Eine gewisse Art von »Wettkampf« ist gut, aber nicht mit anderen Lebewesen, von denen unser Überleben und unser Glück abhängig sind, sondern mit unserer eigenen Unwissenheit und unseren gefühllosen Einstellungen, die unsere wirklichen Feinde sind. Wir können die Motivation entwickeln, uns selbst und unsere Welt zu verbessern, weil uns dies wichtig ist, nicht weil wir unbedingt die Nummer eins sein wollen.
Obwohl eine Bedrohung eine biologische Reaktion auslösen kann, ist diese Reaktion nicht unbedingt zuträglich, noch ist sie dem Menschen immanent. Wie oben erwähnt, beginnt die Wut mit einer unangemessenen Betrachtung, die Ereignisse in verzerrter Weise interpretiert. Daraufhin produziert der Körper Adrenalin. Mit dem Geist als motivierendem Faktor und dem Körper als mitwirkendem Umstand kommt daraufhin gewaltsames Verhalten zum Ausbruch. Wenn auf der anderen Seite die Unwissenheit, die dem Ärger zugrunde liegt, durch den Einsatz geeigneter Gegenmittel beseitigt wird, treten diese Reaktionen im Geist nicht mehr auf, und der Teufelskreis kommt zum Stillstand. Wenn wir die gestörten Geistesfaktoren, die uns binden, eliminieren, wird sich unsere Beziehung zu unserem Körper und unserem Leben ändern. Wir können uns und andere dann weiterhin vor Gefahren schützen, werden es jedoch ohne Antipathie gegenüber der Person tun, die uns den Schaden zufügt. Tatsächlich ist es so, dass ein Geist, der frei ist von Ärger, viel schneller zu einer Lösung findet.
Eine positive oder notwendige Triebfeder für soziale Veränderungen?
Obwohl Wut uns die Energie verleihen kann, soziale Ungerechtigkeit zu korrigieren oder zu verhindern, kann man sie nicht als positive Triebfeder für soziale Veränderungen werten, weil es unseren Geist dem Geist derer gleichsetzt, gegen die wir uns stellen. Als Studentin sah ich das recht eindeutig bei einem Protest gegen den Vietnamkrieg, bei dem ein anderer Student einen Stein aufhob und ihn gegen das ROTC*-Gebäude warf. Obwohl ich noch nicht Buddhistin war, zuckte ich bei der Handlung dieser Person innerlich zusammen. Er war genau so geworden wie die Leute, gegen die er protestierte.
Unabhängig von unseren Gründen wird unser Geist wie ihrer, wenn wir unsere Unterdrücker hassen. Sowohl sie als auch wir sind wütend. Beide betrachten wir unsere eigene Position als richtig und die des anderen als falsch. Beide tun wir uns schwer damit, uns die Bedürfnisse und Interessen der anderen Seite anzuhören. Beide denken wir, der andere sollte sich ändern. Wenn wir mit einer solch selbstgerechten Entrüstung an einen Konflikt herangehen, brechen jede Kommunikation und die Bereitschaft zur Kooperation und zum Kompromiss zusammen.
Ist Wut die einzige Motivation, die uns die Energie verleihen kann, schädliche Situationen zu korrigieren? Nach buddhistischer Auffassung ist sie es nicht. Mitgefühl, d. h. der Wunsch, dass andere von Schwierigkeiten und Verwirrung frei sein mögen, ist nicht nur eine mächtige motivierende Kraft, sondern auch eine Kraft, die ausgewogener, realistischer und wirkungsvoller ist als Ärger. Auch wenn wir anfangs mit Wut auf Ungerechtigkeit reagieren mögen, können wir, wenn wir die Techniken anwenden, die in den folgenden Kapiteln beschrieben werden, unsere Haltung in eine mitfühlendere Einstellung transformieren, bevor wir handeln.
Viele Jahre lang lebte ich im Nordwesten der USA, wo das Abholzen von Wäldern an der Tagesordnung ist. Als das Abholzen in der Nähe eines Retreat-Zentrums begann, das unsere spirituelle Gemeinschaft regelmäßig benutzte, tat es besonders weh, dieser Entwaldung zuzusehen, und einige der Retreat-Teilnehmer wurden jedes Mal aggressiv, wenn ein Lastwagen mit dem gefällten Holz vorbeikam. Ein Autoaufkleber jedoch mit der Aufschrift: »Umarme keinen Baum, umarme einen Holzarbeiter«, brachte mich dazu zu denken: »Die Holzfäller wollen glücklich sein und Leid vermeiden, genau wie das Rotwild, das sie vertreiben, und die Retreat-Teilnehmer, die dem Wald nachweinen. Viele von ihnen werden ihre Arbeit wahrscheinlich nicht einmal gern machen. Es mag sein, dass ich nicht einverstanden bin mit der Politik der Firmen, für die sie arbeiten, ich muss aber deswegen weder die Holzarbeiter noch ihre Chefs hassen.« Obwohl ich damit fortfuhr, Petitionen gegen die Abholzung zu unterschreiben und mich gegen die Entwaldung einzusetzen, begann ich, den vorbeifahrenden Holzfällern zuzuwinken. Warum auch nicht? Sie lächelten und winkten zurück.
