Es ist Dein Ärger. Thubten Chodron. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thubten Chodron
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783958833203
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Jeder empfand das Betragen des Sohnes als unerträglich, doch niemand wagte, sich beim König darüber zu beschweren. Nach einiger Zeit jedoch wurde der König selbst darauf aufmerksam und sah sich nach Hilfe um. Die besten Therapeuten nahm er in seine Dienste, doch sie waren außerstande, das Verhalten des Knaben unter Kontrolle zu bringen. Auch die lokalen Sportgrößen, die Wunderheiler und Unterhaltungskünstler vermochten es nicht. Stattdessen wurde das Betragen des Kindes mit jedem Tage aufsässiger.

      Da kam eines Tages ein Mönch in die Stadt, um Almosen zu sammeln. Die Boten des Königs beobachteten, wie er gemessen und achtsam einherschritt, und baten ihn, den König aufzusuchen. Der Mönch, der spirituell völlig verwirklicht war, lehnte diese Gelegenheit, sich Ruhm und Reichtum zu erwerben, mit den Worten ab: »Ich bin nicht mehr an ein weltliches Leben gebunden und habe daher mit einem weltlichen König nichts zu besprechen.«

      Als man ihm von der Lauterkeit des Geistes dieses Mönches berichtete, ging der König zu ihm, um ihm die gebührende Ehre zu erweisen, und fragte ihn, ob er irgendetwas benötige. Der Mönch aber sagte, dass er nichts weiter begehre, als sich im nahe gelegenen Wald aufzuhalten, worauf der König erwiderte: »Das ist mein Wald, bitte haltet Euch daher ohne Sorge dort auf. Wir werden Euch jeden Tag mit Speisen versorgen und Eure Meditation nicht stören. Nur bitte ich darum, mir zu erlauben, Euch meinen Sohn zu Besuch zu bringen. Er ist ein großer Unheilstifter, und ich weiß keinen Rat, was ich mit ihm anfangen soll.« Der Mönch gab nickend seine Zustimmung.

      Am nächsten Tag fanden der König und sein Sohn sich mit dem Wagen im königlichen Wald ein. Während der König zum Palast zurückkehrte, gingen der Mönch und der Knabe im Wald spazieren. Da kamen sie auf einmal an einem kleinen Neem-Baum, und der Mönch bat den Prinzen, ein Blatt abzupflücken und davon zu kosten. Der Junge tat wie ihm geheißen und spuckte das bittere Blatt sofort angewidert aus. Wütend bückte er sich, packte den jungen Baum gewaltsam beim Stamm und riss ihn mitsamt der Wurzel aus.

      Da sagte der Mönch zu ihm: »Mein Kind, du wusstest, dass dieser Schössling einst ein großer Baum geworden wäre und, wenn er weitergelebt hätte, künftig noch viel bitterer gewesen wäre. Aus diesem Grund hast du ihn ausgerissen. Genauso denken die Minister, königlichen Beamten und Palastbewohner jetzt auch: ›Dieser junge Prinz ist so bitter und so ärgerlich. Wenn er größer wird, wird er noch bösartiger und grausamer zu uns werden.‹ Wenn du nicht Acht gibst, werden sie dich aus deiner Königsherrschaft reißen, sobald sie können.« Da verstand der Prinz die Belästigung, die er anderen zugemutet hatte, und auch die Konsequenzen, die sich daraus für ihn selbst ergaben, und er beschloss, seine Einstellung und sein Betragen zu ändern. Obwohl es ihn Mühe kostete, wusste er, dass es für das Glück aller Beteiligten war, und während er sich änderte, hörten andere auf, negativ auf ihn zu reagieren, und begannen ihn zu lieben und zu respektieren.

      In einer moderneren Begebenheit erzählte mir Floyd von seinen Vergehen als Verkehrsrowdy. Als er einmal mit seiner Verlobten auf der Autobahn unterwegs war, schnitt ihn ein anderer Fahrer. Vor Wut außer sich, beschleunigte er, überholte das andere Fahrzeug und fuhr absichtlich vor ihm Schlangenlinien. Wegen der hohen Geschwindigkeit verlor er jedoch die Kontrolle über seinen Wagen. Das Auto schlitterte über alle Fahrspuren hinweg und schleifte an der Leitplanke entlang, bevor er es zum Stehen bringen konnte. Blitzartig wurde ihm bewusst, dass seine Wut um ein Haar seine Verlobte ums Leben gebracht hätte, und tiefe Reue befiel ihn. Danach hörte er auf damit, die schlechten Fahrgewohnheiten anderer als persönliche Beleidigung zu interpretieren. Wer weiß, wie viele gerettete Leben diesem Gesinnungswandel zu verdanken sind?

       3

       Geduld, die Alternative

      Weil Ärger und andere destruktive Emotionen nicht die Natur unseres Geistes/Herzens sind, können sie durch die Entwicklung von Geduld, Liebe, Mitgefühl und Weisheit reduziert und letztendlich ganz aus unserem Geistkontinuum beseitigt werden. Viele Menschen, die wir bewundern, Buddha, Jesus, Mahatma Gandhi und andere, waren in der Lage, angesichts von Schaden innerlich ungestört zu bleiben und dabei äußerlich zu Gunsten anderer zu arbeiten. Sie drückten ihren Ärger weder aus, noch unterdrückten sie ihn, er war einfach nicht da, weil sie ihn ganz in Toleranz und Mitgefühl verwandelt hatten.

