Die Einsamkeit des Bösen. Herbert Dutzler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herbert Dutzler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709937617
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ihn ohnehin gleich mitnehmen. Ein bisschen Jugendarrest hat so einem noch nie geschadet!“

      Mama heult weiter, und Papa macht ihr Vorwürfe. Dass sie die Kinder nicht erziehen kann. Seine Kinder. Er hat ihr die Kinder geschenkt, und sie kann sie nicht erziehen. Viel zu weich ist sie, und keine Konsequenz gibt es in dieser Erziehung. Da gehören andere Saiten aufgezogen. Wenn er nur Zeit hätte, dann würden die Gfraster schon spuren. Er wird immer lauter und brüllt mit sich überschlagender Stimme, und schließlich höre ich es laut klatschen, und Mama schreit auf. Und es klatscht noch einmal, und dann rumpelt es in der Küche. Ich laufe weg, hinauf über die Stiege, in mein Bett, werfe mir die Decke über den Kopf. Kurz danach höre ich Papa noch an Walters Tür rütteln. „Ich erschlag ihn!“, schreit er immer wieder, schon völlig außer Atem.

      Wir sind eine Familie von lauter schlechten Menschen, denke ich mir. Ausgenommen Tobi und Mama, die sind eigentlich nur arm. Aber ich selber bin hinterlistig und gemein, auch wenn die Polizei das nicht weiß. Ich überlege mir, ob ich beichten gehen soll. Eigentlich müsste ich das. Dass ich Saft stehle und Most ausrinnen lasse, das sind sicher Sünden. Ob es schwere oder leichte sind, das weiß ich nicht. Aber eine schwere Sünde habe ich sicher schon begangen. Ich habe in der Nacht unter der Bettdecke zwischen meinen Beinen herumgetastet. Und ich habe mich ganz komisch gefühlt dabei und habe gar nicht mehr aufhören wollen. Die Religionslehrerin hat gesagt, dass man da nur beim Waschen hinfassen darf, und das nur ganz kurz. Alles andere ist Unkeuschheit, hat sie gesagt.

      Ich schaue in unserem Religionsbuch nach, wegen den Geboten und den Sünden und der Beichte. Und wegen der Unkeuschheit. Gegen die ersten drei Gebote verstoße ich andauernd, denke ich mir. Dass es einen Gott geben kann, das kann ich mir gar nicht vorstellen, sonst hätte er uns schon von Papa erlöst. Und gegen das zweite Gebot verstößt man schon, wenn man nur „Um Gottes willen“ sagt. Zumindest behauptet das die Religionslehrerin. Und gegen das dritte verstoße ich, weil ich nicht jeden Sonntag in die Kirche gehe. Papa sagt immer, auf die Kerzerlschluckerei können wir verzichten, und wenn Mama dann doch einmal in die Kirche geht, gibt es wieder stundenlanges Geschrei. Und wenn ich einmal bei einer Messe bin, sind meine Gedanken ganz woanders, das machen die Musik und der Weihrauch. Meine Mutter ehre ich zwar, aber meinen Vater ganz sicher nicht. Bisher habe ich noch niemanden getötet, aber es ist sicher auch eine Sünde, wenn man sich wünscht, dass jemand stirbt. Und gegen das sechste Gebot verstoße ich, weil ich die Hand länger zwischen meinen Beinen lasse, als es nötig ist. Das ist die Unkeuschheit. Gelogen und gestohlen habe ich auch schon, und wenn es auch nur der Saft von Mama ist. Bleiben nur die letzten zwei Gebote, gegen die ich wenigstens noch nicht verstoßen habe.

      Ich muss ein schlechter Mensch sein, ein ganz schlechter. Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass ich zu ernst bin. Mama sagt immer, ich soll fröhlich sein, herumrennen und lachen wie andere Kinder. Aber ich habe nicht viel zu lachen, worüber denn? Die Fernsehsendungen für Kinder finde ich total albern, über so was kann ich nicht lachen. Und was mich wirklich interessiert, zum Beispiel das Weltraum-Buch von Walter, das ist zwar spannend, aber auch nichts zum Lachen.

      Später am Nachmittag gehe ich über den Hof, und ich merke, die Ferkel sind unruhig. Sonst machen sie doch auch keinen solchen Lärm, oder höchstens, wenn es Zeit ist zum Füttern. Als ich durch die Stalltür spähe, sehe ich Walter. Er hat einen Stock in der Hand, einen langen. Damit schlägt er auf die Ferkel ein, die quieken wie verrückt, wenn sie getroffen werden. Nein, es ist kein Stock, es ist eine Peitsche. Wo er die wohl gefunden hat? Ich trau mich nicht näher zu Walter hin, wer weiß, was er mit mir macht, wenn ich ihn erwische. Er stöhnt, wenn er zuschlägt. Ich möchte den Ferkeln helfen, aber mir klopft das Herz vor Angst bis zum Hals. Ich muss Mama erzählen, dass Walter die Ferkel quält. Ich drehe mich um und renne, doch dabei rutsche ich aus, falle hin und kreische auf. Trotzdem bin ich schnell bei der Tür draußen. Ich renne zu meinem Schaukelbaum, um mich dahinter zu verstecken. Walter ist auch schon aus dem Stall heraußen. „Du blöde Kuh!“, schreit er mir nach. Gleich darauf ist er bei mir und reißt mich hinter dem Schaukelbaum zu Boden.

