„Sicher! Aber er scheint noch keine Ahnung davon zu haben! Er liegt ganz still!“
„Wirf ihn herunter!“
Einen Augenblick wurde es still da oben. Dann kam ein Aufschrei: „Verflucht! Den Schnabel weiß er schon zu brauchen!“
Dann hörte man nichts mehr als das Geräusch eines zähen Kampfes. Trockenes Reisig und Grasbüschel flogen aus dem Neste zu den Wartenden hinunter, und zuletzt sauste, mit kräftigem Schwung geschleudert, ein fast ausgewachsener junger Adler herab. Zunächst fiel er in schwindelnder Fahrt, dann auf einmal breitete er mit gellendem Aufschrei die Flügel aus, und zum ersten Male trugen sie den Körper in sanftem Flug hinunter und landeten ihn unweit der unten Harrenden. Einen Augenblick blieb er betäubt liegen, dann wurde er von vier kräftigen Fäusten gepackt und ihm eine Kappe über den Kopf gezogen.
Sein Bezwinger war unterdessen heruntergerutscht und kam jetzt heran.
„Den Vogel nehme ich mit nach Hause!“ sagte er. „Da ich ihn fing, ist es nur billig, daß ich ihn behalte!“
„Wo willst du ihn bei euch hintun?“
„In den Hühnerstall, bis ich ihm einen Käfig gebaut habe!“
„Einen Adler in den Hühnerstall tun?“ rief Gebhard, der längere von den beiden Brüdern, entrüstet. „Das geschieht nie und nimmer!“
Und ehe die anderen es sich versehen konnten, riß er die Kappe vom Kopf des Adlers fort und warf den Vogel in die Luft.
„Gebrauche deine Flügel, jetzt wo du weißt, wozu sie taugen!“ rief er.
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Der Adler machte ein paar ungelenke Bewegungen mit den Schwingen und setzte sich in einiger Entfernung wieder auf den Rasen, nahm aber dann, von seiner Angst getrieben, noch einmal Anlauf. Zwei, drei Schläge nur mit den Flügeln, und die Unsicherheit war verschwunden, er wagte den Flug und schraubte sich in sanftem Bogen um den Baum herum, bis er ins Nest hineinblicken konnte. Dann war er mit einer schnellen Bewegung darüber und ließ sich rasch hineinsinken.
„So!“ sagte Gebhard und zog seine frei gewordene Kappe wieder über die Locken. „Vor dem Hühnerstall wären wir bewahrt!“
„Du bist nur neidisch,“ murrte sein Freund, „weil du ihn nicht selbst fangen konntest!“
„Dafür konnte ich ihm die Freiheit geben!“ sagte Gebhard, und es wetterleuchtete vor trotzigem Stolz in seinen dunklen Augen. „Frei wie die Luft, die er atmet, muß der König der Lüfte sein! Ich mußte ihm da helfen. Und ich täte es nochmals, ob’s dir paßt oder nicht! Da“ – er zeigte landwärts auf die Wiese unterhalb des Berges –, „da fliegen andere Vögel, die nicht dem Himmel so nahe kommen. Fang’ dir die ein!“
„Die schwedischen Husaren!“ rief Diercks und vergaß über dem Anblick den Adler und seinen Ärger über Gebhards eigenmächtigen Eingriff in seine wohlerworbenen Rechte. Er jauchzte laut den blaugelben Reitersleuten zu, die aus dem Wald heraufsprengten, um in wildem Galopp über die Ebene hinwegzusausen.
„Den Flug machen wir mit!“ rief er. „Die holen wir noch ein! Rasch, fangen wir ein paar von Vaters Pferden unten auf der Wiese ein und setzen wir ihnen nach!“
Gesagt, getan! Die drei unternehmungslustigen jungen Leute hatten sich bald je ein Pferd eingefangen und ritten, statt den Reitern auf dem großen Fahrwege über Altenkirchen zu folgen, auf ihren ungesattelten Pferden querfeldein nach der Wittower Fähre hin, wo sie gleichzeitig mit den Husaren anlangten.
