Kiel in der Geschichte. Oliver Auge. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Auge
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783529092534
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Kernbereich Kiels stehenden Gebäude stammt daher aus der Zeit vor 1948. Dazu kam bald auch die Demontage industrieller Anlagen zu Reparationszwecken durch die britische Besatzungsmacht. So entgingen einzig die Howaldtswerke dem Abbau der Kieler Großwerften.

      Um die Trümmer zu beseitigen und Platz für dringend nötige Neubauten zu schaffen, erfolgte am 6. April 1946 ein Aufruf zum ehrenamtlichen Aufräumdienst. 140 000 freiwillige Helfer meldeten sich daraufhin, unter ihnen sehr viele sogenannte Trümmerfrauen. Sie holten aus den Trümmern rund 63 Millionen Ziegelsteine hervor, die für den Wiederaufbau verwendet werden konnten. Um dieses Projekt zu organisieren, wurde die Stadt in 25 Bezirke eingeteilt; jedem Bezirk wurde ein Architekt zugeteilt, der die Planung übernahm. Mit dem Wiederaufbau eng verbunden war die Person des damaligen Kieler Oberbürgermeisters Andreas Gayk (*1893; †1954), der von 1947 bis 1950 auch Vorsitzender der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) im schleswig-holsteinischen Landtag war. Im Mai 1946 hatte Gayk verkündet: »Kiel ist keine sterbende, Kiel ist eine kämpfende Stadt.« Und tatsächlich stemmten sich die Kielerinnen und Kieler, ähnlich wie die Menschen in den anderen deutschen Großstädten, in dieser Zeit beherzt und erfolgreich gegen die überall anzutreffende Trostlosigkeit. Um dieser entgegenzuarbeiten, ließ man sich manches einfallen: So wurden Brachflächen, die nicht gleich wieder bebaut werden konnten, einfach mit Bäumen und Gräsern bepflanzt, um die Spuren der Zerstörung mit natürlichem Grün zu überdecken. So entstand z. B. das Gayk-Wäldchen an der Kieler Gerhardstraße. Zur Erinnerung an die bewundernswerte Aufbauleistung und zum Dank für alle Helferinnen und Helfer bestimmte Gayk wenige Tage vor seinem Tod, dass den Bürgerinnen und Bürgern, die Kiel neu erbaut hatten, in einem Wandrelief im Hauptkorridor des Kieler Rathauses ein bleibendes Denkmal aus Sandstein gesetzt werden sollte. Die offizielle Einweihung erfolgte zur Kieler Woche des Jahres 1957 durch den seinerzeitigen Stadtpräsidenten Wilhelm Sievers (*1896; †1966). Es steht sinnbildlich für die dritte erfolgreiche »Gründung« Kiels, die sich genau genommen gut 20 Jahre lang hinzog. Erst in den 1960er Jahren nämlich erreichte die Einwohnerzahl ihren Vorkriegsstand, und erst 1966 wurde die Wohnraumbewirtschaftung beendet, weil die größte Wohnungsnot in Kiel beseitigt war. Im Übrigen hatten Flüchtlinge und Heimatvertriebene anders als im sonstigen Schleswig-Holstein, wo sie einen Bevölkerungsanteil von rund 42 Prozent ausmachten, die Wohnungsnot kaum mitverursacht. Ihr Anteil betrug nämlich in Kiel lediglich 14,3 Prozent. Diese geringe Zahl lag wiederum am hohen Zerstörungsgrad der Gebäude und Wohnviertel, der eine massive Aufnahme von Flüchtlingen in Kiel von vornherein unmöglich gemacht hatte.

      Da so viele alte Baulichkeiten nicht mehr zu retten waren, konnte man das Kieler Stadtbild großzügig und modern umplanen. Dazu gehörte, dass man Mitte der 1950er Jahre die Holstenstraße zur ersten Fußgängerzone in Deutschland überhaupt umgestaltete oder dass man den 1944 stark zerstörten Hauptbahnhof bis Anfang der 1950er Jahre ohne seine bisherigen Kuppeln oder den Treppenturm mit Kaiserkrone wieder benutzbar machte. Erst durch einen umfassenden Umbau zwischen 1999 und 2004 wurde die alte Raumhöhe der Eingangshalle wiederhergestellt, ebenso die ehemalige Kaisertreppe an der Ostseite. Auch die schwer beschädigte St. Jürgenkirche wurde komplett abgerissen und durch einen Neubau im Königsweg ersetzt, der am 12. Dezember 1954 eingeweiht wurde. Allein bis 1948 wurden 20 000 Quadratmeter Straßen erneuert und auch neue Straßen gebaut. So wurde im Mai 1950 die Neue Straße, die heutige Andreas-Gayk-Straße, als eine Magistrale der Moderne dem Straßenverkehr übergeben, die schnurgerade durch ein vor dem Krieg dicht bebautes Stadtgelände geführt worden war.

