Es ist Dein Ärger. Thubten Chodron. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thubten Chodron
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783958833203
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abhängt: den Handlungen anderer und unseren »Knöpfen«. Wenn wir unsere Knöpfe entfernen, gibt es nichts mehr, was andere drücken könnten! Das erfordert unsererseits natürlich viel innere Arbeit.

      Wenn wir unsere Knöpfe entfernen, beseitigen wir damit nicht unsere Ethik und unsere Werte. Wir ändern vielmehr die automatischen und gewohnheitsmäßigen Reaktionen, die uns so oft in einen Kreislauf von Wut und Konflikten mit anderen verstricken.

       Ein gutes Gegenmittel gegen Verletzlichkeit, Schuldgefühle und Selbstvorwürfe?

      Ist Ärger ein gutes Gegenmittel gegen Gefühle der Verletzlichkeit, der Schuld und der Selbstanklage, in Fällen von Missbrauch von Kindern, Vergewaltigung oder Scheidung zum Beispiel? Wenn wir wütend sind, mögen wir die Energie haben zu sagen: »Was diese Person mir angetan hat, ist unrecht!« So merkwürdig es sich anhören mag, aber unser Ego mag einen gewissen Trost darin finden, wütend zu sein: »Jetzt weiß ich, wer ich bin. Ich bin ein Opfer von Missbrauch, Vergewaltigung oder Ungerechtigkeit.« Wenn wir aber das Gefühl haben, Opfer zu sein, haben wir auch das Gefühl, für unseren inneren Frieden von anderen abhängig zu sein. Sobald uns daher bewusst geworden ist, dass jemand uns Schaden zugefügt hat, müssen wir vor jeglichem Ärger in Verbindung mit dieser Entdeckung auf der Hut sein.

      Anfangs mögen wir uns verwundbar fühlen, wenn wir von unserem »Schutzschild«, der Wut, ablassen. Ängste kommen zum Vorschein: »Mein Ärger ist gerechtfertigt. Wer bin ich denn, wenn ich ihn aufgebe? Bedeutet das nicht dasselbe wie zuzugeben, dass die andere Person recht hatte? Wie kann ich überhaupt meine Würde bewahren, wenn ich nicht empört bin über das, was andere mir angetan haben?« Wenn wir wütend sind, mögen wir ein Gefühl der Macht verspüren, doch diese Macht ist falsch, weil die Wut, die von Aversionen und Schuldzuweisungen lebt, auf einen Feind angewiesen ist. Echtes Selbstbewusstsein ist hingegen offen und frei von Abwehrhaltungen. Es beruht auf der Kenntnis unseres großen menschlichen Potenzials und der grundlegenden Reinheit unseres Geistes, nicht darauf, dass andere sich in irgendeiner bestimmten Weise verhalten.

      Um gesund zu werden, müssen wir über Groll und Vorwürfe hinauswachsen und zu einem Zustand des Friedens und der Akzeptanz in unserem Herzen finden, in dem wir gewillt sind, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen und unser Leben mit Vitalität und Mitgefühl weiterzuleben. Solch eine Heilung ist mit einem Prozess verbunden, der Zeit und Geduld mit uns selbst erfordert. Er kann nicht beschleunigt oder erzwungen werden.

      Wie können wir in Fällen von Missbrauch und Misshandlung, sei es auf persönlicher, gesellschaftlicher oder internationaler Ebene, von unserem Ärger ablassen? Eine Möglichkeit ist, unseren Ärger einschließlich des Schmerzes und der Angst, die ihn antreiben, anzuerkennen und zu akzeptieren und dabei festzustellen, dass es sich lediglich um geistige Vorgänge handelt, vorübergehende Gefühle, die in unserem Geist entstehen, nicht jedoch definieren, wer wir sind.

      Im Buddhismus üben wir, das Entstehen, Bestehen und Vergehen solcher Geistesfaktoren zu beobachten, ohne dabei die betreffenden Gefühle zurückzuweisen oder uns von ihnen überwältigen zu lassen. Ob wir ein Gefühl ablehnen oder daran festhalten, das Ergebnis ist dasselbe: Die Emotion hat uns unter Kontrolle. Wenn wir einer Emotion erlauben können, zu sein, ohne sie dabei abzuwehren oder uns auf ihre Geschichte einzulassen, wird sie allmählich ihre Macht über uns verlieren.