Manchmal verwechseln wir Mitgefühl mit Passivität, Sentimentalität oder einem blinden Idealismus. Aus buddhistischer Perspektive ist es nichts von alledem. Mitgefühl ist eine Haltung, die erkennt, dass der Wunsch des anderen, glücklich zu sein und Schwierigkeiten zu vermeiden, genau so intensiv und wert ist respektiert zu werden, wie unser eigener. Andere mögen konfus sein und schädliche Methoden bei ihrem Bemühen benutzen, glücklich zu sein. Dem muss abgeholfen werden, ihr Wunsch nach Glück jedoch muss gewürdigt werden. Wenn wir sehen, dass sowohl Opfer wie auch Täter eines zugefügten Schadens gleichermaßen glücklich und frei von Leid sein möchten, können wir eingreifen, um eine unzuträgliche Situation mit Mitgefühl für beide Seiten zu beenden, nicht etwa mit Mitgefühl für die Opfer und Rachegefühl gegenüber den Tätern.
Im Jahre 1989 fragte ein Journalist Seine Heiligkeit den Dalai Lama: »Warum sind Sie nicht wütend nach der massiven Zerstörung, die die chinesische kommunistische Regierung in ihrem Land und unter ihrem Volk angerichtet hat? Wie können Sie dem tibetischen Volk sagen, es solle Mitgefühl mit seinen Unterdrückern haben?« Seine Heiligkeit antwortete: »Welchen Nutzen hätte es denn, sich zu ärgern? Wenn ich wütend würde, könnte ich nachts nicht mehr schlafen oder meine Mahlzeiten in Ruhe essen. Ich würde Magengeschwüre bekommen und meine Gesundheit würde leiden. Meine Wut könnte die Vergangenheit nicht ändern oder die Zukunft verbessern, wozu wäre sie also gut? Mit Mitgefühl aber können wir Tibeter aktiv werden, um die Situation zu verbessern.«
Eine bessere Wahl als Vergebung?
Manchmal haben wir das Gefühl, dass Menschen zu verzeihen, die uns Leid zugefügt haben, gleichbedeutend damit ist, ihr schädliches Verhalten zu akzeptieren. Wütend auf sie zu bleiben, scheint daher die einzige Möglichkeit, unsere fortgesetzte Missbilligung ihres Verhaltens zum Ausdruck zu bringen. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Eine Person und ihr Verhalten sind zwei verschiedene Dinge. Wir können nicht sagen, dass eine Person schlecht ist, auch wenn ihr Verhalten oder ihre Absichten schädlich sind. Aus buddhistischer Perspektive hat jedes Lebewesen das angeborene Potenzial, ein vollkommen erleuchteter Buddha zu werden. Jede Person hat etwas innerlich Gutes, das nie zerstört werden kann, unabhängig davon, wie schlecht er oder sie sich verhalten mag. Wir können also vergeben und von unserem Ärger gegenüber der Person, die uns geschadet hat, ablassen und gleichzeitig die Ansicht aufrechterhalten, das ihr Verhalten verletzend und inakzeptabel war und künftig nicht fortgesetzt werden sollte.
Zu vergeben bedeutet nicht, schädliches Verhalten zu tolerieren oder in einer misslichen Situation auszuharren. Es heißt auch nicht, dass wir der anderen Person mitteilen müssen, dass wir ihr vergeben haben, falls sie unsere Nachsicht missverstehen und dadurch ihr negatives Verhalten wiederaufnehmen könnte. Von Mitgefühl motiviert, können wir starke Maßnahmen ergreifen, Schaden zu verhindern oder auszuschalten. Zu vergeben macht uns also nicht zu »Softies«.
Vergeben tut uns selbst und anderen gut. Wenn wir an unserem Ärger festhalten, sind wir angespannt und unzufrieden, und das wirkt sich auf unsere Beziehungen und unsere körperliche Gesundheit aus. Indem wir vergeben, lassen wir von unserem Ärger ab und machen so unserem eigenen Leid ein Ende. Wir verhindern auch, in die Rolle des Täters zu verfallen, was Opfer häufig tun, und auf diese Weise beenden wir den Kreislauf des Schädigens und Geschädigtwerdens.
Natürlich können wir uns nicht dazu zwingen, unseren Ärger aufzulösen oder jemandem zu verzeihen. Manchmal kann es sein, dass wir einer Person oder Situation, die Anspannung bei uns auslöst, erst einmal körperlich aus dem Weg gehen oder etwas geistige Distanz zu ihr bekommen müssen. Indem wir dann die Gegenmittel zum Ärger praktizieren, können wir ihn allmählich