Schweizer Tobak. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301005
Скачать книгу
und Kollegen, Freunden und Freundinnen. Sein ohnehin ansehnliches Einkommen rundete er zusätzlich stundenweise in Privatschulen auf. Er hatte ein gutes Leben, trotzdem …

      Mit 28 Jahren lernte er in einer seiner Klassen die 18-jährige Französin Miriam kennen, eine junge Musikerin, die einen Jahreskurs am Berner Konservatorium belegte und bei André ihr noch sehr fragiles Deutsch aufbessern wollte. Zu seiner eigenen Bestürzung, wie er später immer wiederholte, glaubte er, ohne sie nicht leben zu können. Er folgte ihr nach Versailles, wo ihre Eltern lebten und weiter nach Paris, wo sie zusammenzogen, fand dort anfänglich an verschiedenen privaten Instituten stundenweise Anstellungen als Deutschlehrer und machte sich damit vertraut, dort zu bleiben. André und Miriam heirateten und bekamen zwei Kinder.

      Die Weltstadt lebte in Aufbruchstimmung, der Algerienkrieg war längst überwunden und de Gaulle zog sich nach Colombey-les-deux-Eglises zurück. Paris begann die Zukunft zu planen. Es entstanden das von vielen Franzosen geschmähte Centre Pompidou, im Vorort Défense die französische Version von Lower Manhattan, an Stelle der fehlgeplanten Schlachthöfe Park und Museum der Villette und schliesslich der neue Bahnhof Montparnasse. Zwischen Paris und Marseille wurde die erste TGV-Linie geplant und gebaut.

      Im Lauf der Jahre schaffte André den nicht einfachen Zugang zu Pensa in staatlichen Mittel- und Hochschulen, nicht im Hauptfach Germanistik, sondern vorwiegend für angehende Ingenieure, Chemiker, Biologen, Mathematiker, Physiker und so weiter, die sich mit Deutschkenntnissen bessere Start- oder Karrieremöglichkeiten versprachen.

      Allerdings blieb Deutsch trotz der von de Gaulle und Adenauer durch den Freundschaftsvertrag vorangetriebenen Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich für die meisten Franzosen eine wenig beliebte Fremdsprache. So musste André über Jahre immer wieder um sein Budget bangen und kämpfen. Andererseits wollte ihm niemand seine Jobs streitig machen. Es gab kaum kompetentere Anwärter für dieses Fach auf seiner Stufe. Immerhin entwickelte sich sein Einkommen zwar nie überwältigend, aber durchaus ansehnlich.

      In der Schweiz hätte er weit mehr verdient. Doch Miriam verdiente als Musiklehrerin an einem Lyzeum und mit stundenweise Privatunterricht meist so viel oder gar mehr wie er, trat in wechselnden Orchestern auf und brachte es da und dort gar zur ersten Violinistin mit bescheidener Gage. Sie war überzeugt, in der Schweiz keine Chance zu haben und konnte sich ein Leben in diesem kleinen Land schlicht nicht vorstellen.

      Ihre Kinder, die beiden Mädchen Corinne und Nadine, fuhren hin und wieder zur Grossmutter in die Schweiz, lernten jedoch zum Leidwesen des Vaters nur ein sehr oberflächliches Deutsch. Sie fanden die Sprache kompliziert, Papas Vorhaltungen «déplacé» und das Schweizerdeutsch sorgte zusätzlich für Verwirrung, meinten sie, als sie grösser wurden. Andere Kontakte gab es nicht sehr viele. Zwar gab es eine grosse Sympathie von Andrés Mutter Irma Miriam gegenüber, doch mehr als einmal pro Jahr sah man sich nicht.

      Um das Jahr 2000 wanderte die ältere Tochter mit ihrem Freund nach Kanada aus und die jüngere heiratete einen Ingenieur, der in Toulouse für den Airbus arbeitete, mit dem sie in den Süden Frankreichs zog.

      Ein Jahr danach hatte Miriam ihren Mann endgültig zur Scheidung gedrängt. Die beiden hatten über viele Jahre eine mehr oder weniger liebevolle, später eine eher emotionslose, aber weitgehend spannungsfreie und zuletzt eine ziemlich gleichgültige Ehe geführt, obwohl sie sich, wie er glaubte, nie ganz aufgaben.

      Mit dem endgültigen Weggang der Töchter sah Miriam keine Zukunft mehr in dem doch ziemlich oberflächlich gewordenen gemeinsamen Leben, zudem – sie war kaum 50. Zehn Jahre Altersunterschied machten sich für sie mehr und mehr bemerkbar. Sie konnte sich einen Mann, der in wenigen Jahren zu Hause sass, während sie arbeitete, nicht vorstellen. Auf ihr Drängen hin verkaufte er ihr seinen Anteil an der Wohnung und mietete sich eine bescheidene Bleibe. Miriam war zwar nicht reich, aber ihre Eltern hatten der einzigen Tochter ein ansehnliches Erbe hinterlassen. Miriam sah in all dem die Chance zu einem Neuanfang für ihre letzten aktiven Jahre und, so meinte sie etwas herablassend, vielleicht auch für ihn. Er besass jetzt etwas Geld, mit dem er sich ein neues Leben einrichten sollte, fand sie.

