Die Prämonstratenser. Ulrich Leinsle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Leinsle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783170323919
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in monastischen Mischformen wie den Kartäusern und Kamaldulensern niederschlug.

      Ein Meilenstein in der Kanonikerreform war die Lateransynode 1059, die u. a.von Archidiakon Hildebrand, Kardinal Petrus Damiani (um 1006–1072) und Bischof Anselm II. von Lucca (1036–1086) durchgeführt wurde, der in seiner Diözese das Domkapitel reformierte. Auch in Rom hatte sich eine Gemeinschaft von Klerikern gebildet, die nach dem Muster der Urgemeinde von Jerusalem in völliger Gütergemeinschaft lebte und darauf Profess ablegte.14 Im vierten Kanon der Synode wurde verlangt, alle Kleriker hätten neben der Kirche, für die sie geweiht worden sind, gemeinsam zu schlafen und zu essen, weiterhin alles, was ihnen von der Kirche zukommt, gemeinsam zu besitzen und sich zu bemühen, zu einem gemeinsamen Leben nach Art der Apostel zu gelangen.15 In der Praxis wurde allerdings den Dom- und Stiftsherren weiterhin ihre Präbende zugestanden. So entwickelte sich die Unterscheidung unter den Kanonikern in die canonici saeculares, die bepfründet waren und oft ihren eigenen Haushalt hatten, und die canonici regulares, die in Gütergemeinschaft eine vita apostolica in Armut, Keuschheit und Gehorsam nach einer Regel führten.

      Die Übernahme der Augustinusregel war jedoch nicht das einzige Kennzeichen der neuen Kanonikergemeinschaft. Neben ihr finden sich in den Kanonikergemeinschaften weitere normative Texte, vor allem die jeweiligen Consuetudines und Zeremonienbücher. Das frühe Reformzentrum St-Ruf bei Avignon übernahm z. B. erst um 1080 die Augustinusregel in Form des Praeceptum, aber noch verbunden mit den sog. Consensoria monachorum aus dem 7. Jahrhundert.16 Die Consuetudines wurden für die Ausbreitung der Reform von einem Zentrum aus sehr bedeutsam, auch über den engeren Verband hinaus. So finden sich die Consuetudines von St-Ruf u. a. in Passau (St. Nikola) und im schwedischen Lund.17 Die Kanonikerreform sollte eine allgemeine Klerusreform einleiten. Dem diente auch die Ausbreitung eines Verbandes in mehrere Diözesen und Kirchenprovinzen, wie es beispielhaft an dem nach cluniazensischem Modell organisierten Verband von St-Ruf (mit Abt, Großprior und zahlreichen Prioraten in Südfrankreich und Katalonien) zu sehen ist.

      Ein Zentrum der Kanonikerreform anderer Art war St-Victor vor Paris.18 Im nördlichen Frankreich waren St-Martin-des Champes in Paris (1059/60) und St-Quentin in Beauvais (1067) die ersten reformierten Kanonikerstifte, letzteres geleitet vom nachmaligen Bischof Ivo von Chartres (um 1040–1115). Auch bei St-Victor handelt es sich um eine kleine Kirche vor den Mauern der Stadt, allerdings in der Nähe zum König und dem geistigen Zentrum, den Schulen von Paris. An diese Kirche zog sich wohl 1111 der Archidiakon der Kathedrale von Paris und gefeierte Magister Wilhelm von Champeaux († 1121) zurück, um dort seinen Unterricht mit einem gemeinsamen Leben mit den Scholaren zu verbinden.19 Dank großzügiger Schenkungen und der königlichen Bestätigung von 1113 entwickelte sich aus dem Kloster das Stift St-Victor, das nach 1130 zum Mittelpunkt eines Kanonikerverbandes wurde, der nach zisterziensischem Muster mit einem Generalkapitel und Tochterstiften organisiert war. Noch bedeutender aber wurde der geistige Einfluss durch die berühmte theologische Schule mit den Kanonikern Hugo, Richard, Adam und Andreas, die nicht nur die scholastische Theologie, sondern auch die Bibelwissenschaft, die Spiritualität und die Dichtung entscheidend bereicherte.20

      Im südlichen Deutschland waren die Bischöfe Altmann von Passau (1065–1091), Gebhard von Salzburg (1060–1088) und dessen Nachfolger Konrad I. (1106–1141) um die Reform der Kanonikerstifte bemüht.21 Unter Bischof Altmanns Einfluss gründete Herzog Welf I. von Bayern 1073 das Stift Rottenbuch, das zu einem Zentrum der Reform wurde. Dorthin zog sich auch Manegold von Lautenbach, in Paris ausgebildet, zurück, bevor er 1094 Prior des neugegründeten Stiftes Marbach im Elsass wurde und dieses dank seiner Consuetudines wieder zum Zentrum eines Netzwerkes von Reformklöstern machte. Nach Rottenbuch floh 1120 auch der ehemalige Augsburger Domscholaster Gerhoch von Reichersberg (1092/93–1169), der dann als Propst von Reichersberg (ab 1132) für die Kanonikerreform wirkte.

