Es ist Dein Ärger. Thubten Chodron. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thubten Chodron
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783958833203
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dem Gesicht auf ihn zuging, breitete der Dalai Lama die Arme aus und drückte sie fest an seine Brust. Das Mädchen kehrte daraufhin strahlend an ihrem Platz zurück.

      Nach dem Vortrag fragte einer der Sponsoren, ob die Jugendlichen ihre Erfahrung mitteilen wollten. Ein untersetzter junger Mann von derbem Aussehen trat mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht ans Mikrophon. »Puh«, sagte er. »Ihr müsst ja von eurem Platz aus hören können, wie mein Herz schlägt! Ich habe den Dalai Lama im Fernsehen und in Zeitschriften gesehen, und ich dachte, er ist ziemlich cool, aber ich kann nicht beschreiben, wie es sich anfühlt, ihm begegnet zu sein!«, und er fasste sich ans Herz.

      Ein tibetischer Mönch, der nur einige Jahre zuvor aus dem kommunistisch besetzten Tibet geflohen war, erzählte mir seine Geschichte. Seine Familie war eine der wohlhabenden und prominenten der Gegend in Tibet gewesen, in der er aufgewachsen war. Nach der kommunistischen Besetzung Tibets im Jahre 1950 und dem darauf folgenden erfolglosen Aufstand im Jahre 1959 wurde sein Elternhaus konfisziert und zu einem Gefängnis umfunktioniert. Weil die Mitglieder seiner Familie Landbesitzer waren und er ein Mönch, wurde er von den chinesischen Kommunisten inhaftiert und wurde Gefangener in dem Haus, das vordem sein Zuhause gewesen war. Er und seine anderen Mitgefangenen durften zweimal am Tag zur Toilette nach draußen gehen, ansonsten hatten sie im Haus zu bleiben, das nunmehr kaputte Fenster und keine der früheren Bequemlichkeiten mehr aufwies. Angesichts solcher Ungerechtigkeit und Demütigung wären die meisten Menschen vermutlich außer sich gewesen vor Wut. Dieser Mönch dagegen erzählte mir, wie er sich bemüht habe, seine Zeit klug zu nutzen, indem er seiner Meditationspraxis nachging, um seinen Geisteszustand zu verbessern. Es waren ihm zwar alle religiösen Gegenstände genommen worden, doch rezitierte er still die Texte, die er auswendig kannte, und dachte über ihre Bedeutung nach. So machte er seinen Geist mit Einstellungen und Emotionen vertraut, die zur Erleuchtung führen, und vermied es, sich in Hass zu verstricken. Während ich mit ihm sprach, bemerkte ich keinerlei Zeichen von Verbitterung gegenüber den chinesischen Kommunisten. Er hatte ganz einfach eine tiefe Liebe zum Leben.

      Geschichten wie diese geben uns zu denken: »Wie machen diese Leute das?« Sie sind Menschen genau wie wir, doch obwohl sie härteren Umständen ausgesetzt waren als wohl irgendjemand von uns, darunter Vertreibung, Gefangenschaft, Folter und der Verlust vieler lieber Menschen, sind sie weder von Zorn noch von Rachsucht bestimmt.

      Dieses Buch ist im Großen und Ganzen eine Zusammenstellung buddhistischer Methoden, um Wut in all ihren Facetten zu verhindern und zu überwinden, Methoden, die sich für den Dalai Lama, den oben genannten Mönch und viele andere in ihrem Leben als wirksam und nützlich erwiesen haben.

      Nichts an diesen Methoden ist spezifisch »buddhistisch«. In der Tat sind viele der Lehren des Buddha viel eher gesunder Menschenverstand als religiöse Doktrin, und keine Religion hat den gesunden Menschenverstand für sich allein gepachtet. Vielmehr sind es vernünftige und nützliche Methoden, unser Leben zu leben. Unabhängig davon, welcher Religion wir angehören, es ist in jedem Fall hilfreich, unseren Geist zu beobachten und zu lernen, mit unserem Ärger umzugehen.

      Der Buddhismus ist auch eine »Wissenschaft des Geistes« genannt worden. Viele von denen, die ihn praktizieren, sagen über den Buddha, dass er im Grunde ein großer Therapeut gewesen sei, der praktische Methoden vermittelte, mit störenden Einstellungen, negativen Emotionen und Problemen des täglichen Lebens umzugehen. Natürlich geht der Buddhismus über die Zielsetzungen der Psychotherapie hinaus und unterscheidet sich in einigen entscheidenden Punkten von ihr. Nichtsdestotrotz handelt er, genau wie die Psychotherapie, vom menschlichen Geist und menschlichen Emotionen, und genau wie sie ist er bemüht, zufriedenere Menschen und eine bessere Gesellschaft hervorzubringen.

      Am liebsten würden wir natürlich sofort in die praktischen Anwendungen des Ärger-Managements eintauchen. Weil aber die praktischen Anwendungen im Kontext der buddhistischen Auffassung von Geist und Emotionen dargelegt werden, sind einige Hintergrundinformationen zu diesem Thema für ein besseres Verständnis zunächst hilfreich.

