Schweizer Tobak. Albert T. Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albert T. Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907301005
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gebrachten vergilbten Briefumschlag aufmerksam wurde.

      Er dachte sich nicht viel, als er ihn aufbrach und aus lauter Neugier zu lesen begann. Geschrieben worden war er von Emma, Lukas› Mutter, vermutlich kurz bevor sie starb. Sie sorgte sich um die Zukunft ihres ersten Sohnes, falls sie sterben sollte und bat den Empfänger, sich nach ihrem Tod um Lukas zu kümmern, denn sie wisse nicht, ob ihr Mann dazu in der Lage sein würde oder dies wirklich wolle.

      Dieser Bitte und den Zweifeln gegenüber ihrem Mann folgte kurz und klar die traurige Geschichte von dem Verbrechen, das ihr Vater ihr angetan hatte. Göpf war nicht nur ihr eigener, sondern auch Lukas› Vater. Sie vermochte die Blutschande nicht offen zu legen, fürchtete sich auch vor ihrem Vater und fasste Mut, als Melch ihr versprochen hatte, ein guter Mann zu sein.

      Die alte Stine hatte das Geheimnis gekannt, die Gefahr geahnt und versucht, ihr Grosskind zu schützen und kam doch zu spät. Es war Stines Idee gewesen, Melch zur Annahme des Kindes und zur Heirat mit Emma zu überreden und ihm dafür das Erbe der Familie in Aussicht zu stellen. So würde er zu einer guten Partie kommen, früher oder später sein eigener Herr sein und nicht als elender kleiner Knecht auf Lebzeiten für sein notgedrungen sehr bescheidenes Auskommen rackern müssen. Was weder die Stine noch der Göpf wussten: Melch mochte Emma, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte.

      Franz fühlte sich durch diesen Brief überfordert. Sein erster Impuls war, ihn zu vernichten. Er fürchtete jedoch, auf Dauer mit dem Wissen nicht ruhig leben zu können. Er wollte auch nicht mit Melch darüber reden. Er besprach sich mit Felix und der meinte, der Brief gehöre dorthin, wo die Emma ihn hatte haben wollte. Er steckte ihn kommentarlos in einen grösseren Umschlag ohne Absender und brachte ihn zur Post.

      Der zuständige Gemeinderat bestellte Melch zu einem Gespräch. Der alte Melch soll, so später das Gerücht, nach diesem Treffen stundenlang geweint haben.

      1967 verkaufte Melchior den Stadelhof an Hannes Brand. Franz, inzwischen Vater zweier Kinder, könne Pächter bleiben, schlug der neue Besitzer vor und versprach, in den kommenden Jahren mehr Land zu kaufen und eine neue richtig grosse Scheune bauen zu lassen.

      Melch sicherte sich und Lukas mit dem Geld eine Rente. Er lebte noch fünf Jahre. 1971 verunglückte der 80-Jährige tödlich beim Holzschlag im Gemeindewald, er konnte nicht ohne Arbeit sein. Lukas starb kurz danach an Herzversagen, so schrieb es der Doktor als Ursache.

       Wirrwil

      Das Dorf war seit den Zeiten der Reformation und der Glaubenskriege die grösste Gemeinde der Region und beherbergte schon Anfang des 20. Jahrhunderts Dutzende grösserer und kleinerer Fabriken, in denen Zigarren gewickelt wurden. Daneben etablierten sich andere Industrien verschiedenster Branchen, die sich teilweise zu beachtlicher Grösse entwickelten. Auch hier waren die Löhne, besonders in den Anfängen, zwar bescheiden, doch leicht höher als in der Tabakbranche, denn diese Firmen beschäftigten mehrheitlich eine zwar nicht besonders ausgebildete, der schwereren körperlichen Arbeit wegen aber vorwiegend männliche Arbeiterschaft.

      Somit lebte der Grossteil der Bevölkerung auch in diesem an sich industriefreundlichen Dorf überwiegend in sehr bescheidenen, wenn nicht ärmlichen Verhältnissen, in denen bis ins 20. Jahrhundert Kinderarbeit zum Alltag gehörte. Letzterer galt die Aufmerksamkeit der Doktorandin Clara Wirth aus Sankt Gallen, deren Dissertation die Kinderarbeit in der gesamten Region zum Thema hatte. Ihr hätte der Name Schmauchtal mit Sicherheit gefallen, doch leider hatte sie die Erfindung der Studenten von Achstadt nicht erlebt.

      Nicht zuletzt auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung und ihren Kindern war eine sehr einflussreiche, wenn nicht mächtige Kaste von Fabrikanten entstanden, die in prachtvollen Villen residierten, deren Damen sich von Mägden bedienen und von Stallknechten in Chaisen und später von Chauffeuren in Automobilen herumfahren liessen. Trotzdem konnte von feudalen Verhältnissen nicht die Rede sein. Im Gegenteil, der liberale Glaube an den Fortschritt und der weltoffene Geist der reformierten Unternehmer begründeten für ein ganzes Jahrhundert den Weg zu Prosperität nicht nur der Gemeinde, sondern der ganzen Region. Sie förderten den frühen Bau einer Eisenbahn und damit den Anschluss ans Verkehrsnetz des Landes.