      Ordo antiquus – Ordo novus: Zwei kanonikale Lebensweisen

      Die Vielgestaltigkeit der Kanonikerreform brachte innerhalb der Bewegung eine weitere Differenzierung hervor. Manchen Kommunitäten genügte das flexible Praeceptum der Augustinusregel als Grundlage nicht, sondern sie orientierten sich zusätzlich am Ordo monasterii. Das Praeceptum longius übernahmen z. B. die Kanoniker von Arrouaise, eine Kanonikerkongregation, die um 1190 aus einer Eremitenkolonie entstanden war und unter der Leitung des späteren Kardinals Kuno von Preneste († 1127) stand.22 In derselben Fassung übernahmen die Kanoniker von Springiersbach, ebenfalls eremitischen Ursprungs, die Augustinusregel.23 Möglicherweise erhielt auch Gerhoch von Reichersberg 1126 in Rom von Norbert von Xanten ein Exemplar des Praeceptum longius für Rottenbuch, wo die strengere Form aber abgelehnt wurde.24 Schon 1121 ließ sich Bischof Konrad von Salzburg ein Exemplar des Praeceptum longius aus Klosterrath (Rolduc) kommen, um die strengere Observanz in seiner Diözese einzuführen.25 Oft ist jedoch nicht feststellbar, welche Regelform in der jeweiligen Kommunität verwendet wurde.

      Traditionell werden die Regularkanoniker des 11. und 12. Jahrhunderts je nach Regelgebrauch unterschieden in den Ordo antiquus mit dem Praeceptum oder der Regula recepta, d. h. dem Praeceptum mit vorgeschaltetem erstem Satz des Ordo monasterii (»Vor allem, geliebte Brüder, soll Gott geliebt werden, sodann der Nächste. Denn das sind die Hauptgebote, die uns gegeben sind«26), und den Ordo novus mit dem Praeceptum longius. Die ausschließliche Bestimmung der beiden Lebensweisen nach den verwendeten Regeltexten greift aber, wie jüngere Forschungen herausgearbeitet haben, zu kurz, insbesondere wenn mit »alt« und »neu« Werturteile verbunden werden.27 Dies zeigt nicht zuletzt die Auseinandersetzung um die Regelfrage in den Jahren um 1120. Abt Pontius von St-Ruf (1116–1125) und Bischof Walter von Maguelone (1104–1129) brachten in ihren Briefen gegen den Ordo novus keineswegs eine laxe Gesinnung zum Ausdruck, sondern wehrten sich dagegen, ein Gesetz übernehmen zu müssen, »das weder unsere Vorfahren noch wir je tragen konnten« (vgl. Apg 15,10). Pontius wies aus Bibel, Kirchenvätern und kanonikaler Tradition die Berechtigung des Ordo antiquus nach. Er sah sich mit seinen Kanonikern auf einer Ebene und wollte sich nicht in die Höhen der extremen Asketen versteigen. Walter von Maguelone sah seine Observanz ganz in der Tradition der Römischen Kirche und wies die bisher unbekannten Neuerungen der radikalen Reformer fast in die Nähe von Häresie und Schisma.28

      Eine zeitgenössisch näherliegende Unterscheidung der Kanoniker nach Weltnähe und Weltferne bietet der Libellus de diversis ordinibus et professionibus qui sunt in aecclesia (vor 1126), indem er drei Kategorien unterscheidet: Kanoniker, die sich fern der Welt ansiedeln, wie in Prémontré und St-Josse-au-Bois, solche, die sich in der Nähe von städtischen Zentren niederlassen, wie St-Victor in Paris und St-Quentin in Beauvais, und schließlich die sog. canonici saeculares, die in den Städten wohnen und dort an Kirchen tätig sind.29 Angesichts der oft unsicheren Regelobservanz sollten deshalb bei der näheren Bestimmung eines Chorherrenstiftes im Hinblick auf Ordo antiquus und Ordo novus auch eremitischer Ursprung und Seelsorge als Kriterien berücksichtigt werden.30

      Über Norberts Leben bis zu seiner Erhebung zum Erzbischof von Magdeburg (1126) sind wir nur durch wenige zeitgenössische Dokumente und drei narrative Quellen unterrichtet: die beiden hagiographischen und identitätsstiftenden