      2003, ein Jahr nach der offiziellen Scheidung, starb Andrés Mutter in der Schweiz im Schmauchtaler Altenheim. Obwohl sie ihr Haus, in dem sie ihr Leben verbracht hatte, nicht mehr bewohnen konnte, hatte sie sich geweigert, es zu verkaufen. Andrés älterer Bruder Konrad war vor Jahren in Brasilien umgekommen und die kinderlose Schwester Elisabeth, die älteste der drei Geschwister, seit einigen Jahren Witwe, wohnte im Haus in München, in dem sie mit ihrem nach einem schweren Krebsleiden verstorbenen Mann ihr Leben verbracht hatte, sie war am Elternhaus nicht interessiert.

      Seit dem Begräbnis seiner Mutter spielte André mit dem Gedanken, seine Jahre als Rentner in der Schweiz zu verbringen. Eigentlich hielt ihn in Paris nichts mehr wirklich zurück. Er hatte viele Kollegen, vielleicht auch Freunde, ihm gefielen die Stadt, das Gefühl von Freiheit und das unermüdlich pulsierende Leben in ihr, doch fühlte er sich nicht als Franzose. Frankreich war nicht seine Heimat. Seine Heimat waren der See und die Dörfer seiner Kindheit.

      Am 6. Juni 2004, an seinem 60. Geburtstag, bereiteten ihm seine Studentinnen, Studenten, Kolleginnen und Kollegen einen beinahe rührenden Abschied. Hätte er nicht schon alles in die Wege geleitet, er würde vielleicht gezögert haben, nur wenige Tage danach wegzufahren. Der Leiter des Instituts hielt eine kurze Rede, in der er die Brücke zu den grossen Feierlichkeiten in Erinnerung an die Landung der Alliierten in der Normandie vor 60 Jahren und seinem Geburtstag schlug und meinte, auch André habe einen grossen Beitrag zur Überwindung der Feindschaft und Vernarbung der Wunden zwischen Deutschland und Frankreich geleistet. André selbst hatte diesen Zufall nie übersehen, ihn aber nie zum Anlass genommen, darüber zu reden.

      Er verliess die Stadt nicht ganz ohne Wehmut. Hunderten, eher Tausenden von jungen Leuten hatte er während rund 30 Jahren mit mehr oder weniger Erfolg seine Muttersprache zu vermitteln versucht, ihnen von einer für sie fremden Kultur erzählt, über die elenden Kriege gesprochen, die Deutschland und Frankreich immer wieder entzweit und auch in fast allen Ländern Europas unaufhörlich jeder Generation alles zerstört hatten. Er hatte versucht, ihnen die grosse Idee von Europa als Friedensprojekt verständlich zu machen und sie dafür zu begeistern. Er hatte mit ihnen geistige Streifzüge durch Geschichte, Völker, Bücher, Bilder und Landschaften dieses Kontinents unternommen, während er auch Rechtschreibung, Interpunktion, Grammatik und Semantik vermittelte, unregelmässige Verben und Flexionen paukte, in einem Land, in dem diese Sprache nicht zu den beliebtesten zählte. Zugegeben, er konnte wenig tun, aber das Wenige hatte er getan. Viele dieser jungen Leute schrieben ihm auch nach 20 und mehr Jahren Grusskarten zu Weihnachten und Neujahr.

      Andererseits wurde ihm durch die Trennung und Scheidung von Miriam erst bewusst, wie wenig Menschen in diesem Land zu seinen Freunden zählten. Es gab Dutzende wunderbarer Kollegen und Kolleginnen, gute Bekannte im Haus, in dem sie durch all die Jahre gelebt hatten, doch Letztere waren alle keine Freunde, mindestens nicht seine Freunde, wenn schon, standen sie eher Miriam nahe. Das war für ihn eine bisweilen traurige Einsicht, und sie beförderte seine Idee, das Land zu verlassen. Vielleicht war es auch seine noch immer spürbare Fremdheit gewesen, die Miriam letztlich bewogen hatte, die Scheidung zu suchen.

      Es half ihm nichts, wenn Miriam ihm vorhielt, sein Fremdsein sei allein seine Schuld, er hätte sich eben um Freundschaften zu wenig bemüht. Er konnte dies nicht nachvollziehen. Für ihn gab es, vermutlich durch seine Herkunft und letztlich trotz aller flüssigen Beherrschung auch durch die Sprache so etwas wie einen Graben. Dieser Graben trat immer wieder hervor, wenn von Deutschland oder von Europa die Rede war. Es half nichts, wenn er hin und wieder darauf hinwies, Schweizer zu sein. Die jungen Leute hatten ohnehin die Idee, «la Suisse» sei etwas Französisches und die Deutschschweiz so etwas wie ein Anhängsel, ein Unikum – négligeable. Er liebte Frankreich, vor allem Paris und seine Menschen, und wurde dennoch kein Franzose. Er kannte die Geschichte der Aufklärung und der französischen Revolution durch sein Studium besser und vertiefter als mehr oder weniger alle Leute seiner täglichen Umwelt, dennoch oder gerade deswegen blieben die Menschen dieses Landes – ausser seinen Studenten – auf einer durchaus respektvollen, von ihm jedoch oft bedauerten Distanz.

      Ausser seinen vielen Büchern, ein paar Bildern und wenigen Dingen, die ihm durch die Jahrzehnte teuer geworden