      Immer wieder war der soziale Frieden gefährdet, waren Streiks und Aussperrungen keine Seltenheit. Doch im Ganzen gesehen veränderte sich die Gesellschaft zum Guten. Selbst die von vielen angefeindete Doktorandin konnte nicht übersehen, dass die Gemeinde noch vor dem Ersten Weltkrieg ein neues grosses Schulhaus mit einer grosszügigen Turnhalle – in jenen Jahren keine Selbstverständlichkeit – gebaut und eine Berufsschule für die meisten handwerklichen Berufe gegründet hatte. Allerdings blieb ihr auch nicht verborgen, dass die Kinder der Kleinverdiener damals kaum die Sekundarschule schafften und die jungen Männer in den meisten Fällen als Hilfsarbeiter und die Frauen bestenfalls als angelernte Zigarrenmacherinnen endeten.

      Die Schüler der höheren Klassen waren in aller Regel Söhne und Töchter der Krämer, Handwerker, Fabrikaufseher und Vorarbeiter, der Büroangestellten und selbstverständlich der Fabrikanten. Nur Einzelne dieser mehr oder weniger durch ihre Herkunft privilegierten Gruppe schafften danach den Eintritt in die Mittelschule in Achstadt.

      Um die Wende zum 21. Jahrhundert war das graue Vergangenheit. Es gab mit zwei Ausnahmen, nämlich je einer in Wirrwil und Kreuzach, in der gesamten Region keine Zigarrenfabriken mehr. Auch viele der übrigen grösseren Industriebetriebe waren in den letzten Jahrzehnten verkümmert oder eingegangen. In Wirrwil allein gingen Hunderte von Arbeitsplätzen verloren. An ihre Stelle waren neue, vorwiegend kleine Betriebe für Spezialitäten und Dienstleistungen getreten. Ein Grossteil der arbeitenden Bevölkerung fuhr inzwischen als Pendler jeden Morgen mit der modernisierten schnellen Strassenbahn oder im eigenen Auto zur Arbeit in und um Achstadt oder zu noch weiter entfernteren Stellen.

      Erstaunlicherweise hatte die Zahl der Einwohner trotzdem leicht zugenommen. Das Dorf hatte sich zu einer Gemeinde mit guter Infrastruktur, modernen Einkaufsmöglichkeiten, Sportanlagen, Kinos und einem Saal für kulturelle Anlässe gemausert. In den 80er Jahren wurde an der Dorfgrenze zu Kreuzach ein erstaunlich grosszügiges, der gesamten Region offenstehendes Wohnheim für Rentner gebaut.

      Dank der Nähe zum Dorf hatte sich an dem Bau ausnahmsweise auch die katholische Gemeinde Kreuzach beteiligt. Das war übrigens nicht die einzige Ausnahme. Auch bei der Wasserversorgung, der gemeinsamen Feuerwehr und bei der Erschliessung von Bauland durch Eindeckung des Kreuzbaches konnte man sich einigen. Letzteres hatte sich vor allem durch den Anschluss des Dorfes an die regionale Abwasserreinigungsanlage aufgedrängt und war ein Projekt, das alle Gemeinden rund um den See einschloss. Nur so wurde es möglich, den See als Ganzes zu sanieren.

      Als Nächstes wurde der Bau einer regionalen Schulanlage insbesondere für die höheren Klassen geplant. Eine Beteiligung Kreuzachs war bei der katholischen Bevölkerung sehr umstritten. Reformierte Lehrer waren der Mehrheit im Dorf trotz aller in den letzten hundert Jahren eingeübten Toleranz noch immer suspekt. Nur wenige Einwohner erinnerten an frühere Zeiten, in denen Mama Brand und ihre Söhne noch Einfluss hatten. Niemand hätte damals daran gedacht, sich von diesem grossen Unternehmen fernzuhalten und die Sekundarschüler per Bus ins bedeutend weiter entfernte Pfaffwil zu schicken.

       André Werths Heimat

      André war einer jener Studenten, die im feuchtfröhlichen Überschwang die Region mit all ihren vergangenen Tabakfabriken in und um Wirrwil Schmauchtal getauft hatten. Er war wohl der Einzige, der diese Erfindung nicht vergass.

      Er selbst war auf den Namen Andreas getauft worden. Der Schweizer Bürger mit süddeutschen Wurzeln, in Wirrwil aufgewachsen, wurde als junger Mann Sekundarschullehrer für Deutsch, Französisch und Geschichte. Während seines Studiums verbrachte er mehrere Monate in Frankreich, um sein Französisch zu vertiefen und alltagstauglich zu machen. Er dachte jedoch nie daran, sein Leben dort zu verbringen, liess sich von da an aber trotzdem André rufen. Er begann seine Zeit als Lehrer in Bern, beinahe unberührt vom Aufbruch der jungen Leute in den späten 60er Jahren. Bern bekam in jenen Jahren einen neuen Bahnhof und im Bundeshaus ärgerten sich die etablierten Politiker über