Die Prämonstratenser. Ulrich Leinsle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Leinsle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783170323919
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Gregorianische Reform

      Die Kirchenreform des 11. Jahrhunderts beinhaltet ein Reformprogramm mit verschiedenen Stoßrichtungen, aber einer gemeinsamen Grundlage: Wiederherstellung der ursprünglichen »apostolischen« Lebensweise der frühen Kirche, in der man einen Idealzustand erblickte. Dazu gehörte nicht nur die Loslösung der Kirche von weltlichen Herrschaften, die dann im sog. Investiturstreit zwischen Papst und Kaiser gipfelte, sondern auch ein neues Modell des kirchlichen Zusammenlebens in »apostolischen« Gemeinschaften, das besonders den reformbegeisterten Teil des Adels erfasste.5

      Reformen in der Kirche haben es an sich, dass sie die bestehenden Verhältnisse abwerten, als »Verfall« hinstellen und – meist rückwärtsgewandt – eine »Erneuerung« aus dem Geist der Vorzeit oder Urzeit im Sinne einer Normativität des Ursprungs anstreben. Tatsächlich wird bei solchen Reformen aber nicht eine vergangene Zeit wiederhergestellt, sondern aus dem Rückgriff auf Vergangenes etwas Neues geschaffen. Insofern bedeuten Reformen meist auch eine Modernisierung und lassen sich aus der Sicht der Reformer als »Erfolgsgeschichten« lesen.

      Im Mittelpunkt der Gregorianischen Reform stand vor allem das Leben der Kleriker als unmittelbare Träger und Repräsentanten der Kirche.6 Zu den zu beseitigenden »Missständen« zählte in den Augen der Reformer die im niederen Klerus verbreitete Priesterehe (Konkubinat, als »Nikolaitismus« nach Offb 2,6 bezeichnet). Zu diesem Zweck wurde in mehreren Synoden, z. B. Pisa 1022, der Zölibat der Kleriker mit Höheren Weihen eingeschärft, konnte aber nicht restlos durchgesetzt werden. Ein weiterer Kampf richtet sich gegen die Käuflichkeit geistlicher Ämter, Sakramente und Dienste, zumal aus Laienhand (Simonie nach Apg 2,8–24). Simonie wurde ebenso wie Nikolaitismus als Häresie gewertet. Der Kampf gegen die Laieninvestitur war eng damit verknüpft, d. h. die Einsetzung von Bischöfen durch die Landesherren – z. B. durch den Kaiser, die Könige von England und Frankreich – und die Verleihung von Kirchen durch die adeligen »Eigenkirchenherren«. Unter dem Schlagwort der »Freiheit der Kirche« wurde dieser Konflikt zum Ringen um die Vorherrschaft von Kaiser oder Papst. Letztlich ging aber das Papsttum gestärkt und in großem Selbstbewusstsein aus den jahrzehntelangen Auseinandersetzungen hervor, die mit den Konkordaten mit England und Frankreich 1107 und dem Wormser Konkordat 1122 beigelegt wurden. Das neue Selbstbewusstsein zeigte sich u. a. in einer Ausweitung des päpstlichen Primats, ausgeführt meist durch Legaten, in der Zurückdrängung des römischen Adels und der Unterstellung der Metropoliten unter die päpstliche Zentralgewalt.

      Die Kanoniker

      Die Kanoniker an den Dom- und Stiftskapiteln bildeten nicht nur einen herausragenden Teil des Klerus, sondern sie waren oft auch in die Leitung von Diözesen oder Sprengeln einbezogen. Die bis ins 11. Jahrhundert bestimmende Regelung ihrer Lebensweise war die sog. Aachener Regel (Institutiones Aquisgranenses). Ihr ging die Regel des Bischofs Chrodegang von Metz (742–766) für das gemeinsame Leben der Kleriker an seinem Bischofssitz voraus. An Benedikts Mönchsregel orientiert, gestattete diese den Kanonikern Verfügungsrechte über die in die Kirche eingebrachten und ihnen wieder zur Verfügung gestellten Güter und Mittel und die Führung eines eigenen Haushalts. Gemeinsam waren Chorgebet, Arbeit, Refektorium (Speisesaal) und Dormitorium (Schlafsaal) in Klausur.7

      Die Reichssynode von Aachen 816 widmete sich u. a. der Neuordnung des monastischen Lebens. Dabei wurden Mönche und Kanoniker klar unterschieden und die bestehenden Mischformen und Mischregeln, auch die Chrodegangs, aufgehoben. Für die Mönche und Nonnen wurde die Benediktsregel zum alleinigen Maßstab erklärt. Für die Kanoniker und Kanonissen wurden eigene Bestimmungen erlassen, die den Rahmen ihrer Lebensweise absteckten. Diese wurden aus älteren Synodalbestimmungen und Kirchenväterstellen gesammelt. Die Institutio canonicorum sah ein gemeinsames Leben der Kanoniker in einem abgegrenzten Bereich mit Chorgebet und Pflege der Liturgie an der entsprechenden Kirche vor. Refektorium und Dormitorium sollten gemeinsam sein. Die einzelnen Kanoniker konnten jedoch über Privatbesitz und Pfründen verfügen. Sie legten keine Gelübde ab, sondern wurden nach entsprechender Anwartschaft in die Gemeinschaft der Kanoniker aufgenommen und darin mit einer Pfründe versorgt. An der Spitze des Kanonikerstiftes sollte ein dem Bischof (praelatus) unterstellter Propst (praepositus) stehen, der auch vom König ernannt werden konnte.

