Kiel in der Geschichte. Oliver Auge. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Auge
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783529092534
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Rund zehn Jahre später meinte Hinrich Lohse (*1896; †1964), NS-Gauleiter und zugleich schleswig-holsteinischer Oberpräsident, am 11. April 1933 zu dieser Frage: »Wenn auch der jetzige Zustand nicht als endgültig angesehen werden kann, so kommt doch eine Änderung durch Verlegung des Oberpräsidiums nach Schleswig in absehbarer Zeit nicht in Betracht.«

      Dies war die Verwaltungssituation, auf die die britische Besatzungsmacht am Ende des Zweiten Weltkriegs in Schleswig-Holstein traf. Die alliierten Mächte waren bei der Gestaltung von Verwaltung und Gesellschaft nach dem Krieg um Kontinuität bemüht, und so knüpfte sie auch in der Hauptstadtfrage an die Vorgängerlösung an. Am 16. August 1946 teilte Colonel Ainger in einer Routinebesprechung mit dem deutschen Verbindungsmann bei der Militärregierung, Dr. Hans Müthling (*1901; †1976), den Beschluss mit, dass Kiel der Vorrang vor Schleswig gebühre. »The capital is Kiel«, hieß es wörtlich. Publik gemacht wurde dieser Beschluss mit der britischen Verordnung Nr. 46 vom 23. August 1946, worin die Errichtung eines Landes Schleswig-Holstein mit Kiel als Hauptstadt festgelegt wurde. Als Sitz der Regierung und – einmalig in Deutschland – gleichzeitig auch des Parlaments wurde die Marineakademie am Düsternbrooker Weg erkoren, die im Krieg zum Teil zerstört worden war. Diese dient seit dem 6. Mai 1947 als »Landeshaus«. Am 2. Mai 1950 konnte der Landtag dann in den neu hergerichteten Plenarsaal im Landeshaus einziehen, der im Jahr 2004 nochmals grundlegend umgebaut und durch einen gläsernen Anbau zur Förde hin erweitert wurde.

      Kiels neue Stellung als Landeshauptstadt mit Landtag, Landesregierung und Landesverwaltung war eine logische Entscheidung, insofern es die Fortführung seiner Funktion als Provinzialhauptstadt bedeutete. Um den Wegfall des Regierungssitzes Schleswig gegenüber zu kompensieren und damit auch ein gewisses Gleichgewicht innerhalb des Bundeslandes zu schaffen, wurde zum 1. Oktober 1948 das Oberlandesgericht, das ja seit 1894 am Kleinen Kiel residiert hatte, nach Schleswig verlegt. Es zog in die bisherigen Räumlichkeiten des Oberpräsidiums ein und ist hierin auch heute noch zu finden. Ebenso zogen 1948 im Rahmen dieser Ausgleichslösung das Landesarchiv und das Landesmuseum nach Schleswig ins Gottorfer Schloss. Das Landesarchiv wechselte 1991 wiederum aus Platzgründen vom Schloss ins nahe Prinzenpalais, wo es seither beheimatet ist. Seit 1946 fungiert Kiel somit ganz offiziell als Hauptstadt des Landes Schleswig-Holstein, was im Sommer 2016 eine entsprechende Würdigung in der Tagespresse erfuhr. Allerdings stellt sich die Frage, ob Kiel diese Funktion auch künftig einnehmen kann und wird: Die in regelmäßigen Abständen immer wieder aufkommende Idee eines »Nordstaates«, also eines größeren norddeutschen Bundeslandes, indem sich beispielsweise Schleswig-Holstein mit Hamburg oder Mecklenburg-Vorpommern zusammenschließen könnte, beschwört nahezu zwangsläufig die Konkurrenz Hamburgs oder anderer Städte als mögliche Hauptstädte herauf.

      Neben diesem geschichtlichen Überblick über die Entwicklung der Stadt Kiel zur Landeshauptstadt gibt es einige herausstechende historische Ereignisse, die mit Kiel in Verbindung stehen und weit darüber hinaus von Bedeutung waren – für ganz Schleswig-Holstein oder gar deutschlandweit. Auch diese Ereignisse unterstützten jeweils auf ihre Weise das allmähliche Hineinwachsen Kiels in seine Hauptstadtrolle. Zu denken ist hierbei z. B. an die Kieler Tapfere Verbesserung vom 4. April 1460. Einen Monat zuvor, im März 1460, hatte die schleswig-holsteinische Ritterschaft in Ripen den dänischen König Christian I. (*1426; †1481) zum neuen Herzog von Schleswig und Grafen von Holstein gewählt und sich in diesem Zusammenhang eine stattliche Anzahl an Privilegien vom neuen Landesherrn ausbedungen. In Kiel nun wurden die Bestimmungen des später berühmt gewordenen Ripener Privilegs teils bekräftigt, teils ergänzt oder weiter präzisiert. Unter anderem wurde die Einberufung jährlicher Versammlungen der Ritter Schleswigs und Holsteins zu Urnehöved bzw. Bornhöved zugesichert. Dazu ist es nicht gekommen, weil ab 1462 gemeinsame Landtage der Landstände stattfanden. Doch war die Kieler Zusage vom April 1460 ein wichtiger Baustein auf dem Weg zur politischen Partizipation von Klerus, Rittern und Stadtbürgertum.