       Unentbehrlich für sportlichen Erfolg?

      Sportfans behaupten, Wut helfe, das Spiel zu gewinnen. Ist es aber nützlich, sich so auf das Gewinnen zu konzentrieren? Ist es die Sache wert, eine negative Eigenschaft zu verstärken, nur um eine Trophäe zu ernten? Unser Geist wird sehr eng, wenn wir dieses »wir gegen die anderen« regelrecht betonieren. »Meine Mannschaft muss gewinnen! Wir müssen kämpfen und den Feind schlagen!« Warum? »Weil meine Mannschaft die beste ist, und das ist so, weil sie meine ist.« Natürlich denkt das andere Team genauso. Und wer hat recht? Wettkampfsportarten mögen eine sozial akzeptierte Form sein, Wut abzureagieren, sie heilen sie aber nicht. Vorübergehend lösen sie die physische Energie, in Wirklichkeit erzeugen sie jedoch unter Umständen mehr Aggressionen. Und wir gehen immer noch dem eigentlichen Problem aus dem Weg, unseren falschen Vorstellungen von Menschen und Situationen.

      Können Athleten Spitzenleistungen erbringen, wenn sie nicht von der Energie der Wut angestachelt werden? Ja. Sie können sich darauf konzentrieren, ihr Bestes zu geben, anstatt um jeden Preis gewinnen zu müssen. Ob sie dann gewinnen oder verlieren, in jedem Fall werden sie Befriedigung durch die Verbesserung ihres Könnens, durch die körperliche Anstrengung, die Kameradschaft und den Teamgeist empfinden.

       Eine biologische Schutzreaktion?

      Manche Leute behaupten, dass jeder natürlicherweise und automatisch Wut als Reaktion auf zugefügten Schaden empfinde. Sie sei biologisch »fest in uns verankert«. Wut trage zum Überleben unserer Spezies bei, denn sie helfe, uns wirkungsvoll zu verteidigen. Ohne sie würden wir dastehen und zulassen, dass uns oder unseren Lieben Leid zugefügt wird. In der Tat waren Wut, Wettkampf und der Beweis der eigenen Macht über andere das unverzichtbare Instrumentarium der Evolution, um das Überleben des Stärkeren zu sichern. Natürlich, so sagen sie, nimmt die Wut manchmal überhand, d. h., die eigentliche Frage ist nicht, wie Ärger beseitigt werden kann, sondern wie man ihn gegenüber der richtigen Person zu rechten Zeit angemessen zum Ausdruck bringt.

      Obwohl unter gewissen Gesichtspunkten die oben genannten Argumente einleuchten, nimmt der Buddhismus einen anderen Standpunkt dazu ein. Die erfolgreichsten Spezies, sagt er, sind die, in welchen die größte Kooperation herrscht. Eine einzige Ameise kann beispielsweise nicht alleine leben. Wenn die Ameisen innerhalb einer Kolonie den größten Teil ihrer Energie darauf verwendeten, gegeneinander zu kämpfen, hätten sie sich bald selbst zerstört. Sie brauchen sich gegenseitig für ihr Überleben, und sie kooperieren ausgiebig miteinander. Nehmen Sie sich einmal die Zeit, eine Ameisenkolonie zu beobachten. Die Ameisen hasten mit Baumaterialien und Nahrung hin und her, die ein Vielfaches ihres eigenen Körpergewichtes wiegen. Sie zeigen sich gegenseitig, wohin man laufen muss, damit niemand verloren geht, und sie arbeiten miteinander, um das Überleben und Gedeihen der Gruppe zu gewährleisten.

      Ähnlich haben auch wir Menschen Schwierigkeiten, alleine zu leben. Im einundzwanzigsten Jahrhundert sind wir abhängiger voneinander als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Vor Hunderten von Jahren bauten Menschen ihre eigene Nahrung an, nähten ihre eigene Kleidung und bauten ihre eigenen Wohnstätten. Heutzutage weiß der größte Teil der Menschen in den entwickelten Ländern nicht, wie sie diese Arbeiten zum eigenen Bedarf ausführen sollten. Wir sind für unser Überleben aufeinander angewiesen, was eine Zusammenarbeit zwingend erforderlich macht. Trotz unserer menschlichen Intelligenz sieht es allerdings manchmal so aus, als seien diese winzigen Ameisen um einiges gescheiter