gängiger Klischees über die Einwohner dieser Stadt die Leute von nebenan kennen, wusste, wer über und unter ihnen wohnte. Sie wurde gewahr, wovon die Leute lebten und welche grösseren und kleineren Sorgen sie allenfalls haben mochten. Natürlich wusste sie vieles nicht genau, sie wollte es auch nicht absichtlich ergründen.

      Unter ihnen wohnte Madame Janvier, eine ältere Dame, deren Mann auf dem Schlachtfeld von Verdun im Ersten Weltkrieg gefallen war. Sie waren ein Jahr verheiratet gewesen, als er – für ein paar Tage oder höchstens wenige Wochen – eingezogen wurde. Sie sah ihn zum letzten Mal auf dem Bahnsteig des Gare de l’Est, winkte ihm nach und weinte, denn sie erwartete ihr erstes Bébé. Schon damals lebte sie im gleichen Haus, erhielt als Soldatenwitwe mit Kind eine Rente und arbeitete als Verkäuferin in der Samaritaine, während ihre eigene bereits betagte Mutter, im Gegensatz zum Vater von der grossen Grippe verschont, zu ihr zog und das Mädchen hütete.

      Die ersten Jahre nach dem Krieg waren in der Erinnerung von Mutter und Tochter trotz aller Trauer gute Jahre gewesen. Irgendwelche geerbte Aktien trugen mit ihren Dividenden zum Unterhalt bei. Doch mit dem Zusammenbruch der Banken und dem Zerfall der Währung in den 30er Jahren waren die Aktien nicht einmal mehr ihr Papier wert, die ohnehin nicht üppige Rente verkam zur Lächerlichkeit. Die Samaritaine entliess einen grossen Teil der Angestellten, nicht zuletzt jene, die durch eine Rente privilegiert waren. Auch das alltägliche bescheidene Essen wurde zum Luxus. Die Grossmutter starb nicht nur an ihrem Alter, sondern einer zermürbenden depressiven Verzweiflung. Madame Janvier und das inzwischen pubertierende Mädchen blieben ohne grosse Hoffnung auf ein besseres Leben zurück.

      Trotz des angeblich gewonnenen Krieges, den die Franzosen nicht angezettelt hatten, breiteten sich in Frankreich Armut und Not aus. Die Sozialisten kamen an die Macht, verstaatlichten die Industrie und versuchten mit ihren Methoden, die Verhältnisse zu verbessern. Die Mieten wurden eingefroren. Dank ihres Status› als Kriegswitwe und ihrer Tochter konnte Madame Janvier in der Wohnung bleiben. Ihre Rente wurde aufgebessert und sie fand wieder Arbeit. Die Tochter wurde Verkäuferin in einer Apotheke und verliebte sich in einen jungen Mann aus dem Quartier. Sie waren beide 23, als die deutsche Wehrmacht über Frankreich herfiel und seine Armeen vor sich her gegen Westen trieb. Das Land war auf diesen Krieg nicht vorbereitet.

      Ja, das war eine Schande, grübelte André in seiner Einsamkeit an diesem Abend nach der Generalversammlung der Segler. Die Erinnerungen