2. Das „betriebliche Entgeltschema“
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Die Entgeltordnung, die den Maßstab für die betriebsverfassungsrechtliche Eingruppierung darstellt, ist nach einem anderen Kriterium zu ermitteln als diejenige bei der individualrechtlichen Eingruppierung. Bei ersterer kommt es darauf an, dass sie „betrieblich gilt“, und nicht darauf, dass sie im einzelnen Arbeitsverhältnis vertraglich oder tariflich verbindlich ist. Das wird in den meisten Fällen identisch sein, ist es aber keineswegs notwendig.
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Das betrieblich „geltende“ Vergütungsschema bestimmt sich regelmäßig nach § 87 Abs. 1 Einleitungssatz und Abs. 1 Nr. 10 BetrVG. Entweder ist es im Fall der Geltung eines Tarifvertrags vom Arbeitgeber wegen dessen Tarifgebundenheit (§ 3 Abs. 1 TVG i.V.m. § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG) zwingend anzuwenden. Dann ist auch ein Arbeitnehmer nach § 99 Abs. 1 BetrVG in dieses Schema „einzugruppieren“, wenn er selbst nicht tarifgebunden ist und womöglich eine individuell gestaltete Vergütungsregelung im Arbeitsvertrag hat, die sich nicht an dem Entgeltschema orientiert. Für die Begründung der Mitbeurteilungsrechte des Betriebsrats ist es unerheblich, ob der betroffene Arbeitnehmer individualrechtlich auf die Anwendung des zugrunde liegenden Tarifvertrags einen Anspruch hat.74 Das bedeutet in der Konsequenz aber auch, dass im Fall einer doppelten Tarifgebundenheit des Arbeitgebers zwei voneinander unabhängige und unterschiedliche betriebliche Entgeltordnungen bestehen können. Das hat zur Folge, dass der Arbeitgeber die Arbeitnehmer seines Betriebs nach beiden Entgeltordnungen eingruppieren muss.75
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Beispiel: Kommunales Krankenhaus als Mitglied im Kommunalen Arbeitgeberverband, das hinsichtlich des Entgeltschemas für Ärzte sowohl an den vom KAV mit ver.di abgeschlossenen TVöD-K als auch an den von ihm mit dem Marburger Bund abgeschlossenen TV-Ärzte (VKA) gebunden ist.
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Das mag etwas irritierend wirken. Es verdeutlicht aber eindrucksvoll, dass es bei der Wahrnehmung der betriebsverfassungsrechtlichen Mitbeurteilungsrechte des Betriebsrats nach § 99 Abs. 1 BetrVG nicht um die Wahrnehmung unmittelbarer individualrechtlicher Interessen der Arbeitnehmer geht, sondern um den kollektiven Tatbestand der Kontrolle über (ggf.) Errichtung und Einhaltung eines betrieblichen Entgeltschemas.
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Ist der Arbeitgeber nicht aufgrund Tarifgebundenheit an ein bestimmtes Entgeltschema gebunden, unterliegt die Schaffung oder Änderung einer innerbetrieblichen Vergütungsordnung der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG. Dabei wird es in den seltensten Fällen um die erstmalige Schaffung einer solchen Vergütungsordnung außerhalb einer tariflichen Vorgabe gehen. Denn in der Regel gibt es faktisch stets irgendeine Art von betrieblicher Vergütungsordnung. In den Worten des BAG: „Für das Beteiligungsrecht des Betriebsrats ist unerheblich, auf welcher rechtlichen Grundlage die Anwendung der bisherigen Entlohnungsgrundsätze beruht. Nach der Konzeption des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG hängt das Mitbestimmungsrecht nur vom Vorliegen eines kollektiven Tatbestands ab“.76 Die Vergütungsordnung kann in einem auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifvertrag erhalten sein, auf einer Betriebsvereinbarung beruhen, aufgrund einzelvertraglicher Vereinbarungen im Betrieb allgemein zur Anwendung kommen oder vom Arbeitgeber einseitig geschaffen sein. Daraus folgt z.B., dass bei Beendigung der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers, etwa durch Austritt aus dem tarifschließenden Arbeitgeberverband, dem Wechsel in eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung („OT-Mitglied“), dem Betriebsübergang auf einen nichttarifgebundenen Erwerber oder dem sonstigen Ende der normativen Geltung des Tarifvertrags, die bisherige tarifliche Vergütungsordnung trotz des Verlustes ihrer normativen Geltung in betriebsverfassungsrechtlicher Hinsicht auch weiterhin das bestehende, oder in der Terminologie des Bundesarbeitsgerichts: das „geltende“ betriebliche Entgeltschema ist und als solches nur unter Einhaltung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats geändert werden kann. Ein Arbeitgeber ist damit seiner bisher tariflichen Vergütungsordnung nicht entledigt, sondern sie gilt – zumindest als betriebliche – weiter, bis sie unter Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG geändert wird.77 Deshalb sind auch danach eingestellte Mitarbeiter in dieses Vergütungsschema einzugruppieren.