      Das bedeutet, dass es eine Alternative dazu gibt, Ärger auszudrücken oder zu unterdrücken. Wenn wir unserem Ärger Ausdruck verleihen, kann es leicht geschehen, dass unsere Worte und Taten andere verletzen. Darüber hinaus werden wir den Ärger dadurch nicht einmal los. Im Gegenteil, jedes Mal, wenn wir unsere Aggressionen zum Ausdruck bringen, und sei es nur dadurch, dass wir heftig auf ein Kissen einschlagen oder in menschenleerer Landschaft so laut wir können schreien, stärken wir in uns die Gewohnheit, ihre rohe Energie zu spüren und auszuleben. Und was, wenn eines Tages kein Kissen zur Hand ist, auf das wir einschlagen, und kein Feld in der Nähe, auf dem wir schreien können, und wir stattdessen nur von Menschen umgeben sind?

      Auf der anderen Seite verschwindet Ärger auch nicht dadurch, dass wir ihn unterdrücken. Es ist immer noch möglich, dass er zum Ausbruch kommt, und zwar manchmal gerade dann, wenn wir am wenigsten dazu bereit sind, mit ihm fertig zu werden. Das Unterdrücken von Ärger kann uns außerdem körperlich und geistig Schaden zufügen. Ärger auszudrücken ist das eine Extrem, und Ärger zu unterdrücken das andere, in beiden Fällen jedoch bleibt die Gewohnheit, sich zu ärgern, auf die eine oder andere Weise bestehen.

      Geduld ist eine Alternative. Sie ist die Fähigkeit, angesichts von Schaden oder Schwierigkeiten innerlich ruhig und ungestört zu bleiben. Das Sanskrit-Wort »ksanti« hat im Deutschen keine völlig zutreffende Entsprechung. Wir verwenden hier den Begriff »Geduld«, darüber hinaus beinhaltet »ksanti« aber auch Toleranz, innere Ruhe und Ausdauer. Wenn wir also hier von Geduld sprechen, dann sind diese Qualitäten mit enthalten.

      Geduld haben bedeutet nicht, ein künstliches Lächeln aufzusetzen, während innerlich der Hass brodelt. Sie bedeutet, die Ärgerenergie aufzulösen, sodass sie nicht mehr da ist. Danach können wir dann mit klarem Geist verschiedene Alternativen prüfen und entscheiden, was zu tun oder zu sagen ist, um das Problem zu lösen.

      Wenn wir von Geduld und Ärger sprechen, müssen wir zwischen inneren Einstellungen und äußeren Handlungen unterscheiden. Geduld kann sich in Form von ganz unterschiedlichen Verhaltensweisen manifestieren. Sie schafft den geistigen Raum, um das für die jeweilige Situation angemessene Verhalten zu wählen. Es mag vorkommen, dass wir uns anderen gegenüber gelegentlich heftig ausdrücken, weil es im Augenblick die wirkungsvollste Art und Weise ist, in der wir mit ihnen kommunizieren können. Wenn zum Beispiel ein Mädchen auf der Straße spielt und ihr Vater sanft zu ihr sagt: »Susi, Liebes, würdest du bitte nicht auf der Straße spielen?!«, so wird sie ihn vermutlich ignorieren. Schlägt er dagegen einen heftigeren Ton an, ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass seine Worte Eindruck machen und sie gehorcht. Sein Geist kann währenddessen innerlich jedoch durchaus ruhig und mitfühlend sein. Das Kind wird den Unterschied spüren zwischen seinen Worten, wenn er ruhig, und denselben Worten, wenn er ungehalten ist.

      In anderen Situationen wird eine geduldige Haltung sich in Form eines ruhigen Verhaltens manifestieren. Statt den Spott eines Passanten zu erwidern, entschließt Bob sich zum Beispiel dazu, nicht darauf zu reagieren. Er tut das weder aus Schwäche noch aus Furcht, sondern aufgrund der klugen Entscheidung, einer potenziell aggressiven Situation keine Nahrung zu geben.

      Genauso kann Ärger sich in Form verschiedener Verhaltensweisen manifestieren. Gary explodiert, wenn er wütend ist. Er schreit, flucht, und man weiß, dass er gelegentlich auch schon mit Dingen geworfen hat. Karen dagegen zieht sich zurück. Sie geht in ihr Zimmer, schließt die Tür zu und weigert sich zu sprechen. Es kommt vor, dass sie tagelang schmollt. Beide Personen sind ärgerlich, manifestieren ihren Ärger jedoch in Form gänzlich unterschiedlicher Verhaltensweisen: der eine aggressiv, die andere passiv.

       Die Vorteile der Geduld

      Ein gängiger Irrtum im Westen ist, Geduld mit Passivität gleichzusetzen. Wenn wir jedoch richtig verstehen, was Geduld bedeutet, d. h. wenn wir erkennen, dass es sich dabei um eine innere