Die Einsamkeit des Bösen. Herbert Dutzler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herbert Dutzler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709937617
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so wie Papa. Wegen Kleinigkeiten rastet er völlig aus. Aber Donald, der ändert sich dadurch nicht. Er fürchtet sich auch nicht vor Onkel Dagobert, und weinen muss er auch nicht. Und das Schönste ist, dass jeder sein eigenes kleines Haus hat, in dem er wohnt und Ruhe vor den anderen hat. Micky hat eins, Minni auch, und Goofy und Donald, die wohnen auch jeder in einem eigenen Haus und müssen nicht ständig aufpassen, ob irgendwo ein Papa um die Ecke kommt, der schon wieder zu viel getrunken hat und sich furchtbar darüber ärgert, dass es alle anderen so leicht haben und er es so schwer.

      Das ist eine besondere Spezialität von Papa. Alle anderen können es sich richten, haben Freunde in wichtigen Positionen und das Glück auf ihrer Seite. Nur er ist von Unglück und Pech verfolgt. Aber er kann natürlich nichts dafür. Es sind immer die anderen schuld.

      Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und schalte meine Taschenlampe ein. Darunter habe ich neben dem Micky-Maus-Heft drei Bücher aufgestapelt, in denen ich heute noch lesen möchte. In einem geht es um ein Mädchen, das mit seiner Familie und seinen Freunden auf einer Insel lebt, und auch dort sind alle nett zueinander, wie bei den Tieren im Wald, kein böses Wort gibt es. Und es ist nie jemand betrunken und schreit herum, und in die Speisekammer gesperrt wird dort auch niemand. Nur einer, der Melcher Melcherson, der muss sich immer wieder furchtbar ärgern und aufregen, aber er tut niemandem was, seine Kinder lachen nur, wenn er herumschreit. Vor Melcher muss auch niemand Angst haben. Dann habe ich noch das Buch mit dem Insektendorf im Wald, wo es sogar eine Schneckenpost gibt. Und zum Schluss noch ein neues Buch, von Walter. Der hat wie jedes Jahr zu Weihnachten auch ein Buch geschenkt bekommen, gelesen aber hat er noch keines davon. Ich habe es mir einfach genommen, er wird es nicht vermissen. Da geht es um eine Reise im Raumschiff durch das ganze Sonnensystem. Es hat fast keine Bilder und ist ziemlich dick, aber ich bin schon gespannt darauf.

      Alexandra war spät dran. Trotzdem parkte sie nicht direkt vor der Schule. „Ich mag aber nicht zu Fuß gehen“, maulte Annika von der Rückbank. „Die anderen …“ „Die anderen sind mir egal! Und vor der Schule stehen zu bleiben ist verboten! Ich hab dir schon oft genug erklärt, dass man da die Kinder gefährdet, die zu Fuß unterwegs sind“, schimpfte sie etwas zu laut und zu ungehalten, während sie auf den Parkplatz eines Supermarktes einbog, von dem aus Annika höchstens noch drei Minuten bis zum Schultor zu gehen hatte. „Tschüs! Und vergiss nicht, dass du mit dem Bus nach Hause fahren musst, wir haben heute im Verlag eine Besprechung.“ Annika hörte nicht auf zu maulen, murmelte Unverständliches vor sich hin und stieg grußlos aus dem Auto. Erziehung konnte manchmal schwierig sein. Vor allem bei einer Elfjährigen, die schon deutliche Anzeichen pubertärer Launen zeigte.

      Sie selbst wäre ja am liebsten mit dem Rad in den Verlag gefahren, die Busfahrt zur Schule war Annika zuzumuten, auch wenn es regnete, fand sie. Leider war sie mit dieser Ansicht zu Hause in der Minderheit geblieben, denn ihr Mann ging viel zu oft bereitwillig auch auf unnötige Forderungen der Kinder ein. „Natürlich bring ich dich, Max!“ Dankbar hatte sich der achtjährige Sohn an Antons Bein geklammert. Die Volksschule war allerdings nur fünf Gehminuten entfernt, und wozu hatten sie eigentlich die teure Regenjacke gekauft …

      Sie stellte ihr Auto in der Tiefgarage ab. Sie hasste es, dafür unnötig Geld auszugeben. Nächstes Mal würde sie sich durchsetzen. Was stand heute auf dem Programm? Sie wollte endlich das Manuskript dieses schrecklich untalentierten Autors fertig lektorieren, der sich noch dazu Starallüren wie ein Bestsellerautor leistete. Es war eine Heidenarbeit gewesen, es einigermaßen publikationsfähig zu machen. Gut, sie hatte es in einer ersten Euphorie auch befürwortet, es mit ihm zu versuchen – aber nach hundert Seiten war ihm echt die Power ausgegangen. Nachmittags gab’s dann eine Programmkonferenz. Und sie hoffte, danach noch mit ihrer Übersetzungsarbeit weiterzukommen. Es war zwar nur ein Band aus einer Softporno-Serie, an dem sie arbeitete, aber gerade das musste schnell gehen. Und, so versicherte sie sich selbst, es gab auch gutes Geld dafür.