      Er liegt schwer auf mir und drückt seinen Unterleib gegen mich. Ich möchte gar nicht wissen, was er da an mir reibt. „Hör auf!“ Ich lache. Wenn ich so tue, als wäre es ein Spaß, vielleicht hört er dann auf. Wie im Schraubstock hält er meine Oberarme fest. Ich schlage mit meinen Beinen aus und treffe ihn schmerzhaft, sodass er aufstöhnt. „Blöde Kuh!“, keucht er, löst sich von mir und schlägt mich mit der offenen Hand in den Nacken. Plötzlich ist er weg.

      Ich rapple mich auf. Mein Kleid hat er hochgeschoben, meine Unterhose ist zerrissen. Sonst ist aber nichts passiert, außer, dass ich mich schmutzig fühle. Ins Haus will ich nicht, kann ich nicht. Ich laufe den Bach aufwärts, fünf Minuten, zehn Minuten. Dort ist eine Stelle, an der ich schon öfters gebadet habe. Ich ziehe meine Unterhose aus, steige ins Wasser und schrubbe mich mit den Händen ab, dort, wo Walter mich berührt hat. An den Oberschenkeln, am Hintern, zwischen den Beinen. Ich schrubbe und schrubbe, und das kalte Wasser tut gut, aber der Dreck bleibt an mir kleben. Diesmal fühle ich mich nicht komisch, nur schmutzig.

      Es wäre so schön, wenn Papa weg wäre. Und Walter. Nur Tobi, Mama und ich. In einer kleinen Wohnung mit einer dicken Tür mit Schlössern dran, dass Papa und Walter nicht hereinkönnen. Und unter uns wohnen Nachbarn, man braucht nur fest mit dem Besenstiel auf den Boden zu schlagen, dann kommen sie und helfen uns, wenn Papa oder Walter an der Tür rütteln.

      Alexandra verstand sich auf Anhieb mit der Betreuerin für Großgewinner. Als sie die Nummer, die sie von Antons Handy abgelesen hatte, in ihr Handy eingab, meldete sich eine Frauenstimme. „Hallo, Heidegger hier. Mein Mann hat vorhin einen Anruf …“ Die Frau lachte. „Ja, ich weiß schon, wer Sie sind. Wir hatten noch nie einen so großen Gewinn, Ihr Name ist hier bei uns bekannt. Der Anruf vorhin kam von einem Kollegen. Allerdings hat Ihr Mann einen Kontakt mit uns abgelehnt.“ „Ich aber nicht!“, sagte Alexandra. Sie klang ein wenig zu heftig, fast beleidigt. Die Dame am anderen Ende zögerte kurz. Sie hatte sicherlich schnell gemerkt, dass es in ihrer Familie Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf den Gewinn gab. „Ja, wollen Sie sich dann mit mir treffen?“ Alexandra fand die Stimme sympathisch. „Ja, gerne. Am besten so bald wie möglich.“ „Gut. Mein Name ist Barbara, Barbara Ferny.“

      Sie hatte mit der Beraterin schließlich einen Termin nach der Arbeit vereinbart. Alexandra musste eine Ausrede erfinden, denn Anton wollte sie keinesfalls von dem Treffen erzählen, zumindest jetzt noch nicht. Schon wieder gelogen, schon wieder Heimlichkeiten. All das nahm in erschreckendem Ausmaß zu, seit sie den Gewinn gemacht hatten.

      „Hier sollten wir keinesfalls reden!“, warnte Frau Ferny, als sie an einem Cafétisch Platz nahmen. „Es gehört zu unseren Grundregeln, Gespräche nur an einem Ort zu führen, wo man nicht belauscht werden kann. Sie würden gar nicht glauben, wie viele Wände Ohren haben!“ Sie lächelte. Frau Ferny war etwa im gleichen Alter wie Alexandra, trug ihre dunklen Haare schulterlang und schob alle paar Sekunden ihre ebenfalls dunkle Brille ein Stück die Nase hinauf. Obwohl sie dazwischen nicht herunterrutschte.

      Alexandra nickte. „Wie war die Fahrt?“, fragte sie, um ein unverfängliches Gesprächsthema zu wählen. „Ein wenig abenteuerlich. Ich habe vergessen, einen Platz zu reservieren, und der Zug war total voll. Und im selben Waggon eine Gesellschaft etwas angetrunkener, sehr lauter Männer. Anscheinend gibt es hier heute ein äußerst wichtiges Fußballspiel.“ „Das tut mir leid!“

      Nachdem der Kaffee getrunken war, setzten sie sich auf eine Bank in einem kleinen Park am Nordufer des Flusses. Ein Brunnen plätscherte sanft, und zwei Bänke weiter lagen zwei Japanerinnen auf ihren Rucksäcken und dösten vor sich hin. Sonst war der Park leer.

      „Erste Regel: Sagen Sie niemandem, wie viel Sie gewonnen haben. Geben Sie etwa zehn Prozent der Gewinnsumme zu. In Ihrem Fall ist natürlich auch das noch sehr viel.“ Alexandra nickte. „Mir fällt es allerdings schwer, die Heimlichtuerei. Vor allem mit den Kindern ist es ein Problem.“ Frau Ferny nickte. „Haben Sie Ihren Kindern von dem Gewinn erzählt?“ „Ja“, antwortete Alexandra. „Wie hätten wir es verheimlichen sollen? Ich habe ja schon gesagt, mir fällt es schwer, wichtige Ereignisse einfach so zu verschweigen, zu lügen.“ „Wir empfehlen