      Die Synode nahm zwar zwei Sermones (355 und 356) von Augustinus über die Lebensweise der Kleriker auf, verlangte aber von diesen gerade nicht ein Leben in persönlicher Besitzlosigkeit (Armut). Die Essensrationen waren mit Fleisch, täglich vier Pfund Brot und bis zu vier Liter Wein, die an Festtagen je nach Vermögen des Stiftes aufgebessert werden konnten, so reichlich bemessen, dass sie dem Archidiakon Hildebrand, nachmals Papst Gregor VII., in einer polemischen Rede bei der Lateransynode 1059 wie für Zyklopen bestimmt vorkamen.8

      In der Praxis konnte aber das gemeinsame Leben der Kanoniker mancherorts wegen des Widerstands der Kanoniker oder auf Grund der Besitzverhältnisse nicht durchgeführt werden, sodass es bei den einzelnen Dom- oder Stiftsherrenhöfen als Pfründen blieb und das gemeinsame Tun auf das Chorgebet beschränkt wurde.

      Die Augustinusregel

      Die Widersprüche zwischen den Bestimmungen der Aachener Regel und den ihr vorgeschalteten Sermones Augustinus’ waren offensichtlich. Sie störten die an der Lebensweise der Urgemeinde von Jerusalem nach dem Idealbild von Apg 4,32–35 orientierten Reformer. Als Alternative bot sich die sog. Augustinusregel an, die mit der gemeinsamen Lebensweise der Kleriker am Bischofshaus von Hippo in Einklang zu bringen war. Doch diese Regel war ursprünglich für Mönche geschrieben und lag in zwei Fassungen vor, die zwar nach heutiger Erkenntnis9 beide in Augustinus’ Umfeld gehören, aber unterschiedliche Adressaten haben. Der kürzere Ordo monasterii regelt ein Mönchskloster mit Handarbeit, Stillschweigen und einem vom römischen und gallischen ordo stark abweichenden Chorgebet. Er geht möglicherweise auf Alypius zurück. Das längere Praeceptum bietet kaum Regelungen für den Alltag, sondern stellt die geistlichen Grundlagen des gemeinsamen Lebens einer Mönchsgemeinschaft heraus, an erster Stelle die vita communis im gemeinsamen Haus in vollkommener Gütergemeinschaft, dann Gebetszeiten, Sorge für die Kranken und Schwachen, Ausgang und brüderliche Zurechtweisung und das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft in der spätantiken Gesellschaft mit je verschiedenen Ansprüchen. Werden beide Regeltexte zusammen überliefert, spricht man vom Praeceptum longius.

      In einer wohl aus Reims stammenden Handschrift des 9. Jahrhunderts wird erstmals das Praeceptum allein (unter Elimination des Ordo monasterii) mit den genannten Sermones Augustinus’ über die Lebensweise der Kleriker in Verbindung gebracht. Es wurde deshalb seitdem nicht mehr als Mönchs-, sondern als Kanonikerregel betrachtet, galt als Lebensnorm des Bischofshauses von Hippo und konnte so eine strengere Alternative für Dom- und Chorherrenstifte zur Aachener Regel bilden. Wegen der inhaltlichen Unbestimmtheit ihrer Regelungen für den Alltag wurde die Regula Augustini jedoch von manchen lokalen Kommunitäten (z. B. Mortara, Lombardei) durch weitere Regeln ergänzt.10

      Regularkanoniker

      Die vom Mönchtum ausgehende Reform des 11. Jahrhunderts mit den Zentren Cluny und Hirsau erfasste bald auch die Kanoniker, die entweder aus eigener Initiative oder auf Drängen der Bischöfe ein gemeinsames Leben mit Gütergemeinschaft, teilweise unter der Augustinusregel, annahmen und darauf Profess ablegten, sich also zu Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam verpflichteten. So ließen sich z. B. in St-Ruf bei Avignon 1039 an einer dem Domkapitel gehörenden, ruinösen Kirche vier Priester nieder, um dort religiose leben zu können.11 Andere Gründungen gingen aus eremitischen oder semieremitischen Gemeinschaften hervor, die sich zu festen Institutionen zusammenschlossen, z. B. das Reformzentrum Springiersbach. Denn mit der monastischen Reform blühte auch ein neues Eremitentum auf,12 das auch