      „Hallo, Morgen!“ Sophie, deren Schreibtisch dem ihren gegenüberstand, war schon in ihre Bildschirmarbeit vertieft. Und auch eine angebrochene Tafel Schokolade lag, wie üblich, neben ihrer Tastatur. Alexandra fragte sich, wie man bei einem derartigen Schokoladenkonsum so schlank bleiben konnte. Kaum hatte sie ihre Arbeit aufgenommen, konnte sie ein Stöhnen nicht unterdrücken, obwohl sie wusste, dass sie Sophie damit störte. Dieser Autor litt wirklich unter derart ausgeprägter erzählerischer Impotenz, dass sie am liebsten ganze Passagen gestrichen oder neu geschrieben hätte. Ob dieser Krimi ein Erfolg werden würde? Sehr zweifelhaft. Und erst die unglaublich gestelzten direkten Reden! So sprach doch kein Mensch!

      Sophie reagierte schließlich auf ihr Gestöhn. „Vielleicht sollten wir das Manuskript doch noch einmal vor die Konferenz bringen.“ Sie blickte an ihrem Bildschirm vorbei und schob sich die schwarze Brille auf der Nase hoch. Seit dreieinhalb Jahren saßen sie nun schon einander gegenüber und waren in dieser Zeit leidlich gute Freundinnen geworden. Obwohl Alexandra eigentlich nicht leicht Freundschaften schloss, überhaupt nur wenige Menschen an sich heranließ. Man plauderte beim Mittagessen oft über gemeinsame Probleme. Während Alexandra mit ihrem Mann und den Kindern im durchaus renovierungsbedürftigen Elternhaus Antons wohnte und oft nicht wusste, wo das Geld für eine neue Dachrinne herkommen sollte, wenn die alte zunächst monatelang leckte und schließlich zu Boden krachte, hatte Sophie gerade eine neue Eigentumswohnung gekauft und tat sich mit den Kreditraten recht schwer. Im Mediengeschäft waren eben keine Reichtümer zu verdienen, nicht einmal, wenn man eine erstklassige akademische Ausbildung hatte.

      „Wir haben es schon in der Halbjahresvorschau drinnen. Und der Außendienst hat schon Bestellungen aufgenommen, wir können das Projekt nicht mehr aufgeben.“ Sophie zog abschätzig die Mundwinkel nach unten. „Dann solltest du aber wenigstens als Mitautorin genannt werden, finde ich.“ Sie lachte. „Wäre zu schön!“

      Beide widmeten sich wieder ihren eigenen Bildschirmen. Ein eigenes Buch – davon hatte Alexandra schon lange geträumt. Aber selbst, wenn man Ideen und Begabung hatte – wenn man andauernd mit den Manuskripten anderer beschäftigt war, ging unterwegs irgendwo die eigene Kreativität verloren. Und mit einem Fulltimejob und zwei Kindern sowieso.

      Ihr Handy summte. „Frau Heidegger, wegen dem Rohrbruch. Wir kämen dann jetzt.“ Sie seufzte. „Ich hab Ihnen doch gesagt, am Vormittag ist niemand zu Hause. Ich hab mit Ihrem Chef extra ausgemacht, dass Sie am Nachmittag kommen.“ „Wie Sie meinen!“ Die Stimme am anderen Ende klang arrogant. „Dann können wir aber nicht mehr garantieren, dass wir heute …“ „Natürlich!“, antwortete Alexandra. So heftig, dass Sophie aufsah. „Sie können nie irgendetwas garantieren.“ Sie legte auf. Es war zwar nicht extrem dringend, aber ein zweites Klo war in einer vierköpfigen Familie wirklich kein Luxus. Und den Wasserzufluss zu ebendieser Zweittoilette im Erdgeschoss hatten sie abriegeln müssen, irgendwo musste es ein Leck geben, die Mauer neben dem Spülkasten war immer feucht. Wenn sie nur daran dachte, dass es eigentlich höchste Zeit wäre, die gesamten Installationen im Haus zu erneuern, wurde ihr übel. Außerdem, fand sie, sollte sich eigentlich Anton um solche Dinge kümmern. Wozu war er schließlich Architekt? Allerdings schmetterte er ihre Einwände in der Regel ab. „Man muss auch nicht Mathematik studiert haben, um einen Kassenzettel zu überprüfen. Genauso wenig muss man Architekt sein, um einen Handwerker zu bestellen.“ Manchmal war er schon ein fürchterlicher Klugscheißer. Obwohl – sie musste zugeben, dass er tatsächlich klug war. Wenn man sich seine Entwürfe ansah, von denen allerdings nur wenige umgesetzt wurden … Vor allem aber war er witzig, konnte sie zum Lachen bringen. Man konnte ihm manches verzeihen.

      Einmal wurde sie an diesem Vormittag noch unterbrochen. „Wenn du bitte einmal zu mir kommen könntest …“ Martin Sorger, der Verleger, bat sie zu sich ins Büro. Martin war lang, dünn und ein wirklich guter Arbeitgeber. Wenn er auch manchmal dazu neigte, zu sehr zu drängen, wenn Aufträge sich länger hinzogen als geplant. „Deine Softporno-Reihe … Sie hat schon wieder einen geschrieben. Er kommt im November raus.“ Alexandra stöhnte auf. Das bedeutete, dass die Übersetzung bis spätestens Weihnachten fertig sein musste. Für das Weihnachtsgeschäft würde es sich nicht mehr ausgehen, aber da mittlerweile Millionen Menschen Büchergutscheine geschenkt bekamen, mussten unmittelbar nach dem Fest ebenfalls neue Titel auf den Markt.

      „Du