Schweizer Tobak. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301005
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      Er zog in das Haus, das seine Grosseltern gekauft hatten, als sie 1938 aus Deutschland zurück in die Schweiz kamen. André konnte sich im Gegensatz zu seinen Geschwistern nicht an seinen Grossvater erinnern, der im März 1945 kurz vor Hitlers Untergang gestorben war. Da war er neun Monate alt gewesen. Auch von seinem Vater wusste André nur, dass dieser kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner in München durch ein sogenanntes Volksgericht zum Tode verurteilt und unmittelbar danach erschossen wurde. Als Jugendlicher hatte ihn all das nur am Rand interessiert. Doch jetzt hatte ihn eine gewisse Neugier erfasst und er begann, Fotos aus seiner Jugend und seiner damaligen Umgebung zu suchen.

      Mit seinen Geschwistern hatte André, seit er in Frankreich lebte, wenig Kontakt gehabt. Als er noch zur Schule ging, arbeitete seine neun Jahre ältere Schwester in den 50er Jahren als begeisterte Freundin Israels in einem Kibbuz. Dort lernte sie einen jungen deutschen Archäologen kennen, der als Idealist im Hinblick auf die schreckliche deutsche Vergangenheit etwas zur Versöhnung mit den Juden tun wollte. Sie lebte in den Zeiten Gamal Abdel Nassers vor dem «Krieg der sieben Tage» in Kairo, und später, inzwischen verheiratet, in Deutschland in der Nähe von München, nicht weit von dem Ort, an dem ihre Eltern gewohnt hatten, als sie klein gewesen war. Sie war lange den Spuren ihres Vaters nachgegangen, hatte sich darüber aber nie verbreitet. Das nicht nur, weil sie niemand danach gefragt, sondern auch, weil ihre Mutter bis zu ihrem Tod mit ihrer Geschichte gehadert hatte. Sie sollte ihren Frieden finden, fand Elisabeth.

      Während André seinen «grossen» Bruder in gewisser Weise bewunderte, hatte er zu seiner Schwester damals eher ein gespaltenes Verhältnis gehabt. Sie behandelte ihn wie Mutter und Grossmutter, dabei war sie doch nur die Schwester. Ihretwegen musste er die Schuhe ausziehen, die Hände waschen, Klavier spielen, Schulaufgaben machen, er durfte am Tisch das Messer nicht in den Mund nehmen, nicht mit vollem Mund reden, hinter dem Hühnerstall kein Feuer machen und so weiter … Nicht einmal kühles Wasser aus Brunnenröhren durfte er trinken, ohne dass sie ihn kritisierte.

      Dabei hatte sie angeblich in der Schule immer die besten Noten gehabt, war ins Gymnasium gegangen, konnte Orgel spielen und war doch so unaussprechlich dumm!

      Später revidierte er sein Urteil stark, aber wirklich kennen gelernt hatte er seine Schwester nie, wie er Miriam sagte. «Vielleicht war sie wie du und ich habe dich als Zeichen der Versöhnung geheiratet», verstieg er sich Miriam gegenüber. Miriam fand die Idee nicht lustig.

      Konrad, Andrés um sieben Jahre älterer Bruder, machte eine Lehre bei einem Tabakhändler auf Staregg. 1963 gab sein Patron, der beinahe 70-jährige Bernard Gruber, sein Geschäft auf. Die Aussichten für die Zukunft erschienen ihm alles andere als rosig, eine Zigarrenfabrik nach der anderen kam in Bedrängnis, und sein Sohn, der mögliche Nachfolger, befand sich in einer psychiatrischen Klinik mit einer schweren, vermutlich unüberwindlichen Schizophrenie. Durch seine Verbindungen sah der mehr und mehr verbitterte und rasch alternde Mann jedoch für Konrad eine einmalige Karrierechance bei einem Tochterunternehmen der British American Tobacco-Gruppe in São Paulo. Konrad lockte das Abenteuer, umso mehr, als das Land mit der neuen Hauptstadt Brasília in aller Munde war.

      Er wanderte nach Brasilien aus und kam nur noch selten in die alte Heimat zu Besuch. Er schien dort eine gute Karriere gemacht zu haben. Mit 40 heiratete er eine beinahe 20 Jahre jüngere Brasilianerin, eine Studentin namens Silvia Brandao aus einem altehrwürdigen portugiesischen Geschlecht, wie er schrieb. Er lud seine Geschwister und die Mutter zur Hochzeit ein und bezahlte den Flug. Irma lehnte ab, sie war schon 70 und wollte nicht so weit fliegen. Es war das letzte Mal, dass Elisabeth und André ihren Bruder trafen. André flog ohne die schwangere Miriam hin. Er wäre gerne eine Weile geblieben, um das Land ein wenig kennen zu lernen, doch dies konnte er sich aus mehreren Gründen nicht leisten, auch, weil er Miriam nicht zu lange allein lassen wollte.

      Die sprachbegabte Elisabeth hatte im Hinblick auf die Hochzeit in München während Wochen in Privatstunden so viel brasilianisches Portugiesisch wie möglich gelernt und blieb daher durch alle Jahre die Kontaktperson für die Belange der «Brasilianer», doch ein gegenseitiger Besuch kam nie mehr zustande. Einer der Gründe war das unstete Leben, das Elisabeth mit ihrem Mann führte. Immerhin versuchte sie durch Lesen brasilianischer Bücher die Sprache nicht zu verlieren. Schon früh, als ihn in Europa noch kaum jemand kannte, las sie die brasilianischen Ausgaben der Werke von Paulo Coelho.

