Die Einsamkeit des Bösen. Herbert Dutzler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herbert Dutzler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709937617
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dass sie nichts mitbekommen hatte, weil ihre Gedanken schon bei der Organisation des morgigen Tages waren, las die Seite nochmals, bekam wieder nichts mit, legte das Buch beiseite und schlief ein.

      Ich mache Spaghetti. Mama und Walter sind mit Papa auf den Wiesen, Heu machen, und ich habe schon Ferien. Heute Morgen hat es schon wieder Streit gegeben. Walter war frech, „Scheißheu“ und „Scheißbauernhof“ hat er geschrien. Er ist davongelaufen, um sich zu verstecken, aber Papa ist ihm nachgerannt. Nach kurzer Zeit ist er mit ihm zurückgekommen, am Ohr hat er ihn hinter sich hergezerrt. Und als sie in die Küche gekommen sind, hat Papa ihn losgelassen und ihm ein paar kräftige Ohrfeigen verpasst, bis er geheult hat.

      Während die Spaghettisoße einkocht, lese ich die Zeitung. Im Lokalteil steht, dass in der Steiermark ein Bauer in seiner Jauchegrube ertrunken ist. Er hat noch gelebt, nachdem er in die Grube gestürzt war, steht da. Die giftigen Gase haben ihn das Leben gekostet. Gefunden worden ist er von seiner Frau. Die Bauernkammer warnt vor den Gefahren, die von unzulänglich abgedeckten Gruben ausgehen. Drei Kinder haben ihren Vater verloren. Drei Kinder. So wie wir. Wir haben auch eine Jauchegrube. Und mein Papa, der ist sehr unvorsichtig und schlampig. Ich glaube, ich könnte gar nicht weinen, wenn ihm so ein Unfall passieren würde.

      Ich bin froh, dass alle weg sind. Bis auf Mama, natürlich. Spaghetti koche ich gerne, es geht leicht, und ich kann nicht viel falsch machen. Wenn mir allerdings etwas misslingt, ist es gescheiter, ich bin nicht am Esstisch, wenn Papa kostet. Denn dann verbringe ich wieder ein paar Stunden in der Speisekammer. Tobi liegt auf dem Boden und zeichnet. Immer wieder das Gleiche. Riesige Ritter in Rüstungen, die wie Konservenbüchsen aussehen. Mit ebenso riesigen Schwertern. Eigentlich sollte er in seinem Alter schon besser zeichnen können. Die Ritter sehen alle gleich aus. Sie haben einen eckigen Leib, den er mit schwarzem Stift vollkritzelt. Der Kopf ist auch schwarz vollgekritzelt, nur oben auf dem Kopf erkennt man einen Helm. In der Rechten halten sie eine Art Hellebarde, die sie auf dem Boden abstützen, und in der Linken ihr Schwert. Das malt Tobi fast immer blutrot an, manchmal aber auch schwarz. Er verbraucht viel Schwarz. Außerdem stehen die Beine der Ritter zu weit auseinander. Und seine Helme sind einfach nur Halbkreise, man erkennt keine Einzelheiten. Ich habe in seinem Alter schon Menschen gezeichnet, die die Gelenke dort hatten, wo sie wirklich hingehören. Vielleicht ärgert es Tobi, dass ich so gut zeichnen kann. Wenn ich Tiere zeichne oder Menschen, sehen die genau wie in Wirklichkeit aus. Ich muss mich darum nicht besonders bemühen, es ist einfach so. Frau Liebscher sagt immer, ich bin sehr begabt. Und dass ich vielleicht einmal eine Künstlerin werden könnte. Ich glaube aber nicht, dass ich das will. Künstlerinnen verdienen nämlich sehr wenig Geld, habe ich gehört. Und ich brauche Geld, um von hier wegzukommen, in eine eigene Wohnung und mit meinem eigenen Essen und alles. Das müsste ich eigentlich schaffen, denn Frau Liebscher sagt auch, dass ich erstaunlich reif und klug bin für mein Alter. Nur ein bisschen zu ernst. Ich soll mehr lachen, meint sie. Aber es gibt so wenig, über das ich lachen kann.

      Es ist halb eins, aber noch keine Spur von Mama und Papa. Eigentlich sollten sie längst zurück sein. Ich weiß nicht, ob ich die Nudeln schon ins Wasser tun soll. Wenn sie zu weich sind, regt sich Papa auf, aber wenn sie noch nicht fertig sind, wenn er sich zum Tisch setzt, dann auch. Ich rühre in der Tomatensoße und lasse das Wasser einstweilen noch ohne Nudeln kochen.

      Da fällt mir ein, dass Mama gesagt hat, ich soll noch Tobis Bettwäsche aus der Waschmaschine nehmen und aufhängen. Tobi hat wieder einmal ins Bett gemacht. Gott sei Dank hat Papa nichts davon gemerkt. Mama hat die Wäsche heimlich in die Maschine gesteckt. Es ist oft schon sehr anstrengend, wenn Mama und ich alles tun müssen, ohne dass Papa es merkt. Manches müssen wir auch vor Walter geheim halten, denn der drischt sofort auf Tobi los, wenn der wieder einmal ins Bett gemacht hat. Oder er verspottet ihn. Bettpisser, Hosenbrunzer, Windelscheißer. Walter ist da sehr kreativ, wenn er auch die gleichen vier oder fünf Schimpfwörter ständig wiederholt, stundenlang. Manchmal wünsche ich mir, mit Mama und Tobi ganz allein zu sein. Wir wären eine richtig glückliche Familie.

