Schweizer Tobak. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301005
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bringen, doch gehöre Silvias Familie nicht dazu und jemanden dafür zu gewinnen koste unter Umständen sehr viel Geld.

      Von Silvia vernahm Elisabeth schliesslich, wie sehr sie seit wenigen Jahren vermutete, Konrad führe ein durchaus gefährliches Leben. Ganz gefahrlos sei das Leben besonders hier in São Paulo für Leute, die ein wenig über dem Durchschnitt verdienten und lebten, ohnehin nicht. Eine direkte Bedrohung hätte sie jedoch nie ausmachen können. Vielleicht habe er darüber einfach geschwiegen, um sie nicht allzu sehr zu ängstigen. Vielleicht habe er selbst gar nichts befürchtet und sei lediglich Opfer einer Verwechslung geworden. Er wäre niemals unbewaffnet in die Stadt gegangen und hätte sich immer von einem Chauffeur der Firma fahren lassen. Ausserdem sei er ohnehin oft über Wochen im Land herumgereist, um Tabakfarmen und Agenturen zu besuchen und Ernten einzukaufen. Auch dieses Geschäft sei gefährlich, weil sich die Farmer durch die Händler und Konzerne ausgebeutet fühlten. In diesem Kreis habe Konrad Freunde gefunden, so es wirklich Freunde waren, bemerkte sie dazu.

      Die Polizei vertrete jedoch hartnäckig die These vom Anschlag durch Schmuggler, weil dabei meistens inzwischen verschwundene Ausländer, Mitglieder einer mafiaähnlichen Organisation, beschuldigt werden konnten und niemand weiter nach einem Täter suchen musste.

      Als klar wurde, dass für Silvia und ihre Kinder eine Auswanderung in die Schweiz nicht in Frage käme, fragte Elisabeth sie nach ihren Plänen. Zum ersten Mal lachte Silvia ausgiebig und meinte, sie habe keine Pläne, sie werde einfach in etwa so weiterleben wie bisher und sehen, was die Zukunft bringe. Zum Glück hätten sie und ihre Familie viele Freunde und bräuchten sich daher nicht allzu viele Sorgen zu machen. Und wirklich fühlte sich auch Elisabeth in Silvias Umfeld gut aufgenommen, umarmt, geküsst und eingeladen. Bei allem fühlte sie einen grossen gefühlsbetonten Überschwang an freundschaftlicher Zuneigung. Schliesslich war Silvia bereit, mit ihr die schweizerische Botschaft zu besuchen, um Hilfe bei der Aufklärung der Hintergründe über Konrads gewaltsamen Tod zu erreichen. Sie wurden freundlich empfangen, mussten sich aber mit der leeren Versicherung trösten, man werde alles Menschenmögliche tun, doch seien solche Delikte so alltäglich, dass eine Aufklärung nur in wenigen Einzelfällen gelänge.

      Elisabeth flog zurück – ernüchtert.

      Irma liess sich alles erzählen und freute sich über die Bilder ihrer Enkel, die Elisabeth ihr brachte. Für Geburtstage und zu Weihnachten schickte sie weiterhin etwas Geld für Silvia und Geschenke für die Kinder und stets bedankte sich Silvia mit einem Brief in Portugiesisch, den sich Irma übersetzen liess.

      1996 heiratete Silvia einen Tabakfarmer und zog in die Nähe von Belize. Ihre Kinder, den nun erwachsenen Eduardo und Ines wie auch die zehnjährige Sonja liess sie zurück bei ihrer Familie in São Paulo.

      Irma traf diese Änderung hart. Sie befürchtete Schaden vor allem für die Entwicklung Sonjas und auch für die Beziehung der älteren Kinder zu ihrer Mutter, sie sorgte sich um die weitere Ausbildung ihrer Enkel und vermutete schlechte Chancen für deren Zukunft. Irma quälten immer wieder die durch die Medien kolportierten Geschichten über die Strassenkinder Brasiliens und sie bangte nach solchen Informationen oft tagelang um das Leben der zehnjährigen Enkelin. Danach wollte sie jeweils um jeden Preis etwas unternehmen, sie dachte gar an eine bezahlte und gut organisierte Entführung der Jugendlichen in die Schweiz.

      Elisabeth nervte nicht nur diese Idee, sondern auch die Tatsache, dass sich ihr Bruder André in Paris aus diesen Geschichten völlig heraushielt. Sie reiste dauernd zwischen München und Wirrwil hin und her und führte am Telefon mit ihrer Mutter endlose Gespräche.

      Neben der Sorge um ihre Enkel, besonders um Sonja, entwickelte Irma eine abgrundtiefe Wut gegen deren Mutter. Es half nichts, ihr zu erklären, dass diese Frau kaum 40 Jahre alt war, zu jung, um für den Rest ihrer Jahre ohne Mann zu leben. Irma meinte dazu, sie selbst lebe seit 52 Jahren ohne Mann, wo da das Problem liege? Und wenn schon, dann hätte Silvia wenigstens die Kinder mitnehmen oder sich einen Mann in ihrer Umgebung suchen können! Die 90-Jährige war untröstlich.