      Das damalige Hochzeitspaar sah gut aus und die grosse Verwandtschaft der Braut freute sich offensichtlich über das Glück ihrer Silvia. Das Leben nahm seinen Gang. Silvia und Konrad bekamen drei Kinder, Eduardo, Ines und Jahre später Sonja. Konrad schickte immer wieder Bilder von ihnen, er kam jedoch nie mehr nach Europa oder gar in die Schweiz. Irma war darüber untröstlich, ihre Enkel nie zu sehen und lehnte trotzdem eine Reise in das ferne Südamerika ab, sie fürchtete sich davor. Sie schickte zu Weihnachten und den Geburtstagen Geschenkpakete, erhielt dafür kurze Dankesbriefe von Konrad, Grüsse von Silvia und immer Bilder der Kinder. Irma machte sich dauernd Sorgen, weil Brasilien immer wieder als Land der Korruption, des Verbrechens und der Armut in den Zeitungen geschildert wurde. Doch beklagte sich Konrad nie, er schrieb auch nicht wirklich Briefe über sein dortiges Leben, aber die Familienbilder liessen selbst für schweizerische Verhältnisse auf einen guten Lebensstandard schliessen.

      1989 wurde Konrad angeblich von einem Kriminellen aus der Zigarettenschmugglerszene erschossen. Die Mitteilung – sie erreichte Konrads Mutter erst nach seinem Begräbnis – kam vom Schweizer Konsulat in Brasília und von der brasilianischen Gesandtschaft in Bern. Nähere Informationen waren der knappen Mitteilung nicht zu entnehmen. Erst danach kam auch ein Brief von Silvia in Portugiesisch. Konrad war offenbar im Auto aus nächster Nähe getroffen worden, der Chauffeur war Zigaretten holen gegangen und genau in diesen fünf Minuten kam der Killer, schoss und verschwand. Niemand hatte ihn gesehen, niemand hatte den Schuss gehört und der Chauffeur erlitt einen Schock, als er den Toten hinter der zertrümmerten Scheibe sah. Als Täter konnte er mit Sicherheit ausgeschlossen werden, vielleicht war er Mitgänger, spekulierte Silvia.

      Elisabeth wollte mehr erfahren und flog nach São Paulo, um ihre Schwägerin und deren Kinder zu besuchen und den Einzelheiten von Konrads Sterben nachzugehen.

      Sie wurde von der Schwägerin und ihrer grossen, beinahe ausnahmslos im gleichen Haus oder in unmittelbarer Nähe wohnenden Sippe freundlich aufgenommen, alle lebten in einer geschlossenen und streng überwachten Siedlung. Sie lernte die inzwischen halbwüchsigen, fröhlichen und gesund wirkenden Kinder Eduardo und Ines sowie die erst dreijährige Sonja kennen. Der Tod Konrads schien keine allzu grossen Spuren hinterlassen zu haben, von Trauer war nicht viel zu spüren. Elisabeth glaubte, bei den Kindern eher so etwas wie Wut über das Verbrechen und über die Unmöglichkeit, darüber etwas in Erfahrung zu bringen, auszumachen. Jeden Tag gäbe es Tote, auch unter den Kindern, manche würden gar von Polizisten erschossen, behauptete der zwölfjährige Eduardo.

      Der Lebensunterhalt der Familie war durch eine Rente der Firma fürs Erste einigermassen gesichert, allerdings nicht gegen den beinahe unaufhaltsamen Zerfall der Währung. Silvia und ihre Kinder waren durch die Heirat Schweizer geworden, doch dachte sie keinen Augenblick daran, mit ihren Kindern Brasilien zu verlassen und in die Schweiz zu kommen. Sie sprach ihr Portugiesisch sehr schnell und durchsetzt von vielen lokalen Ausdrücken und so waren die Möglichkeiten der Verständigung mit ihr trotz Elisabeths Kenntnissen der Sprache begrenzt. Eduardo und seine Schwester Ines besuchten eine katholische Schule, sie sprachen bereits ein wenig Englisch, jedoch kaum Deutsch ausser ein paar Scherzwörtern, die ihnen Konrad beigebracht hatte.

      Um eine einigermassen ergiebige Unterhaltung über die Situation und Zukunft der Familie zu erreichen, besuchten Elisabeth und Silvia mit den Kindern gemeinsam die Direktrice der Schule, eine Ordensschwester. Dabei sah Elisabeth ein, dass sie sich hier in schwierigem Gelände bewegte. Es machte keinen Sinn, Konrads Verwicklungen nachzugehen, die zu seinem Tode geführt hatten. Im Gegenteil, die fromme Frau riet ihr, sich nur innerhalb von Silvias einigermassen gesichertem Umfeld und nie ohne Schutz durch eine vertrauenswürdige, wenn möglich männliche Begleitung, in der Stadt zu bewegen. Auf die Polizei sei kein Verlass, allfällige Nachforschungen ausserhalb des offiziellen Pfades aussichtslos bis gefährlich. Am meisten würde der Einsatz der schweizerischen Botschaft bringen, doch seien gewisse Stellen überzeugt, dass es enge Verbindungen zwischen der Schweiz,