Die Einsamkeit des Bösen. Herbert Dutzler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herbert Dutzler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709937617
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Büschel Löwenzahn wächst. Dahinter der Schuppen mit dem riesigen Tor, das fast immer offen steht. Drinnen der Traktor. Der war auch schon wieder kaputt, und Papa hat sich fürchterlich aufgeregt. Zuerst, dass er die Reparatur selber nicht hinbekommen hat, obwohl er einen ganzen Tag mit nacktem Oberkörper im Schuppen gestanden ist und in den Eingeweiden der Maschine herumgewühlt hat. Und dann darüber, wie viel der Landmaschinenmechaniker dafür verlangt hat. Getobt hat er und eine Bierflasche gegen die Wand geworfen, nachdem er das Kuvert mit der Rechnung geöffnet hatte. Dann hat er mit einem Arm ausgeholt und Tobi im Genick getroffen. Walter ist ihm entwischt, Walter ist meistens der Schnellere. Mama hat nichts gesagt.

      Manchmal habe ich so einen Traum, nicht im Schlaf, sondern beim Nachdenken. Vielleicht ist Papa gar nicht unser wirklicher Vater. Oder zumindest nicht meiner. Vielleicht bin ich als Pflegekind in diese Familie gekommen oder adoptiert worden. Und bald wird ein großes, glänzendes Auto auf unseren Hof fahren, und meine wirklichen Eltern werden aussteigen und mich mitnehmen. Und ich werde Papa nie mehr wiedersehen müssen.

      Der Kühlschrank springt ratternd an. Es ist ein besonderer Kühlschrank, er ist so groß, dass ich und meine Brüder leicht darin Platz hätten. Zwei weiße Türen hat er, und er ist so hoch, dass ich ohne Stuhl höchstens bis zum dritten Regal von unten komme. Drinnen sind Holzroste. Es ist nicht so ein Kühlschrank wie bei meiner Freundin Evi, der ist so niedrig, dass man sich mit Schwung draufsetzen kann, wenn man hochhüpft. Oben hat er eine graue Plastikplatte und drinnen Regalfächer aus Glas. Und er brummt auch nicht so schaurig wie unser Kühlschrank.

      Ich ziehe eine Tür auf und sehe hinein. Ob ich mich hineinsetzen soll? Ich müsste ein wenig ausräumen. Und dann zumachen. Und das Licht einschalten, das kann man nämlich auch von drinnen. Tobi hat’s schon einmal ausprobiert. Auf dem untersten Regal steht eine Flasche von dem teuren Saft, den Mama wegen ihrer Gesundheit trinken soll, den dürfen wir nicht einmal anrühren. Ich nehme die Flasche in die Hand und schraube den Deckel ab. Kalt, sämig und süß ist der Saft. Unglaublich gut schmeckt er mir. Ich nehme die Wasserflasche, die danebensteht, und fülle nach, sodass man nichts merkt. Mama wird nicht schimpfen, sie weiß, wie gut mir ihr Saft schmeckt, und manchmal gibt sie mir ohnehin etwas davon ab.

      Bei Papa weiß man nie. Wenn er sich über irgendetwas ärgert, fängt er zu schreien an. Und dann genügt jede Kleinigkeit, dass er auf uns losgeht. Mich hat er noch nie geschlagen, mich sperrt er nur ein. Wenn er mich auch nur einmal anrührt, hat Mama gesagt, dann geht sie weg. Dann kann er sie lange suchen und wird sie nicht finden. Wenn er mich auch nur einmal anrührt. Meine beiden Brüder dagegen bekommen immer wieder einmal etwas ab. Er hat selbst auch viele Ohrfeigen bekommen, sagt Papa, und es hat ihm nichts geschadet. Ich glaube aber doch, denn man muss sich vor ihm fürchten. Ich möchte nicht jemand werden, vor dem sich andere Leute fürchten. Ich möchte so werden wie Frau Liebscher, meine Lehrerin. Sie ist immer freundlich und lustig, und ich glaube, sie muss sich auch vor nichts fürchten.

      Lange dauert das heute schon. Ich muss aufs Klo. Hoffentlich macht mir bald jemand auf. Ich stelle einen Schemel unter das Fenster und sehe hinaus. Ein Stück blauen Himmel kann ich sehen, und den Schotterboden, der hell in der Sonne gleißt. Ob ich versuche, zum Fenster hinauszukommen? Langsam schiebe ich die Flaschen und Dosen beiseite, die auf dem Regal vor dem Fenster aufgebaut sind. Vorsichtig achte ich darauf, dass nichts hinunterfällt und kaputtgeht. Denn wenn Papa merkt, dass ich etwas hinuntergeworfen habe, dann habe ich noch viele Stunden in der Speisekammer vor mir.

      Plötzlich knirschen Schritte draußen auf dem Schotter. Ich erschrecke, schubse unabsichtlich eine Flasche zur Seite und hüpfe vom Schemel. Die Flasche klirrt zu Boden, heller, klebriger Saft läuft aus. Papa ist draußen. Er beschattet die Augen mit einer Hand und versucht, durch die Scheibe zu spähen. Er sieht mir direkt in die Augen. Hat er das Klirren gehört? Drohend deutet er mit dem Finger. Er hat wohl gemerkt, dass ich durch das Fenster flüchten wollte. Aber das Klirren ist ihm anscheinend entgangen.

