Die Einsamkeit des Bösen. Herbert Dutzler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herbert Dutzler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709937617
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hatte er nicht losgelassen, sie hing an seinem Arm über den Bettrand. Alexandra löste sie aus seinen Fingern. Es musste nicht auch noch der Boden überschwemmt werden, wenn er losließ. Sie besah die Flasche. Etwa ein Viertel war noch drinnen. Schnell nahm sie einen Schluck, stellte die Flasche beiseite und sah auf die Uhr. Viel Zeit blieb nicht mehr, bis der Wecker läutete, sie brauchte sich erst gar nicht bemühen, noch einmal einzuschlafen, legte sich wieder neben Anton und wartete, bis sie die Kinder wecken musste.

      Erst als sich Max beschwerte, dass der Kakao zu wenig süß war, wurde ihr bewusst, dass sie das Frühstück der Kinder völlig in Gedanken versunken zubereitet hatte. Was war als Nächstes zu tun? Jausenbrote herrichten. Wie viele Jausenbrote konnte man für 24 Millionen Euro kaufen? Ihr wurde schwindelig bei dem Gedanken. Millionen hin oder her, rief sie sich zur Ordnung. Die Kinder mussten zur Schule, und die Jausenbrote mussten in die Schultaschen.

      „Wo ist denn Papa?“ Annika rümpfte misstrauisch die Nase. „Er …“ Alexandra zögerte. „Er hat in der Nacht lange gearbeitet. Er geht heute später ins Büro.“ „Und wer bringt mich dann …“ Max begann bereits, ein weinerliches Gesicht zu ziehen. So weit war es also schon gekommen – wenn er fünf Minuten zu Fuß gehen sollte, fühlte er sich bereits zurückgesetzt und glaubte, wenn er ein bisschen Theater machte, würden automatisch seine Ansprüche erfüllt. „Du gehst heute zu Fuß. Und wenn dir das nicht passt, kannst du gerne Papa aufwecken. Der wird eine Riesenfreude haben!“ Das war jetzt etwas zu scharf gekommen. Max’ Mundwinkel zuckten, wanderten nach unten, und er begann bereits, in Vorbereitung eines Heulkonzerts, Rotz aufzuziehen. Schnell setzte sich Alexandra neben ihn, hielt ihm ein Taschentuch unter die Nase und strich ihm übers Haar. „Schau, Max. Die fünf Minuten zu Fuß, das tut dir gut! Heute ist schönes Wetter, und ein bisschen Bewegung vor der Schule, das macht dich munter!“ Max schniefte immer noch. Es ging wohl nicht um den kurzen Fußweg, sondern einfach darum, dass er seine Ansprüche durchsetzen wollte. Alexandra seufzte. Dieses Problem konnte man jedenfalls nicht mit Geld lösen, im Gegensatz zu einer kaputten Dachrinne, zum Beispiel. Wenn der Kleine mitbekam, dass sie nun reich waren, viel zu reich, was für Ansprüche würde er dann wohl erheben? Sie stellte ernüchtert fest, dass sie jetzt zumindest eine Sorge mehr hatte. Ob es auf der anderen Seite vielleicht eine Sorge weniger werden würde, war abzuwarten.

      Als die Kinder endlich weg waren, hatte sie sich natürlich um jeweils einen Euro für eine Süßigkeit erpressen lassen, damit endlich Schluss mit dem Geraunze war. Sollte sie Anton jetzt wecken oder ihn einfach in Ruhe seinen Rausch ausschlafen lassen? Sie entschied sich für einen Mittelweg, ging ins Schlafzimmer und suchte sich eine Bluse, einen Rock und frische Unterwäsche aus dem Kasten, ohne besonders darauf zu achten, leise zu sein. An Antons gleichmäßigen Atemzügen hörte sie jedoch, dass er tief schlief. Sollte sie ihn zudecken? Nein. So würde er wenigstens irgendwann zu frieren beginnen und wieder aufwachen.

      Sie legte vor dem Badezimmerspiegel eine Halskette um, die, so erinnerte sie sich, weniger als 50 Euro gekostet hatte, und ertappte sich bei dem wohligen Gedanken an den echten, wertvollen Schmuck, den sie nun kaufen würde können. Zunichte allerdings wurde der wohlige Gedanke bei der Vorstellung, von ihren Kolleginnen im Verlag wegen der teuren Neuanschaffungen argwöhnisch gemustert zu werden.

      Sie seufzte, als Antons Handy läutete. Sie fand es in seiner Sakkotasche auf dem Boden des Schlafzimmers, ohne dass Anton aufgewacht wäre. Es war Mirko, ein Kollege aus seinem Büro. „Du, Alexandra? Was ist mit Anton? Wir hätten einen Termin zusammen, in einer Stunde. Wir müssten jetzt gleich wegfahren!“ Mirko klang ungeduldig. Er war nicht nur Antons bester Freund und Kollege, auch als Paar verstanden sie sich gut mit ihm, sie alle kannten sich seit ihrer Studienzeit. Oft waren sie zu viert ausgegangen – sie mit Anton, Mirko mit einer seiner häufig wechselnden Bekanntschaften. Die hatten meist glamourös, aber gelangweilt gewirkt. Manchmal hatte ihr Mirko während dieser Zusammenkünfte Blicke zugeworfen, die ihr verrieten, dass er an ihr mehr als nur oberflächlich interessiert war.

