Psychologen sprechen von einer Refraktärperiode, die mit einer Emotion einhergeht. Während dieser Zeit verschließen wir uns jeglichem Rat und jeder vernünftigen Interpretation, die unserer Ansicht widerspricht. Wir sind weder imstande, klar über die Situation nachzudenken, noch, andere Interpretationen zuzulassen, die wohlmeinende Mitmenschen anzubieten haben. Diese Refraktärzeit mag nur kurz dauern, d. h. einige Sekunden, oder aber sehr lang, d. h. Jahre oder gar Jahrzehnte, anhalten. Wenn die Emotion sich legt und wir in der Lage sind, die Ereignisse genauer zu betrachten, sehen wir wie Diana, dass die Interpretation des Ärgers falsch war.
Ärger ist also nicht zutreffend in seiner Beurteilung der Realität, insofern als er die Situation nicht in ausgewogener Weise, sondern durch den verzerrten Filter von »ich«, »mich« und »mein« wahrnimmt. Obgleich wir glauben, dass die Situation tatsächlich objektiv »da draußen« existiert, genau so, wie sie uns erscheint, sehen wir sie jedoch, wenn wir wütend sind, in Wirklichkeit durch den Filter unserer Ichbezogenheit. Wenn der Chef meine Kollegin kritisiert, ist es gut möglich, dass ich mich nicht ärgere. Es kann sein, dass ich meine Kollegin sogar tröste, indem ich ihr sage: »Nimm es nicht so persönlich, was der Boss sagt. Ist doch keine große Sache. Er ist eben sehr unter Druck und muss ein bisschen Dampf ablassen. Das hat überhaupt nichts mit dir zu tun, morgen ist er schon wieder ganz anders.« Wenn der Chef aber mich kritisiert, dann bin ich aller Wahrscheinlichkeit nach auf der Palme. Die Situation scheint mir dann ungeheuer ernst. Alles, was meine Freunde dazu sagen, weise ich weit von mir und bleibe im Schmollwinkel. Realistisch betrachtet gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen den Worten, die der Chef zu meiner Kollegin, und denen, die er zu mir gesagt hat. Warum aber fahre ich dann aus der Haut, wenn er bei diesen Worten mich, nicht dagegen, wenn er meine Kollegin ansieht? Weil ich es bin und weil, so ungern ich es auch zugeben möchte, ich doch das Gefühl habe, dass alles, was mir geschieht, sehr viel wichtiger ist als das, was irgendjemand anderem widerfährt.
Aufgrund dieser eingefleischten, egozentrischen Sicht der Dinge erscheint alles, was in Bezug auf mich geschieht, von vordringlicher Wichtigkeit. Ich verbringe meine Zeit damit, über meine Probleme nachzudenken, nicht etwa über die Probleme eines anderen, es sei denn, ich hänge an dieser anderen Person. Es könnten Menschen in dieser Welt verhungern, mein Nachbar könnte eine herzzerreißende Scheidung durchmachen, bei einem Kollegen könnte Krebs diagnostiziert werden – sobald ich ihr Pech jedoch flüchtig zur Kenntnis genommen habe, wende ich mich wieder der eigentlichen Krise zu: der Kritik, die ich bekommen habe. Auf den ersten Blick mag das wie eine etwas banale oder flapsige Beschreibung wirken; nehmen wir aber einmal ernsthaft die Gedanken unter die Lupe, mit denen wir unsere Zeit verbringen, werden wir sehen, dass meine Probleme, mein Leben, d. h. alles, was irgendwie mit mir in Zusammenhang steht, den allerersten Rang einnimmt.
Ist Ärger nützlich?
Im Allgemeinen betrachten wir etwas als nützlich, wenn es unserem Glück zuträglich ist. Wenn wir uns aber fragen: »Bin ich eigentlich glücklich, wenn ich ärgerlich bin?«, ist die Antwort zweifellos: »Nein.« Aus physiologischen Gründen empfinden wir möglicherweise einen gewissen Energieschub, emotional jedoch fühlen wir uns dabei miserabel. Das heißt, wir können aus eigener Erfahrung sagen, dass Ärger nicht glücklich macht.