      Ich drehe mich um, flüchte zur Tür. Ich muss jetzt wirklich dringend aufs Klo. Draußen höre ich den Traktor polternd anspringen. Dicht am Fenster vorbei rattert Papa in Richtung Hofzufahrt. Jetzt könnte Mama eigentlich kommen. Ich rüttle an der Tür, obwohl ich weiß, dass sie nicht nachgeben wird. „Mama!“, schreie ich, jetzt, wo ich Papa außer Hörweite weiß. „Mama!“ Es dauert unglaublich lange, bis ich Schritte in der Küche höre. Es ist aber nicht Mama, die die Türe aufsperrt, es ist Walter. „Führ dich nicht so auf, du dumme Gurke!“ Walter versucht mir ein Bein zu stellen, als ich aus der Speisekammer laufe, doch ich springe darüber. Ich kenne seine Tricks. „Blöde Kuh!“, schreit er mir noch hinterher.

      Ich haste aufs Klo und verschließe die Tür. Als ich es endlich laufen lassen kann, wird mir ein wenig wohler. Hier bin ich auch eingesperrt, aber ich habe es selbst in der Hand, wann ich wieder hinausgehe und ob ich jemanden hereinlasse. Schön kühl ist es. Am liebsten würde ich hier bleiben.

      Ich nehme den Saum meines Kleides in die Hand. Da ist wirklich ein langer Riss im Stoff. Es ist eines von meinen besseren Kleidern. Eigentlich das beste. Das, das ich an besonderen Schultagen und am Sonntag zur Kirche immer anziehe. Ich weiß selber nicht, warum ich es heute nach der Schule nicht ausgezogen habe, ich habe nicht darüber nachgedacht, auch nicht, als ich zu Minka auf den Baum geklettert bin. Gerade, als ich oben war und sie auf meinen Schoß nehmen wollte, um sie zu streicheln, ist das dumme Tier aber wieder hinuntergesprungen.

      Ich stehe auf, ziehe meine Unterhose hoch, drücke den Spülknopf und setze mich wieder auf den Toilettensitz, noch während das Wasser unter mir rauscht. Manchmal wäre ich gerne ganz weit weg. Ich habe ein Buch, ein Bilderbuch, für das ich eigentlich schon zu alt bin. Es spielt im Wald, und da leben Zwerge, Insekten und Schnecken friedlich zusammen. Sie wohnen in hohlen Bäumen, in Pilzen und Rindenhäuschen. Und immer sind alle gut gelaunt und fröhlich und vor allem nett zueinander. Dort würde ich gerne wohnen. Ich würde Beeren und Pilze sammeln und mit dem Eichhörnchen und zwei Hasen zusammen in einer Rindenhütte leben. Und jede Woche würde ich zu den Bienen gehen, um Honig zu holen, und jeden Morgen zu den Kühen, um Milch im Haus zu haben.

      Dass Papa einmal nett zu mir war, das ist lange her. Ich glaube, ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern. Wenn Mama nicht immer sagen würde: „Er kann auch lieb sein! Ich hätte ihn doch nie geheiratet, wenn er nicht auch lieb sein könnte“, dann würde ich es gar nicht glauben. Und sie sagt, dass es nur die Sorgen sind, die ihn so gemacht haben, wie er jetzt ist. Und zu diesen Sorgen gehören wir auch, Walter, Tobi und ich. Ich habe jetzt zum Beispiel mein bestes Kleid zerrissen, Tobi macht ins Bett, und Walter gehört zu den ganz schlimmen Kindern in der Schule.

      „Xandi! Xandi! Wo bist du denn?“ Mama ruft nach mir, und ich stehe auf, spüle noch einmal hinunter und komme aus dem Klo heraus. „Am Klo! Ich komme schon!“

      Als ich in die Küche trete, steht Mama an der Anrichte und wäscht Marillen. Sie streicht mir übers Haar, als ich mich neben sie stelle. „Willst du mir vielleicht die Kerne aus den Marillen holen?“ Ich nicke und nehme mir eines der kleinen Messer, um die Marillen auseinanderzuschneiden. „Oh Gott!“, ruft Mama, „Wie sieht denn dein Kleid aus? Das ist dein bestes!“ Ich sehe betroffen an mir hinunter. „Schnell, zieh es aus, und zieh irgendwas Schmutziges an. Mit den Marillen patzt du dich sicher auch noch an. Und tu’s gleich in die Wäsche, damit es der Papa nicht sieht!“ Ich laufe in mein Zimmer und hole mir ein altes, fleckiges T-Shirt und eine kurze Hose, die zusammengeknüllt auf dem Boden liegt. Das Kleid kommt in die Wäschetonne, aber ich lasse es nicht ganz oben liegen, sondern stopfe es unter das andere Zeug, das schon drinnen ist. Papa kümmert sich zwar nie um solche Dinge wie Wäsche, aber wenn er einen Verdacht hat, wirft er vielleicht doch einmal einen Blick in die Wäschetonne.

      Schweigend entkerne ich eine Marille nach der anderen. Manchmal stecke ich mir eine Hälfte in den Mund. Sie sind zuckersüß und weich, von unserem eigenen Baum. Mama lächelt. „Die sind gut, gell? Ich freu mich schon auf die frische Marmelade!“ Wenig später, als Mama den Gelierzucker über die Marillen im Kochtopf gestreut hat und nun kräftig umrührt, fängt sie lautlos an zu weinen. Ich merke es nur daran, dass sie ein wenig zuckt und stoßweise atmet. Ich tu so, als würde ich gar nichts merken. Ich mag mit Mama nicht darüber reden, warum sie weint. „Kann ich raufgehen?“ Sie nickt und rührt heftig weiter.

      In