3. Die Pflicht zur betriebsverfassungsrechtlichen Eingruppierung
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Der Arbeitgeber muss in einem Betrieb mit mehr als 20 Arbeitnehmern den Betriebsrat bei Ein- und Umgruppierungen für eine Mitbeurteilung der von ihm vorgenommenen Zuordnung beteiligen, § 99 BetrVG. Dies setzt begrifflich zwar die Verpflichtung zur Ein- und ggf. Umgruppierung voraus und begründet sie nicht. Gleichwohl geht das BAG von einer solchen eigenständigen Eingruppierungsverpflichtung aus.78 Sie besteht – bei Geltung eines betrieblichen Entgeltschemas (siehe oben Rn. 76 ff.) – für alle Arbeitnehmer des Betriebs, auch wenn diese selbst nicht an das Entgeltschema gebunden sind, z.B. durch Gewerkschaftsmitgliedschaft oder vertragliche Verweisungsklausel.79 Die Verpflichtung umfasst auch die Arbeitsverhältnisse von Aushilfen und geringfügig Beschäftigten,80 nicht dagegen Leiharbeitnehmer; diese sind von dem verleihenden Arbeitgeber einzugruppieren.81 Wenn AT-Angestellte („außertariflich“) beschäftigt werden, sind auch diese – wenn sie nicht zugleich leitende Angestellte i.S.v. § 5 Abs. 3 und 4 BetrVG sind – „einzugruppieren“, entweder in ein rein betrieblich geltendes differenziertes System für AT-Angestellte oberhalb der höchsten Tarifgruppe oder mindestens dahingehend, dass sie nicht dem tariflichen Entgeltschema unterliegen.82 Auch bei dieser („negativen“) Zuordnung hat der Betriebsrat ein Mitbeurteilungsrecht nach § 99 Abs. 1 BetrVG.83
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Nach dem Abschluss des in § 99 BetrVG mit dem Betriebsrat vorgesehenen Verständigungsverfahrens entsteht eine erneute Pflicht zur betriebsverfassungsrechtlichen Ein- bzw. Umgruppierung erst dann, wenn einer der beiden Eingruppierungsfaktoren (Vergütungsordnung oder Tätigkeit des Arbeitnehmers) sich in mindestens einem Merkmal ändert. Das umfasst grundsätzlich, wenn auch im Ergebnis praktisch wenig bedeutsam, auch die Änderung der Zuordnung zu einer Stufe in der Binnendifferenzierung der Entgeltgruppe, etwa wegen Ablaufs des dort vorgesehenen Zeitraums. Auch wenn der Spielraum des Arbeitgebers bei einer Änderung eines Eingruppierungs- oder Stufenzuordnungsmerkmals gering ist, muss er den Betriebsrat an dieser – vielleicht unbedeutenden, gleichwohl zu treffenden – Zuordnungsentscheidung beteiligen.84 Das gilt grundsätzlich auch für die Fälle, in denen die Überleitung zu einem neuen Entgeltsystem von den Tarifvertragsparteien mit einer „Überleitungsmatrix“ versehen wird, wonach jedem bisher „eingruppierten“ Arbeitsplatz die neue tarifliche Wertigkeit unmittelbar zugeordnet wird,85 oder wenn die dem Arbeitnehmer übertragene Arbeitsaufgabe von einer Paritätischen Kommission abschließend tarifgerecht bewertet wurde;86 denn die Eingruppierung betrifft nicht die abstrakte Bewertung der Tätigkeit, sondern den betroffenen Arbeitnehmer. Erst wenn keinerlei Spielraum mehr besteht, also etwa bei der in einem (Haus-)Tarifvertrag geregelten unmittelbaren Zuordnung einer der neuen Entgeltgruppen zu den einzelnen Arbeitnehmern, entfällt die Pflicht zur Eingruppierung87 und damit auch die Pflicht zur Beteiligung des Betriebsrats.
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Eine Versetzung des Arbeitnehmers ist nach § 95 Abs. 3 BetrVG stets mit der Zuweisung eines anderen Arbeitsbereiches verbunden. Daher muss der Arbeitgeber auch in diesem Fall die Eingruppierung des Arbeitnehmers überprüfen.