Eine quälende Angst beschlich ihn. Er blickte hinauf, mit der letzten Kraft seiner Augen das schwindende Licht trinkend. Da sah er den Adler heransausen, hörte wieder sein gellendes Gekreisch:
„Geb–recht! Leb–hart!
Geb–recht! Leb–hart!“
Und der junge Adler, dem er die Freiheit wiedergegeben hatte, war auch dabei. Er tummelte sich in den Lüften, in stolzem Bewußtsein, ganz wie der Alte seine Schwingen gebrauchen zu können, und schrie vor Gier danach, seinen Hunger zu stillen. Mit Windeseile schossen sie auf den im Neste Liegenden herab und gruben ihre Schnäbel in seine Brust. An sein Herz wollten sie heran! Ein mutiges Herz war die rechte Speise für den König der Lüfte! Das Herz wehrte sich aber und flog wie ein gefangener Vogel zwischen den Stäben seines Rippengehäuses hin und her, um sich dem Griff des scharfen Adlerschnabels zu entziehen. Aber das Raubtier ließ nicht von seiner Beute! Immer tiefer wühlte sich sein Schnabel zwischen die Rippen hinein und versuchte das Herz aus [pg 13]seinem Käfig zu reißen. Das Herz aber war tapfer, krampfte sich zusammen und zog den Kopf des jungen Adlers immer tiefer hinein. So kämpfte sein Herz mit dem Raubtier, stählte sich am Kampfe und wurde kräftiger und stärker, bis es ihm schließlich gelang, mit einem gewaltigen Ruck den jungen Adler zwischen die Rippen hineinzuziehen. Und da saß er nun im Brustkorb gefangen wie hinter dem Gitter eines Käfigs, an Stelle des Herzens, das er mit letzter Anstrengung verschlungen hatte. Das Herz pulsierte wohl noch voller Sehnsucht wie vorhin. Aber seine Sehnsucht hatte jetzt die Schwingen des Adlers bekommen und Kraft, ihn hoch über alle Erdenschwere hinauszutragen.
Er brauchte nur zu wollen. Und im nächsten Augenblick stand er drüben auf der gewitterschwangeren Wolkenwand, die sich immer noch hoch über Land und Meer und über allen quälenden Nebeln erhob. Mit Riesenkräften packte er sie und preßte sie zusammen; Blitze zuckten, die Donner grollten, und vom Feuer des Himmels verzehrt, löste sich der schwarze Nebel auf, der schon die Herrlichkeit des ganzen Landes bedeckt hatte, und alles lag wieder im stillen Glanz, befreit da, von der Abendröte umglutet. – –
Aber hoch über ihm, dem es im Traum gegeben wurde, die Blitze des Himmels zu schleudern, kreiste der Aar, dessen Junges ihm ans Herz gewachsen und zum zweiten Herzen geworden war. Und gellend wie die Kriegstrompete schmetterte er sein Gekreisch in die Lüfte hinaus:
„Leb–hart! Geb–recht!
Leb–hart! Geb–recht!“
Er erwachte jäh und lag noch lange, ehe es ihm klar wurde, daß es nur ein Traum gewesen war und daß er in seinem Bette lag in seiner Schwester Haus zu Venz auf Rügen und nicht im Adlernest draußen auf den Felsen von Stubbenkammer. Und er starrte seinen Bruder Siegfried fragend an, der lange draußen seinen Namen gerufen hatte und jetzt mit Freund Diercks hereinstürmte, um ihn aus dem Schlafe aufzurütteln.
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„Auf!“ riefen sie, „heraus aus dem Nest! Heute fangen wir den jungen Adler wieder ein!“
„Den Adler?“ fragte Gebhard und rieb sich die Augen und griff sich an die Brust, wo er ihn hineingeträumt hatte. „Meine Mütze zieht ihr ihm aber nicht mehr über den Kopf! Das gibt dann wieder Träume, wenn ich sie aufsetze!“
Er sprang aus dem Bett, schlüpfte in die Kleider, gab sich kaum noch Zeit, den bereitstehenden Morgentrunk zu schlürfen, sagte seiner Schwester rasch guten Morgen und war eben im Begriff, den anderen auf neue Abenteuer zu folgen, als sein Schwager, der Kammerjunker von Krackwitz, ihn aus dem Fenster seines Arbeitszimmers rief.
„Ihr müßt euch heute ohne Gebhard behelfen“, sagte er, ohne ihren langen Gesichtern Beachtung zu schenken. „Ich brauche ihn hier!“
Dagegen war nichts zu wollen. Gebhard mußte mit sehnsüchtigen Augen die anderen abziehen sehen und ging dann zu seinem Schwager hinein.