       Die buddhistische Perspektive auf Geist und Emotionen

      Der Begriff »Geist« bezieht sich auf den erfahrenden, erkennenden, intellektuellen, wahrnehmenden und empfindenden Teil in uns. Er ist seiner Natur nach immateriell, während unser Körper, der aus Atomen besteht, von materieller Natur ist. Innerhalb der großen Kategorie Geist finden wir verschiedene Geistesarten. Unter ihnen haben wir die verschiedenen Arten von Sinnesbewusstsein, die äußere Objekte, wie sichtbare Formen, Töne, Gerüche, Geschmäcker und Berührbares, wahrnehmen, und unser geistiges Bewusstsein, das denkt, träumt, schläft und spirituelle Realisationen erfahren kann.

      Ärger ist wie alle Emotionen eine Geistesart. Er ist ein Geistesfaktor, der unser begriffliches geistiges Bewusstsein begleitet. Das bedeutet, dass er auf der geistigen Ebene beeinflusst, unterbunden oder angeregt werden kann. Auch Geduld, Liebe, Mitgefühl und Freude sind gleichermaßen Geistesfaktoren, die wohlgemerkt jedoch nicht gleichzeitig mit dem Ärger auftreten. Auch sie können auf geistiger Ebene verstärkt oder reduziert werden. Aus diesem Grunde betonte der Buddha, dass die Quelle all unserer Leiden und Freuden unser Geist sei.

      »Geist« kann auch mit »Herz« übersetzt werden, so wie wenn wir zum Beispiel sagen: »Dieser Mensch hat ein gutes Herz.« Wir sehen hier, dass der Buddhismus nicht dieselbe Unterscheidung zwischen Denken und Fühlen macht wie wir westlichen Menschen, die der Ansicht sind, dass Gedanken begrifflicher Natur seien, Emotionen dagegen nicht. In der Tat hat keine der Sprachen – Sanskrit, Pali oder Tibetisch –, in denen buddhistische Texte niedergeschrieben sind, ein Wort, das die direkte Übersetzung von »Emotion« wäre. Aus buddhistischer Sicht haben viele Emotionen, wie beispielsweise Ärger, eine Gefühlskomponente, sind dabei aber begrifflicher Natur, d. h., sie kennen ihr Objekt mithilfe eines geistigen Bildes. Wir können zum Beispiel wütend sein, während die Person, auf die wir wütend sind, sich nicht im selben Raum befindet. In diesem Moment nehmen wir die Person nicht mit den Augen wahr, vielmehr denken wir auf eine Weise an sie, dass in unserem Bewusstsein ein geistiges Bild der Person erscheint.

       Was ist Ärger?

      Im Buddhismus ist Ärger (Tibetisch: khong khro) ein Geistesfaktor, der unfähig ist, eine Person, einen Gegenstand, eine Situation oder Idee zu ertragen, und Feindseligkeit oder den Wunsch hegt, dem betreffenden Objekt Schaden zuzufügen. Ärger umspannt eine ganze Reihe von Emotionen wie Verdruss, Gereiztheit, Frustration, Gehässigkeit, Streitlust, Groll, Hass, Wut und Zorn. Wenn auch das deutsche Wort »Ärger« ganz gelegentlich in einem positiven Sinne verwendet wird, meint Ärger hier eine der grundlegenden (wörtlich: »Wurzel-«) störenden Emotionen und hat damit ausschließlich negative Bedeutung.

      Vorläufer des Ärgers ist ein Geistesfaktor, den man »unangemessene Betrachtung« nennt und der in diesem Falle die negativen Eigenschaften einer Person, eines Objekt, einer Situation oder einer Idee entweder übertreibt oder auf diese nicht vorhandene negative Eigenschaften projiziert und so eine unwahre Geschichte dazu erfindet. Dave kommt beispielsweise eines Morgens ins Büro spaziert und seine Kollegin, die gerade mit etwas anderem beschäftigt ist, grüßt ihn nicht. Daraufhin denkt er: »Das ist aber wirklich eine unfreundliche und unhöfliche Person.« Aufgrund dieser unangemessenen Betrachtung, die in die Handlung der anderen Person Absicht und Motivation hineininterpretiert, wird er ungehalten. Seine innere Verärgerung führt zu einer äußeren Handlung, und Dave macht eine sarkastische Bemerkung. Diese verletzt seine Kollegin, und sie schnauzt ihn ihrerseits an. Hier ist leicht zu sehen, wie ein Augenblick unangemessener Betrachtung und Ärger eine Kettenreaktion von Vorgängen auslösen kann, die uns selbst und anderen Leid zufügen.

      Auf einem Treffen Seiner Heiligkeit des Dalai Lama mit westlichen Wissenschaftlern, bei dem destruktive Emotionen diskutiert wurden, habe ich gelernt, dass Wissenschaftler im Allgemeinen drei Komponenten von Emotionen beschreiben: einen Gefühlsanteil, einen physiologischen und einen Verhaltensanteil. Für sie beinhaltet »Ärger« also nicht nur ein Gefühl, sondern auch die physiologische Aktivierung bestimmter Hirnareale und die Ausschüttung bestimmter Hormone im Körper. Außerdem gehört ein bestimmtes Verhalten dazu, wie Schreien oder Schmollen, das mit einem bestimmten Ärger einhergeht.