Kiel in der Geschichte. Oliver Auge. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Auge
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783529092534
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und liberalsten Verfassung ganz Deutschlands vor. Zeitgleich vollzog sich auch auf der kommunalen Ebene eine Liberalisierung und Demokratisierung der Kieler Stadtverfassung. Indes führte das Scheitern der Erhebung ab dem Spätsommer des Jahres 1850 zur Zurücknahme dieser kommunalen Reformen; auch die Verfassung geriet über das Stadium eines Entwurfs nicht hinaus.

      Spielte die konstituierende Versammlung in Kiel durch die skizzierten Vorgänge also eine demokratische Vorreiterrolle im Revolutionsgeschehen 1848/49, so wurde die Stadt durch den Matrosenaufstand, dem Ausgangspunkt der deutschen Novemberrevolution 1918, noch weitaus mehr zu einem Geburtsort der Demokratie in Deutschland. Der Erste Weltkrieg führte bekanntlich zu enormen Versorgungsengpässen an der »Heimatfront«, was vor allem für die Arbeiterschaft und ihre Familien schwerwiegende Folgen zeitigte. Je länger der Krieg dauerte, ohne zum erhofften Sieg zu führen, desto mehr kam es zu Hungerunruhen, in Kiel unter anderem im Juni und im Oktober 1916.

      Ende März 1917 legten zudem die Kieler Werftarbeiter die Arbeit nieder – ein Ausstand, der als reiner Hungerkrawall begann und zum politischen Streik wurde. Die über 4000 Arbeiter, die damals in den Streik traten, forderten nicht nur eine gerechtere Nahrungsmittelversorgung, sondern auch mehr Rechte für sich. Die Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) und die Gewerkschaften spielten dabei als Interessensvertreter der Arbeiterschaft nur eine Nebenrolle. Vielmehr waren vor allem Mitglieder der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD), die sich 1916 von der MSPD abgespalten hatten, in die Proteste involviert. Insbesondere in der kriegswichtigen Torpedowerkstatt in Friedrichsort waren sie aktiv.

      Ende Januar 1918 traten dann 30 000 Arbeiter in den Ausstand, nachdem ihre Vertrauensleute zum Heer einberufen worden waren. Auf dem Wilhelmplatz fand eine Massenkundgebung statt, auf der konkrete politische Forderungen formuliert wurden. Unter anderem sollte ein Friedensschluss nicht länger von Annexionen oder Entschädigungen abhängig gemacht werden. Auch wurde die Einberufung des Reichstages, der seit Kriegsbeginn nicht mehr getagt hatte, und seine Einbeziehung in die Friedensverhandlungen verlangt, ebenso eine Reform der Volksernährung und eine Auflösung des hochkonservativen Preußischen Abgeordnetenhauses samt Neuwahlen. Überdies war von einer Aufhebung des Belagerungszustandes und der Freilassung aller politischen Gefangenen die Rede, und die Vertrauensmänner sollten nicht mehr zum Heeresdienst herangezogen werden können. Dieser Forderungskatalog blieb zunächst unerfüllt, und so machte sich im Verlauf des weiteren Jahres in der Kieler Arbeiterschaft insgesamt eine – gut organisierte – Stimmung breit, die von einer Befürwortung des Friedensprogramms des US-amerikanischen Präsidenten Wilson (*1856; †1924) bei gleichzeitigem Vertrauensverlust in die eigene Heeres- und Marineführung gekennzeichnet war.

      In diesem Klima erreichte am 1. November 1918 das Dritte Geschwader der Kaiserlichen Marine seinen Heimathafen Kiel. Schon in Wilhelmshaven, wo die Schiffe zuvor geankert hatten, war es an Bord zu Befehlsverweigerungen gekommen. Diese richteten sich gegen den Plan der Marineleitung, an den von der Reichsregierung aufgenommenen Friedensverhandlungen vorbei und trotz der aussichtslosen Kriegslage ein letztes heldenhaftes Gefecht gegen die Britische Flotte zu führen. 47 Matrosen wurden als Rädelsführer inhaftiert. Durch die Rückverlegung der Schiffe nach Kiel sollte sich, so die Hoffnung der Marineleitung, die Situation wieder entspannen, doch erwies sich dies als eine krasse Fehleinschätzung der Stimmung in der Stadt, zumal der Kieler Gouverneur, Vizeadmiral Wilhelm Souchon (*1864; †1946), von der Aktion vollkommen überrascht wurde. Das Gegenteil trat ein: Die Arbeiter in Kiel solidarisierten sich mit den Inhaftierten, nachdem am 3. November weitere 57 Matrosen verhaftet worden waren und andere Matrosen deswegen beim Landgang Kontakt zu den Arbeitern und Soldaten in Kiel aufgenommen hatten. Bereits am Vortag hatte der Oberheizer Karl Artelt (*1890; †1981) von der USPD zur Entmachtung der herrschenden politischen Klasse und zur Niederringung des Militarismus aufgerufen, während der Kieler Gewerkschaftsvorsitzende Gustav Garbe (*1865; †1935) zur Besonnenheit mahnte. Nun wurde aus der kleinen Revolte in Windeseile eine Massenbewegung, wie am 3. November knapp 6000 Demonstranten – Matrosen sowie Kieler Arbeiterinnen und Arbeiter – auf dem Exerzierplatz bewiesen. Von dort bewegte sich ein Demonstrationszug in die Marinearrestanstalt in der Feldstraße, die aber nicht erreicht wurde, weil kurz davor eine militärische Patrouille das Feuer auf die Demonstranten eröffnete. Sieben Menschen wurden getötet, 29 schwer verwundet. Die Demonstranten antworteten darauf teilweise ebenfalls mit schwerer Gewaltanwendung. Der unheilvolle Zusammenstoß gilt gemeinhin als der eigentliche Startpunkt der Novemberrevolution. Am 5. November musste der in Kiel residierende Prinz Heinrich fluchtartig Schloss und Stadt verlassen, da sich Kiel schon fest in der Hand der Aufständischen befand: Unter dem Vorsitz Garbes war nach dem Vorbild bereits existierender Soldatenräte ein Arbeiterrat gebildet worden, kaiserliche Schiffe hatten die rote Fahne gehisst, und ein Vierzehn-Punkte-Programm mit weitreichenden Reformforderungen wurde in Kraft gesetzt. Um die revolutionären Verhältnisse zu klären, wurde sodann Gustav Noske (*1868; †1946) von der MSPD aus Berlin nach Kiel geschickt und am 5. November durch Akklamation zum Vorsitzenden des Obersten Soldatenrats gewählt. Zwei Tage später übernahm er von Admiral Souchon auch die zivile Gewalt in Kiel. Zur Sicherung der öffentlichen Ordnung setzte er auf die Fortführung der alten Strukturen und erstickte deswegen alle weiteren revolutionären Impulse in Kiel sofort im Keim. Allerdings hatten die Kieler Vorgänge längst Vorbildcharakter für andere Städte im ganzen Kaiserreich erlangt. Bald stand dabei nicht mehr Kiel im Mittelpunkt der Ereignisse, sondern Berlin, wo am 9. November 1918 die Republik ausgerufen wurde.