Zudem kommunizieren wir nicht gut, wenn wir wütend sind. Es kann vorkommen, dass wir sehr laut werden, so, als wäre die andere Person schwerhörig. Vielleicht wiederholen wir uns, so, als hätte sie Gedächtnisprobleme. Das ist aber keine gute Kommunikation. Gute Kommunikation beinhaltet, sich in einer Art und Weise zum Ausdruck zu bringen, dass wir von der anderen Person verstanden werden, und nicht so, dass wir lediglich unsere Gefühle auf ihr abladen. Wenn wir Leute anschreien, schalten sie ab, so wie wir selbst den Inhalt von Worten überhören, wenn uns jemand anschreit. Eine gute Kommunikation bedeutet auch, Gedanken und Gefühle mit Worten, Gesten und Beispielen zum Ausdruck zu bringen, die für die andere Person nachvollziehbar sind. Unter dem Einfluss von Ärger jedoch sind unsere Ausdrucksmittel lange nicht so kontrolliert und unsere Gedanken bei Weitem nicht so klar wie gewöhnlich.
Unter dem Einfluss von Ärger sagen und tun wir Dinge, die wir später bedauern. Vertrauen, das wir über viele Jahre mit großer Mühe aufgebaut haben, kann in wenigen Augenblicken hemmungsloser Wut völlig zerstört werden. Während eines Wutausbruchs behandeln wir vor allem diejenigen Menschen, die uns am meisten am Herzen liegen, auf eine Art und Weise, wie wir Fremde niemals behandeln würden. Unter Umständen sagen wir ihnen dann fürchterliche Gemeinheiten, vielleicht gehen wir sogar so weit, Personen, die uns nahe stehen, zu schlagen. Das tut nicht nur unseren Angehörigen weh, sondern vor allem auch uns selbst, wenn wir fassungslos mitansehen müssen, wie die Familie, die wir lieben, allmählich zerrüttet wird. Das wiederum erzeugt Schuldgefühle und Selbsthass, die uns lähmen und uns und unsere Beziehungen mit anderen weiter belasten. Könnten wir unseren Ärger unter Kontrolle bringen, könnten solche qualvollen Konsequenzen verhindert werden.
Zudem kann Ärger dazu führen, dass Leute uns meiden. Hier kann es hilfreich sein, sich einmal eine Situation in Erinnerung zu rufen, in der wir wütend waren. Wenn wir dann einen Schritt beiseite tun und uns aus dem Blickwinkel der anderen Person betrachten, wirken unsere Worte und Handlungen ganz anders, und wir können verstehen, warum die andere Person verletzt war. Wir müssen uns an solchen Vorkommnissen nicht schuldig fühlen. Gleichwohl müssen wir jedoch erkennen, wie schädlich unsere ungezügelte Aggressivität sich auswirkt, und im eigenen Interesse und im Interesse anderer versuchen, Gegenmittel anzuwenden, um sie unter Kontrolle zu bringen.
Dazu kommt, dass Ärger, wenn er über lange Zeit aufrechterhalten wird, zu Ressentiments und Verbitterung führt. Gelegentlich begegnen wir alten Menschen, die ihren Groll über Jahre angestaut haben und auf Schritt und Tritt Hass und Enttäuschung mit sich herumschleppen. Natürlich möchte keiner von uns auf diese Weise alt werden, wenn wir aber nichts gegen unseren Ärger unternehmen, lassen wir zu, dass genau das eintreten wird.
Manche Menschen interpretieren die buddhistischen Lehren über die Nachteile des Ärgers so, als dürften wir uns nun nicht mehr ärgern, oder so, als wären wir schlechte Menschen und Sünder, wenn wir es eben doch tun. Das hat der Buddha nie gesagt, in seiner Darlegung ist kein Werturteil enthalten. Wenn wir wütend sind, ist die Wut ganz einfach das, was im Augenblick ist. Es hilft nichts, uns zu sagen, dass wir nicht wütend sein sollen, denn die Wut ist ja schon da. Es hilft uns auch nicht weiter, uns deswegen emotional fertig zu machen. Dass wir ärgerlich geworden sind, heißt nicht, dass wir deswegen schlechte Menschen sind. Es heißt lediglich, dass eine schädliche Emotion uns vorübergehend überwältigt hat. Ärger, böse Worte und brutale Handlungen sind nicht unsere Identität. Sie sind vielmehr Wolken in der reinen Natur unseres Geistes und können beseitigt oder verhindert werden. Selbst wenn wir jetzt noch keine große Übung in Geduld haben, können wir diese Eigenschaft doch allmählich zur Entfaltung bringen, wenn wir uns darum bemühen.
Zwei Geschichten
Wir können in unserem Leben die negativen Auswirkungen von Verhaltensweisen sehen, die von Ärger motiviert sind. Wie im Dhammapada steht:
Sprich niemals hart zu anderen,
Denn harte Worte wird man Dir vergelten:
Die Du mit Worten erst gekränkt,
Sie werden späterhin im Gegenzug
Dich schelten.
Eine uralte Geschichte veranschaulicht das sehr treffend. Es war einmal ein König, der ein großes indisches Königreich regierte.