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Diercks fand unter ihnen seinen Bruder vor, der bei den Schweden diente, und viele Bekannte und Freunde außerdem. Über den Zweck des Streifzuges: nach dem Gang der Aushebung auf Rügen zu sehen, wurde er gleich aufgeklärt, und bald plauderten sie über die Aussichten Schwedens, seine pommerschen Grenzen im Kriege gegen Preußen zu verbessern. Denn als Schirmherr des Westfälischen Friedens hatte Schweden sich den Feinden Friedrichs des Großen angeschlossen, die ihn an seinem kühnen Unternehmen hindern wollten, die Landkarte für sich bequemer zu gestalten. Er hob also auch in seinen deutschen Provinzen Kriegsvolk aus. Und da waren die drei waghalsigen Reiter kein unwillkommener Zuzug zu der Schar, durften sich also ohne weiteres anschließen, und trabten vergnügt mit auf dem Wege nach Bergen, bis Venz in Sicht kam. Dort verabschiedeten sich die beiden Brüder von den anderen und ritten nach dem Gutshof hinauf, wo sie bei ihrem Schwager zu Gast waren. Ihr Freund dagegen folgte den Husaren, nicht ohne den lebhaften Neid seiner beiden Gespielen zu erregen, die gern noch weiter mitgeritten wären.
„Weiß Gott,“ sagte der jüngste, „mir ist’s, als gehörte ich zu dem Kriegsvolk und müßte mit, gleichviel wohin! Wäre ich schon siebzehn, wie du, ich ließe mich anwerben!“
„Ich besorg’s dir, Gebhard und mir auch!“
„Die Schulbank zu drücken habe ich satt! Wozu auch, wo’s Pferde gibt? Aber nichts dem Schwager verraten!“
„Ich werde mich hüten! Der schickt mich dann gleich zurück nach der Schweriner Pagenschule, auf daß ich bei den Mecklenburgern graue Haare kriege, ehe ich ein Offizierspatent bekomme! Da möchte ich nicht dienen!“
„Ich auch nicht!“
„Bei den Preußen aber noch weniger! Ich danke für die Fuchtel Fritzens!“
„Ich auch!“
„Bei den Schweden reitet sich’s viel freier und lustiger!“
„Gehen wir zu den Schweden!“
Nachdem sie so im Fluge mit echt jugendlicher Sorg[pg 11]losigkeit diese nicht ganz unwichtige Lebensfrage erledigt hatten, sprangen sie von den Pferden, trieben sie wieder auf die Weide und gingen zum Gutshof hinauf, um den Rest des Tages irgendwie totzuschlagen.
*
In der darauffolgenden Nacht hatte Gebhard einen sonderbaren Traum.
Von scharfen Krallen an der Brust gepackt, wurde er plötzlich von der Erde gehoben und hoch durch die Lüfte getragen. Schwindelnd schloß er die Augen, sein Atem stockte, sein Herz schlug immer stärker und stärker. Schließlich ging die Aufwärtsbewegung in ein langsames Sinken über, die Krallen ließen ihn los; er fiel, stieß sanft auf den Boden auf, öffnete die Augen und sah über sich den großen Adler kreisen, hörte dessen gellende Schreie, die zu Worten wurden. Und die Worte wiederholten kurz, schneidend, immer wieder seine beiden Vornamen: Gebhard Lebrecht, aber in verkehrter Weise.
„Leb–hart! Geb–recht!
Leb–hart! Geb–recht!“ so kreischte es aus der Höhe. Und der Adler zog immer weitere Kreise, stieg immer höher und verschwand schließlich im tiefen klaren Blau des Himmels, das sich über ihm wölbte, von rotbraunen, knorrigen Ästen und blaßgrünen Kiefernadelbüscheln umkränzt.
Er atmete befreit auf, streckte sich auf dem Lager aus und fand es ganz wie es sein sollte, daß er da oben im Adlernest auf trocknem Gras und Reisig ruhte, statt in seinem Bett.
Dann setzte er sich auf und blickte neugierig über den Rand des Nestes hinaus, sah unter sich wogende Laubkronen, Felder und Wiesen, schneeweiße Kreidefelsen und weit in der Ferne, mit dem Himmel zusammenfließend, das endlose blaue Meer.
Und der Baum wuchs und schob seine Krone mit dem Adlernest immer höher in die schimmernde, klare Luft hinauf. Immer weiter wurde der Rundblick, die Insel rings[pg 12]umher immer kleiner und kleiner. Frei und unbehindert sah Gebhard über das jenseitige Land hinaus, sah Städte, Burgen, Häfen, Wälder, Felder und Wiesen, Flüsse und Kanäle und weit in der Ferne schneeige Gipfel in Sonnenlicht gebadet.
Sein Herz schwoll im starken Glücksgefühl, mit dieser ganzen Herrlichkeit eins zu sein und fest in diesem Boden zu wurzeln. Wonnetrunken ließ er die Blicke immer weiter schweifen, gen Morgen, über das Meer hinaus, wo mächtige Knäuel leuchtenden Dunstes, zu einer gewaltigen Wolkenwand zusammengeballt, in den Strahlen der sinkenden Sonne