      Tags darauf wurden die zivilen Todesopfer des Kieler Aufstands auf dem Friedhof Eichhof beigesetzt. Kiel selbst ging mit seiner impulsgebenden Rolle während der Revolution im Übrigen lange Zeit stiefmütterlich um. Erst spät und schwerfällig setzte ein Umdenken ein, wie die seinerzeit öffentlich umstrittene Aufstellung des von Hans-Jürgen Breuste (*1933; †2012) gestalteten Revolutionsdenkmals im Kieler Ratsdienergarten 1982 sinnfällig zum Ausdruck brachte. Heute aber steht man in Kiel der wichtigen Rolle der Stadt im Kontext von Revolution und Demokratisierung weitgehend positiv gegenüber, was z. B. daran ersichtlich wird, dass die 1930 errichtete Schiffsbrücke der Freien Turnerschaft Wassersport, die seinerzeit nach Gustav Garbe benannt worden war, unter den Nationalsozialisten diesen Namen aber wieder verloren hatte, zum Jahrestag des Matrosenaufstands am 3. November 2016 ihren ursprünglichen Namen zurückerhielt. Für 2018 plant die Stadt eine großangelegte Erinnerungsfeier unter Teilnahme des Bundespräsidenten.

      Kiel entwickelte sich also im Lauf der Zeit zur Hauptstadt Schleswig-Holsteins und spielte mehrfach in der schleswig-holsteinischen und deutschen Geschichte eine beachtliche Rolle. Das war auch bei der Kieler Erklärung vom 26. September 1949 der Fall, in der die Landesregierung unter Zustimmung des Landtages erklärte, dass die dänischen und friesischen Bevölkerungsteile ohne Diskriminierungsgefahr alle demokratischen Grundrechte genießen sollten und dass eine dänische Gesinnung behördlich nicht angezweifelt oder überprüft werden dürfe. Damit war die Kieler Erklärung ein wichtiger Baustein für den Grenzfrieden im Norden und bildete den Vorläufer zu den Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955, die Grundlage für das nachbarschaftliche Verhältnis zwischen Deutschland und Dänemark wurden.

       2.Kiel – dreimal gegründet

      Die Geschichte einer Stadt beginnt normalerweise mit ihrer Gründung – Kiel aber ist gleich dreimal gegründet worden. Seine eigentlichen städtischen Anfänge verdankt es der Stadtrechtsverleihung durch Graf Johann I. von Holstein (*um 1229; †1263) im Jahr 1242. Auf diese erste Gründung, festgehalten in einer nicht unumstrittenen Urkunde, beruft man sich, wenn man 2017 das 775-jährige Stadtjubiläum feiert. Ab dem Jahr 1865 veränderte dann die Stadt ihr Gesicht so grundlegend, dass man heute von einer zweiten Gründung spricht. Was war geschehen? 1865 wurde die preußische Marinestation von Danzig nach Kiel verlegt: Aus einer kleinen Mittelstadt erwuchs in der Folge in kürzester Zeit eine moderne maritime Metropole. Als dritte Stadtgründung wird der Wiederaufbau der Stadt nach dem Zweiten Weltkriege gesehen. Nahezu komplett war Kiel während der Kriegsjahre zerstört worden, der Wiederaufbau glich somit eher einem Neubau aus den Bombentrümmern und einer Neugründung der Stadt. 1242, 1865, 1945 – das also sind Kiels drei Geburtsjahre!

      Kiels erste Gründung wurde in einer Urkunde festgehalten, die 1242 von Johann I. auf Latein verfasst wurde. In ihr ist in feierlichem Ton vermerkt, dass Graf