      Alexandra verließ das Schlafzimmer und antwortete leise: „Es geht ihm nicht gut. Er wird wohl heute nicht ins Büro kommen, zumindest am Vormittag nicht.“ „Kannst du ihn mir geben?“ Alexandra zögerte. Sie wollte nicht verraten, dass Anton betrunken eingeschlafen war. „Er hat irgendwas eingenommen und schläft jetzt.“ Mirko seufzte. „Richt ihm bitte wenigstens aus, dass er sich sofort melden soll, wenn er wach wird. Es wäre dringend.“ „Okay, mach ich!“ Sie legte auf, stellte den Klingelton lauter und deponierte das Handy auf Antons Nachttisch. Beim nächsten Klingeln würde er selber drangehen müssen.

      Ein neues Rad, das wäre schon etwas. Alexandra fuhr gerne Rad, wann immer sie Gelegenheit dazu fand. Ein Rad fürs Büro, eines für die Straße und eines für das Gelände. Momentan erledigte sie alles mit demselben nicht ganz taufrischen Mountainbike. Wie viele Räder konnte man für 24 Millionen kaufen? Sie überschlug im Kopf die Zahlen, während sie in einer leichten Brise am Fluss entlangradelte. Sie kam zu dem Schluss, dass es selbst bei teuren Geräten für 12.000 oder mehr Räder reichen würde. 12.000 Räder, das konnte man sich nicht einmal vorstellen. Ob 12.000 Räder auf einem Fußballfeld Platz hatten?

      „Hallo, Alexandra!“ Sophie saß schon auf ihrem Platz und lächelte ihr zu. „Wie geht’s?“ „Ja, äh …“ Nicht einmal darauf fiel ihr heute spontan eine passende Antwort ein. „Super, eigentlich!“ Das konnte nicht überzeugend geklungen haben. Sophie zog die Augenbrauen hoch. „Ist was?“ Sie hatte ein Gespür dafür, wenn etwas anders war als sonst, das hatte sie schon mehrfach bewiesen. Alexandra bemühte sich um eine möglichst glaubwürdige Ausrede. „Die Mama, du weißt ja. Sie ist wieder …“ „Oh Gott!“ Sophie nickte verständnisvoll und drang nicht weiter in sie. Oft genug hatten sie sich schon über die labile Psyche von Alexandras Mutter unterhalten. Sie verfiel immer wieder in tiefe Depressionen, musste manchmal Tage oder sogar Wochen in einer psychiatrischen Klinik verbringen und meist starke Medikamente einnehmen. Sophie hatte sicher Verständnis dafür, dass sie jetzt, am Beginn eines Arbeitstages, nicht darüber sprechen wollte. Dabei ging es ihrer Mutter in Wirklichkeit seit drei, vier Monaten überraschend gut.

      Großartig war das, dachte Alexandra bei sich. Sie war jetzt zwar reich, dafür aber musste sie gleich in der Früh ihre Freundin hinters Licht führen. Ganz zu schweigen von den Kindern, denen hatte sie nämlich auch ein Märchen aufgetischt – die angebliche Nachtarbeit von Anton. Würde sie jetzt zur notorischen Lügnerin werden, nur um einen Millionengewinn geheim zu halten? Sie dachte an Sophies Eigentumswohnung. Sie konnte deren Schulden mit ein paar Mausklicks begleichen, sobald das Geld auf dem Konto eingegangen war. Sollte sie das tun, konnte man so etwas tun? Würde sich Sophie darüber überhaupt freuen?

      Nach einer Stunde merkte sie, dass ihre Arbeit am Manuskript oberflächlich und unkonzentriert gewesen war. Am besten, sie fing noch einmal dort an, wo sie gestern aufgehört hatte. Ihre Leistung, so entschied sie, durfte keinesfalls unter dem Lottogewinn leiden. Obwohl, eigentlich hatte sie es jetzt gar nicht mehr nötig zu arbeiten, überlegte sie. Ob es nicht auch Spaß machen würde, den Tag mit Shoppen und im Kaffeehaus zu verbringen? Sie schob den Gedanken beiseite.

      Der Vormittag verlief mühsam, die Konzentration auf ihre Arbeit fiel ihr weiterhin schwer. Sie überlegte schon, ob sie sich nachmittags freinehmen sollte, als ihr Handy summte. Anton. War er doch noch einmal aufgewacht. „Willst du nicht mit mir feiern? Wir müssen doch feiern!“, rief er so laut ins Telefon, dass Alexandra das Gerät unwillkürlich etwas von ihrem Ohr entfernte. Sophie hob interessiert den Kopf. Sie musste mitbekommen haben, was Anton gesagt hatte. Alexandra aber war nicht nach Feiern, eine ihr sonst kaum bekannte Beklemmung hatte sich um ihre Brust gelegt. Sie konnte sich nicht freuen, oder zumindest noch nicht. Sie seufzte und antwortete leise: „Ich frage, ob ich nachmittags freibekomme.“ Es musste ja nicht die gesamte Belegschaft darüber informiert werden, worüber sie redeten.

      Anton jedoch dachte gar nicht daran, seine Stimme zu dämpfen. „Was heißt fragen? Du brauchst nie mehr jemanden zu fragen, du kannst tun, was du willst!“ Er hatte sicher recht, so konnte man ihre Situation natürlich auch sehen, aber es gelang ihr eben im Moment nicht, so geradlinig wie er zu denken. Anton hatte anscheinend schon wieder getrunken, man konnte es an seinem undeutlichen Sprechen hören.

      „Was will er denn feiern?“ Sophie war, natürlich, hellhörig