      Im Rückgriff auch auf Planungen der 1930er und 1940er Jahre nutzte Kiel den baulichen Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg für eine Gestaltung des Stadtinneren, die in der Fachwelt für Aufsehen sorgte. Mustergültig führt dies heute noch, trotz der Veränderungen nach 1989, die Holtenauer Straße in ihrem unteren Verlauf bis zum Dreiecksplatz vor Augen, wo ab 1949 durch die Architekten Kurt Malzahn und Roland Lukas fünfgeschossige Flachdachwohnblocks mit zur Straße hin vorgeschobener Ladenzeile errichtet wurden. Der Komplex erhielt im Volksmund den Namen »Klagemauer« – vielleicht weil viele Ladengeschäfte über die hohen Mieten klagten oder an den hier zuvor vorhandenen Ruinen Vermisstenlisten angebracht gewesen waren. Insgesamt stand hinter der teils radikalen Um- und Neugestaltung der Innenstadt und ihrer durchweg verkehrsgünstigen Erschließung die Idee, dass sie nicht länger als vorwiegendes Wohnviertel dienen, sondern sich vor allem zum Geschäftsviertel entwickeln sollte. Das viele Lob für die richtungsweisende moderne Konzeption darf indes nicht darüber wegtäuschen, dass es durchaus auch etliche Gegenstimmen gab, die ihren Unmut über den vielen Beton äußerten, mit dem das neue Kiel errichtet wurde

      Vater des »Kunstwerks Kiel« bzw. Schöpfer der städtischen Neuplanung ganz im Sinne zeitgenössischer Vorstellungen von einer aufgelockerten und durchgrünten Stadt wurde der Stadtbaurat Herbert Jensen (*1900; †1968), der dafür zahlreiche Ehrungen erhielt. Unter anderem wurde er 1954 zum Vizepräsidenten der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung gewählt und ein Jahr später zum Kieler Honorarprofessor ernannt.

       3.Kiel als Fürstensitz, Hansestadt und Adelszentrum

      Im Laufe seiner langen, mehr als 775-jährigen Geschichte hatte Kiel viele verschiedene Funktionen zu erfüllen. Den Status der fürstlichen Residenz hatte die Stadt bis zum Ende der Monarchie in Preußen und Deutschland im November 1918 inne, den einer Hansestadt hingegen nur bis ca. 1518. Über wirklich lange Zeit, beginnend im späteren Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert hinein, fungierte Kiel daneben als eine Art Hauptstadt und Zentrum des holsteinischen Adels bzw. der schleswig-holsteinischen Ritterschaft. Diese drei genannten Aspekte geben jeder für sich ein beredtes Zeugnis von der Vielseitigkeit der Geschichte Kiels und zeigen daher, zusammengenommen, eindrucksvoll, wie unterschiedlich die Faktoren waren, die Kiels Geschichte beeinflusst haben, und gleichzeitig, wie eng diese miteinander verzahnt waren.

      Von Beginn an spielte der Status der fürstlichen Residenz eine prägende Rolle für die Stadt Kiel. Als Kiel 1242 sein Stadtrecht verliehen bekam, war die Stadt nämlich als Hauptstadt oder Vorort Holsteins konzipiert. Dahinter stand vermutlich die Intention, Kiel zum zentralen Punkt für wirtschaftliches und politisches Geschehen zu machen. Nahe legen tut dies die Stiftung des Franziskanerklosters als einer monastischen Mustereinrichtung mit der Funktion einer dynastischen Grablege, die nahezu zeitgleich wie die Stadtgründung stattfand. Adolf IV., der das Kloster gestiftet hatte und ihm als Mönch beigetreten war, und sein ebenfalls zum Mönch gewordener Sohn Ludolf fanden im Kloster ihre letzte Ruhestätte. Kurze Zeit später gab es dann sogar für ein paar Generationen eine eigene Kieler Linie der Schauenburger Grafendynastie: Unter Adolfs IV. Söhnen Johann I. (*um 1229; †1263) und Gerhard I. (*1232; †1290) erfolgte 1273 eine Teilung des Landes, bei der sich ein Zweig der großen Schauenburger Familie abspaltete und Quartier in Kiel bezog. In der nachfolgenden Generation spaltete sich diese Linie nochmals auf, in eine nur kurz bestehende Segeberger und eine etwas länger existierende Kieler Linie. Letztere verbindet sich mit Johann II. (*ca. 1253; †1321) und seinen beiden Söhnen Christoph (†um 1313/15) und Adolf (†1315).

      Die Schicksale dieser drei könnten gut und gern Stoff für ein Shakespeare-Drama liefern. Bei Johann II. handelte es sich offenbar um eine überaus traurige Herrschergestalt, war er doch auf einem Auge erblindet, weil sein Hofnarr in Wut einen Knochen auf den Kämmerer geworfen, versehentlich damit aber den Grafen getroffen hatte. Das berichtet zumindest der Lübecker Chronist Detmar (*um/nach 1395). Johanns Sohn Christoph, der in Kiel residierte, fand bei einem Sturz aus einem Fenster seiner Burg den Tod – unter ungeklärten Umständen. Schon seine Zeitgenossen spekulierten, ob da nicht doch jemand nachgeholfen hatte. Der zweite Sohn Adolf hingegen wurde im Schlafgemach seiner Segeberger Burg, schlafend im Bett neben seiner Gemahlin, von seinen Vasallen unter Führung Hartwich Reventlows (†1380) erschlagen. Dieser sagte später, er habe Rache üben wollen, weil er Adolf verdächtigt hatte, sich an seiner, Reventlows, Tochter vergangen zu haben. Allerdings wurden gleichzeitig die Burgen Bramhorst und Grömitz von den gräflichen Vettern Gerhard III. von Rendsburg (*1293; †1340) und Johann III. von Plön (*ca. 1297; †1359) besetzt und obendrein Johann II. gefangen genommen. Es lag daher sogar schon dem Verfasser der Lübecker Annalen die Vermutung nahe, dass »es geplant gewesen sei«. Handelte es sich um ein Komplott gegen die Vertreter der Kieler Linie, an dem die Verwandten beteiligt