      Eine weitere Besonderheit der Stadt war – und ist bis heute – der Kieler Umschlag, der hier seit dem 15. Jahrhundert einmal im Jahr stattfindet. Der Umschlag entwickelte sich bald zum zentralen Geldmarkt für Schleswig-Holstein und den ganzen westlichen Ostseebereich und machte Kiel auf diese Weise noch bis ins 19. Jahrhundert hinein überregional bekannt. Ausführlicher wird darauf im vierten Kapitel eingegangen.

      Ebenso wurde der Frieden nach Kiel benannt, der hier am 14. Januar 1814 zwischen den Kriegsparteien Schweden und Großbritannien einer- und Dänemark andererseits geschlossen wurde und eine Neuordnung Nordeuropas beinhaltete, der zufolge Norwegen, seit 1387 mit Dänemark gemeinsam regiert, an Schweden fiel und Helgoland bei Großbritannien verblieb, während Dänemark als europäische Macht aus dem Konzert der Großen ausschied und fortan den Part eines Klein-, aber immer noch Vielvölkerstaates spielte. Der Kieler Frieden gilt als wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur erst 1905 realisierten Souveränität Norwegens, weil sich das Land damals seine Verfassung erstritt.

      Für eine überregionale Bekanntheit Kiels sorgten zudem die nachweislich seit ca. 1790 nach Kiel benannten Sprotten, die im 19. Jahrhundert massenweise im Stadtteil Ellerbek, aber auch in Eckernförde angelandet und verarbeitet wurden. Außerdem wurde Kiel natürlich bekannt durch den vor allem zu Zeiten allgemeiner Marinebegeisterung zum Modetrend gewordenen Kieler Anzug mit seinem dunkelblauen, viereckigen Exerzierkragen samt drei weißen Streifen und Schlips zusammen mit Hose bzw. Rock. Die Comic-Figur Donald Duck trägt nach wie vor einen solchen in zahllosen Enten-Abenteuern.

      Mit den »Kieler Blättern« etablierte eine Gruppe namhafter Professoren der Christian-Albrechts-Universität, allen voran Friedrich Christoph Dahlmann (*1785; †1860), Niels Nikolaus Falck (*1784; †1850) sowie Franz Hermann Hegewisch (*1783; †1865), ab 1815 ein wissenschaftlich-politisches Publikationsorgan, das seinerzeit seines liberalen und gemäßigt nationalen Inhalts wegen in Schleswig-Holstein und in ganz Deutschland eine positive Aufnahme fand. Die »Kieler Blätter« wurden wegen der strengen Zensur nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819 in »Kieler Beyträge« umbenannt und noch bis 1821 in Schleswig gedruckt.

      In enger Verbindung zu den »Kieler Blättern« stand die Kieler Universität, die seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts infolge einer Reform eine neue Blüte erlebte und sich im Kontext der Aufklärung zum geistig-kulturellen Zentrum des ganzen Landes entwickelte. Durch ihre Angehörigen, die in größerer Zahl in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts politisch aktiv und mehrheitlich prodeutsch gestimmt waren, wurde sie zum Sprachrohr im immer heftiger geführten nationalen Diskurs der Zeit. Nicht von ungefähr erfolgte die Ausrufung einer Provisorischen Regierung zu Beginn der Schleswig-Holsteinischen Erhebung in der Nacht vom 23. auf den 24. März 1848 gerade hier in Kiel: Kiel stand im Mittelpunkt der vorausgehenden und folgenden Geschehnisse. Erklärtes Ziel war die Etablierung einer konstitutionellen Verfassung, eine allgemeine Volksbewaffnung und der Eintritt auch Schleswigs in den Deutschen Bund. Um nicht den Anschein einer Revolution zu erwecken, wie sie sich damals in anderen Regionen Deutschlands und Europas in teils heftiger Form abspielte, wurde die Absetzung des dänischen Königs als Landesherr nicht eigens als Absicht formuliert. Vor der Proklamation war bereits ein Bürgerverein unter Vorsitz des linksliberal orientierten Juristen und Verlegers Theodor Olshausen (*1802; †1862) gegründet worden, der Presse- und Versammlungsfreiheit forderte. Am 20. März erfolgte die Aufstellung einer Bürgergarde. Schon am Morgen des 24. März 1848 fuhr ein Sonderzug von Kiel zur Garnisonsstadt Rendsburg, um diese »im Handstreich« zu nehmen. An der Aktion hatten sich auch Kieler Studenten als Freiwillige beteiligen wollen, doch verpassten sie die Abfahrt des Zuges. Nach der erfolgreichen Einnahme Rendsburgs verlegte die neu ausgerufene Provisorische Regierung am 25. März ihren Sitz dorthin aus Angst vor einem dänischen Angriff auf Kiel von See aus. Tatsächlich blockierte die dänische Korvette »Galathea« in der Folgezeit den Hafen Kiels. Ein Kaperversuch am 20./21. Mai 1848 scheiterte, weshalb die Blockade noch bis zum September dauerte. Zu diesem Zeitpunkt tagte bereits die konstituierende Landesversammlung, natürlich in Kiel, die nach dem seinerzeit freiesten und demokratischsten Wahlrecht ganz Deutschlands gewählt worden war, zur Ausarbeitung einer Verfassung für Schleswig und Holstein. Für Kiel als Tagungsort hatte man sich entschieden, weil die Versammlung bewusst unabhängig von der in Rendsburg sitzenden Regierung arbeiten sollte und weil sich Schleswig, das als weiterer Tagungsort in Frage kam, zu nah an der damaligen Kampflinie befand. Die Landesversammlung war am 15. August 1848 feierlich in der Kieler Nikolaikirche eröffnet worden und tagte seither