Der Kammerjunker war ein solider, ehrenfester Mann, ohne jeglichen Hang zu abenteuerlichen Träumereien, stand mit beiden Füßen fest auf dem Boden realer Tatsachen und packte das Leben von der nützlichen Seite an, wie sich’s für einen Mann von Grundsätzen gehört.
Nach gebührender Hervorhebung des Umstandes, daß er gewissermaßen an Vaters Stelle stünde, nachdem er Gebhard in seinem Hause aufgenommen hatte, führte er dem jungen Schwager zu Gemüt, er dürfe das Leben nicht zu sehr auf die leichte Achsel nehmen. Er sei bereits sechzehn, also in einem Alter, wo der Ernst des Lebens zu beginnen und das Spiel aufzuhören hätte! Ob er sich schon Gedanken über die Zukunft gemacht habe? Und was er wohl zu werden gedenke?
„Soldat wie der Vater und die Brüder!“
Das wäre ja alles gut und schön! Aber – wo er der Jüngste unter sieben Brüdern sei, die alle dienten! Und bei [pg 15]dem beschränkten Einkommen seines Vaters? Ohne Zuschuß vom Vater könne er nicht daran denken, auf der Offizierslaufbahn vorwärts zu kommen!
„So hilf du mir!“
Dem wäre er wohl nicht abgeneigt! Aber gegen die militärische Laufbahn hätte er seine Bedenken! Erstens gehöre Rügen zu Schweden. Er wäre also Schwede und könnte ihn wohl durch seinen Einfluß in schwedischen Diensten vorwärtsbringen! Aber – das hätte seine zwei Seiten! Mit der schwedischen Macht ginge es abwärts. Lange würden die Schweden ihre deutschen Besitzungen nicht mehr behaupten können! Eines Tages käme man unter andere Herrschaft, und er hätte dann von vorne anzufangen. Denn lieber gar nicht! Lieber Landwirt werden! Da könne er besser helfen! Er würde ihn in allen Stücken unterrichten und ihm dann helfen, eine einträgliche Pachtung zu bekommen, damit er auf eigene Beine käme im Leben! Das wäre doch die Hauptsache! Und hätte er dann noch das Glück, eine Frau zu finden, die auch nicht mit leeren Händen käme, dann wäre er sein eigener Herr. Und dann – wenn’s nicht anders ginge, und wenn die Lust in ihm übermächtig werden würde –, dann wäre es immer noch Zeit, zur Fahne zu gehen! –
Bei der Rede des Schwagers wurde es ihm zumute wie gestern, als er die Gespielen davon sprechen hörte, den jungen Adler in den Hühnerstall zu sperren. Alles in seinem Innern lehnte sich dagegen auf.
Die graue Alltäglichkeit eines unbemerkten Schicksals sagte ihm wenig zu. Im Spiele mit den Rostocker Bürgerssöhnen war er stets der Führer gewesen, der sie alle anfeuerte, allen voranstürmte und die Palmen des Sieges an sich riß! Nur so und nicht anders konnte er sich das Leben denken! Aber tagaus, tagein hinter dem Pfluge torkeln, das sagte ihm ganz und gar nicht zu. Er antwortete nicht. Und der Schwager, der sah, wie schwer ihm die Entscheidung wurde, drang nicht weiter in ihn, sondern machte ihm nur den Vorschlag, vorläufig auf seinem Gute alles zu erlernen. Er setzte ihm sogar ein Gehalt aus, sobald er sich eingearbeitet [pg 16]haben würde, und lud ihn zu einem Ritt durch die Felder ein, um erst alles in Augenschein zu nehmen.
Gebhard folgte ihm schweigend.
Kaum saß er aber im Sattel, so war die Mißstimmung verflogen. In der Phantasie trabte er jetzt nicht aus, um die Erdarbeiter zu inspizieren, sondern stürmte an der Spitze einer Schar Reiter auf den Feind los. Und der Schwager hatte Mühe, ihm zu folgen.
Als sie nach einem erfrischenden Ritt zurückkehrten, strahlten Gebhards Augen wieder in voller Lebenslust, seine Stirn war klar. Er tat sich gütlich bei einem reichlichen Mittagsmahl und empfing so den von der Adlerjagd zurückkehrenden Bruder. Der hatte geholfen, den jungen Adler wieder einzufangen. Und Freund Diercks hatte den Wildvogel geradeswegs nach Gagern gebracht, damit Gebhard ihm nicht wieder die Freiheit gäbe!
Abends aber, als sie zu Bett gingen, flüsterte ihm der Bruder etwas zu, das sein Blut in Bewegung brachte.
„Morgen in aller Früh’, ehe der Schwager munter wird, geht’s nach Bergen!“
„Nach Bergen?“
„Ja, zu den Husaren! Ich lasse mich bei den Schweden einstellen! Du auch!“
„Ist es denn möglich?“
„Diercks hat es mit mir ausgemacht.