      Im Herbst 2001 starb Silvia auf ihrer Tabakplantage an Herzversagen. Grossmutter und Konrads Geschwister erhielten diese Nachricht von den drei Enkeln aus São Paulo, Ines hatte den Brief geschrieben. Silvia wurde in der Nähe von Belize begraben. Eduardo reiste hin, er kam aber zum Begräbnis zu spät. Er wollte jedoch mehr über die Umstände ihres Todes erfahren und musste sich mit dem, was Silvias Mann ihm erzählte, zufrieden geben. Silvia starb gemäss eines Arztzeugnisses trotz ihrer erst 44 Jahre an einem Blutgerinnsel mit nachfolgendem Infarkt. Mehr war laut Eduardo nicht herauszufinden. Er war jedoch überzeugt, dass sie dort im Norden wie viele andere Menschen an Überarbeitung, Tabak, Nikotin und an den mit Flugzeugen über die Felder gesprühten Pestiziden starb.

      Wie sehr die Kinder um ihre Mutter trauerten, war nicht auszumachen, gewiss wurde nicht jedes der drei Geschwister in gleichem Masse davon betroffen. Am meisten Sorgen machte sich die Grossmutter um die 15-jährige Sonja, doch Elisabeth beruhigte, sie sei in ihrer Sippe und in der Klosterschule gut aufgehoben. Irma kommentierte Silvias Tod mit: «Das ist die Strafe!»

      Als Konrad nach Brasilien auswanderte, war André 18 Jahre alt gewesen. Er wohnte als Jüngster, nur unterbrochen durch seinen dreimonatigen Sprachaufenthalt in Frankreich, noch etwas über zwei Jahre alleine bei seiner Mutter und der inzwischen 82-jährigen Grossmutter. Danach studierte er in Bern und kam nur noch selten zu Besuch. Die Geschwister pflegten unter sich kaum Kontakte, wenigstens nicht zu André.

      «Ich fühlte mich nie wirklich als Teil einer Familie. Als ich in den ersten Schuljahren war, waren meine Geschwister beinahe erwachsen. Es gab in unserem Haushalt keinen Mann, keinen Vater und meine Geschwister waren für mich weit weg, weit voraus, sie wohnten einfach bei uns und eigentlich bin ich in einer Frauenwelt aufgewachsen», hatte André seiner späteren Frau erzählt.

      Nur zu einem Mann entwickelte er so etwas wie ein Verhältnis zwischen Junge und Mann oder gar Vater: zu Lorenz Gramper, dem Strassenwischer aus dem kleinen katholischen Nachbardorf.

      Lorenz kam beinahe wöchentlich einmal vorbei, um nach dem grossen Gemüsegarten und den Blumenbeeten zu sehen und den Rasen zu mähen. Irma liebte zwar den Garten, aber nicht die dabei anfallende Arbeit. Der Gramper, so nannte sie ihn, verdiente sich damit ihrer Meinung nach ein gar nicht so kleines Zugeld. Jeweils im Frühling legte er die neuen Beete an, pflanzte das Gemüse, jätete aufkeimendes Unkraut zwischen den Blumen, schnitt die Sträucher, die Beeren, Obstbäume und das Aprikosenspalier an der Hausmauer. Im Herbst erntete er die Äpfel, Birnen und Zwetschgen, räumte die Beete und grub den Gemüsegarten um. Das alles machte er immer nach Feierabend und an Samstagen. André liebte es, ihm dabei zuzusehen und war oft eifrig bemüht, ihm zu helfen. Manchmal, wenn Irma Lorenz sauren Most, Brot, Käse und ab und zu eine Wurst zum Sitzplatz brachte, setzte sich der Kleine zu ihm und freute sich auf die Häppchen, die der Lorenz ihm überliess. Sogar von der rohen Zwiebel, die der Mann über alles liebte, liess er sich etwas geben. Lorenz gab ihm das Gefühl, auch ein Mann zu sein. Den Most verweigerte er dem Knirps.

      Von Lorenz lernte André die Namen der Blumen kennen, durch ihn erlebte er, wie die Amseln beim Umgraben auf die frei gewordenen Würmer lauerten, sie aus ihren Löchern zogen und zu den Nestern trugen. Er zeigte ihm die Blattläuse und wie sich die Ameisen darum kümmerten. Er schwärmte vom Rossmist für die Rosen und bedauerte die zarte Gesundheit dieser wunderbaren Blumen. Als sie blühten, liess er ihn die von Sorte zu Sorte unterschiedlichen Düfte riechen. Durch Lorenz erlebte André, wie die Katze Mäuse fing und danach mit ihnen ihr grausames Spielchen spielte.

      Anfänglich kam Lorenz auch zum Holzspalten, doch das war inzwischen vorbei. Nun wurde das Haus mit einer Ölfeuerung geheizt. Lorenz hatte im Garten die grosse Grube für den Öltank ausgehoben und dabei an einem gewaltigen Durst gelitten.

      Dabei bemerkte André zum ersten Mal in seinem Leben, wie sich ein Mensch veränderte, wenn er über den Durst trank. Lorenz redete langsamer, er lallte ein wenig mit der Zunge und die Worte verloren hin und wieder den Zusammenhang. Nein, betrunken war Lorenz in seiner Gegenwart nie, nur ein wenig angesäuselt, so nannte seine Mutter den Zustand jeweils nachsichtig lächelnd.

      Natürlich lernte André auch einige von Lorenz’ vielen Kindern kennen, vor allem die etwa gleichaltrigen Jungen Felix, Franz,