      Ich stelle die Herdplatten ab und gehe ins Bad zur Waschmaschine. Mama hat gleich drei Garnituren Bettwäsche in die Maschine geräumt, damit es nicht so auffällt. Der Wäschekorb ist schwer, und die Leine ist für mich ziemlich hoch. Natürlich plumpst mir gleich einmal ein Bettbezug ins Gras, aber der Boden ist trocken, keine grünen Flecken auf der frisch gewaschenen Wäsche. Es weht ein bisschen Wind, das Bettzeug wird nicht lange zum Trocknen brauchen. Allerdings sind auf der Wetterseite auch ein paar dunkle Wolken aufgetaucht. Hoffentlich wird alles trocken, bevor der Regen kommt.

      Sie sind noch immer nicht da. Wahrscheinlich ist irgendwas dazwischengekommen. Oder Papa hat, wegen der dunklen Wolken, die Mittagspause ausfallen lassen. Ich setze mich zu Tobi auf den Boden. „Warum zeichnest du immer die gleichen Ritter? Und immer schwarz? Du könntest doch auch einmal eine von unseren Katzen zeichnen oder ein Huhn. Huhn geht leicht!“, ermuntere ich ihn. Tobis Hand krampft um den schwarzen Stift, den er mit wilden Strichen über dem Bauch eines Ritters auf und ab führt. „Der Ritter muss kämpfen!“, ächzt Tobi, und der Stift gerät aus dem Bauch des Ritters hinaus, dorthin, wo er nichts zu schwärzen hat. Ich seufze. Tobi muss immer kämpfen. Wahrscheinlich auch, wenn er träumt. Vielleicht macht er deswegen ins Bett. Wenn er einen Kampf verliert, im Traum.

      Tobi redet nie viel, und er hat sich auch sehr schwergetan, in der ersten Klasse das Schreiben und das Lesen zu lernen. „Du könntest zum Beispiel die Namen der Ritter dazuschreiben“, ermuntere ich ihn. „Wie heißen sie denn?“ „Ritter!“, grunzt Tobi. Seine Finger sind angeschwollen und rot, weil er den Stift so krampfhaft festhält. Mir fällt auf, dass der schwarze Stift schon ganz kurz ist, zahllose Male gespitzt. Ein Blick in seinen Buntstiftkasten verrät mir, dass der rote zur Hälfte aufgebraucht ist, der Rest kaum benutzt. Rosa, Gelb, Hellgrün, Lila: Die Stifte scheint er überhaupt noch nie verwendet zu haben. Ich nehme ein Zeichenblatt zur Hand und beginne, eine Blume zu malen. Vielleicht gefällt Tobi das ja. Ich male eine mit orangen und gelben Blüten und lila Blättern an einem grünen Stängel. Natürlich gibt es so eine gar nicht, in Wirklichkeit. Sie sieht einer Sonnenblume ähnlich, aber mit ganz anderen Farben. Dahinter eine gelbe Sonne mit einem orangen Gesicht und rosa Strahlen, die hinter der Blume auf dem Boden auftreffen. Eine ganze Blumenwiese werde ich malen. Da höre ich auf dem Hof das Rattern des Traktors. Ich habe auf die Nudeln vergessen.

      Schnell werfe ich sie ins Wasser. Die Hälfte davon ist schon verdampft. Schnell gieße ich Wasser nach, doch jetzt ist es natürlich viel zu kalt. Die Nudeln werden verklumpen und verkleben. Ich höre sie schon an der Haustür. Tobi schnappt sich die Decke, auf der er gelegen hat, und flüchtet. Gerade noch rechtzeitig. „Essen fertig?“, brummt Papa. „Ich habe ja nicht gewusst, wann ihr kommt!“, versuche ich mich zu rechtfertigen. „Die Nudeln brauchen noch ein bisschen!“ Papa grunzt, kommt auf mich zu, ich habe Angst, dass er mich am Arm packen und in die Speisekammer sperren wird. Doch er geht an mir vorüber, ohne mich anzusehen, verschwindet in der Speisekammer und kehrt mit einem Stück Wurst zurück. „Geh weg!“, sagt er grob, legt die Wurst auf die Anrichte, schnappt sich ein Messer und schneidet drei dicke Scheiben herunter. Das Messer wirft er achtlos in die Abwasch, während er sich die erste Scheibe in den Mund schiebt. Ich sehe Papa nicht gerne mit einem Messer.

      Ich rühre die Nudeln um, die Tomatensoße. Beides hat eben wieder zu blubbern begonnen. Es ist gerade noch einmal alles gut gegangen. Mama kommt herein. „Danke, dass du für uns gekocht hast. Du bist so eine Brave!“ Sie streicht mir über die Haare. „Eine dumme Kuh ist sie!“, schimpft Papa mit vollem Mund. „Sie hätte sich ja denken können, dass wir draußen bleiben, wenn schlechtes Wetter kommt. Und vor zehn Minuten hat es zu regnen angefangen. Da hätten die Nudeln hineingehört!“

      „Sei doch nicht so grob zu ihr! Sie ist doch noch ein Kind!“ Papa brüllt. „Na und? Was glaubst du, was ich als Kind arbeiten habe müssen? Und wenn wir aufgemuckt haben, hat’s was hinter die Ohren gegeben! Wo sind denn überhaupt die Buben? Walter! Tobi!“ Ich rühre und schaue in meine Töpfe, so kann ich wenigstens so tun, als würde ich ihn nicht hören.

      Mama verzichtet auf eine Entgegnung, die seinen Zorn ohnehin nur anheizen würde. Sie stellt Teller auf den Tisch, legt das Besteck daneben. „Was willst du denn trinken?“ „Meinst nicht, dass