Die Einsamkeit des Bösen. Herbert Dutzler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herbert Dutzler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709937617
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zurechtlegen, was man ihnen sagen sollte und wie. Welche Antworten konnten sie geben, wenn die Kinder jetzt meinten, ihre unverschämtesten Wünsche müssten auf der Stelle erfüllt werden?

      Einstweilen aber wollte sie noch ein paar Minuten Ruhe genießen. Draußen zwitscherten die Vögel, und das wenige Sonnenlicht, das durch die Jalousie fiel, flackerte durch die Äste, die sich vor dem Fenster im Wind bewegten. Sollte sie ihre Arbeit hinschmeißen? Aufhören, seltsame erotische Romane zu übersetzen? Unbegabte, übergewichtige Krimiautoren und von ihrer Genialität eingenommene spindeldürre Lyrikerinnen hinter sich lassen? Was würde sie den ganzen Tag tun? Schuhe und Taschen kaufen? Beides tat sie nicht ungern. Wenn sie sich auch eingestehen musste – das Stöbern nach interessanten Schnäppchen war der größere Genuss als das Besitzen. Würde es ihr tatsächlich Spaß machen, einfach etwas auszusuchen, was ihr gefiel, darauf zu zeigen, es einpacken zu lassen und nach Hause zu schleppen, ohne überhaupt auf den Preis zu sehen? Oder würde es ihr vielleicht Spaß machen, einen eigenen Verlag zu gründen? Am Ende doch zu viel Verantwortung. Mit unbedachten Geschäften konnte man sogar Millionen sehr schnell verlieren. Sie erinnerte sich an eine Fernsehdoku, in der Millionengewinner vorgestellt worden waren, die nach einigen Jahren weniger als zuvor besaßen.

      Die ganze Situation bedeutete zu viel Stress, zu viel Verantwortung, zu viele Entscheidungen und, vor allem, zu viele Lügen. Bis gestern war ihr klar gewesen: Familie, Haus, Job, Mutter und Tobi, das war alles schon Aufgabe genug, sie konnte und wollte nicht mehr bewältigen. Jetzt aber schien es, dass sie sich neue Lasten aufgeladen hatte, um die sie nicht gebeten hatte.

      „Krieg ich dann ein Pferd?“ Mit dieser Frage hatte Alexandra gerechnet. „Warum nicht?“ Anton biss in sein Marmeladebrot. Natürlich hielt er sich nicht an die gerade noch getroffenen Vereinbarungen. Keine voreiligen Versprechungen, hatten sie abgemacht. Alexandra stöhnte. „Juhu! Ein Pferd!“ Sie warf Anton einen vernichtenden Blick zu. Natürlich war es jetzt wieder an ihr, die verfrühten Hoffnungen zu dämpfen. „Wir werden weiterhin leben wie bisher, Annika.“ Sie musste sich räuspern. „Und solche Entscheidungen müssen überlegt und gemeinsam getroffen werden. Ein Pferd bedeutet nicht nur Kosten, sondern auch Verantwortung und Arbeit.“ Sie runzelte die Stirn. Wie kam sie dazu, jetzt die Kassandra zu spielen, die den Kindern jede Freude verdarb?

      Prompt kam Antons Konter. „Lass ihr doch die Freude. Natürlich nicht gleich. Später mal.“ Annika verschränkte die Arme vor der Brust und zog eine Grimasse. „Aber du hast doch gesagt …“ „Ja, dann sag ich halt nichts mehr, wenn hier jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird!“, rief Anton, plötzlich zornig. Etliche Marmeladebröckchen aus seinem Mund landeten auf Alexandras Pullover, während er zur Bekräftigung seiner Entscheidung noch mit der flachen Hand auf den Tisch schlug.

      „Und ich will ein Schlagzeug! Und eine Playstation!“ Max musste natürlich beim Konsumwettbewerb in der ersten Reihe dabei sein. „Darüber reden wir ein anderes Mal!“ Eigentlich hatte sie etwas ganz anderes besprechen wollen als eine exklusive Einkaufstour. „Es gibt viel wichtigere Dinge, die ihr verstehen müsst“, erklärte Alexandra in möglichst beruhigendem Ton und legte beiden Kindern eine Hand auf die Unterarme. „Ihr sollt möglichst wenig darüber sprechen, dass wir Geld gewonnen haben. Am besten mit gar niemandem. Und vor allem sollt ihr keine Summen nennen. Und gegenüber niemandem angeben damit, dass wir jetzt mehr Geld haben als früher.“ Sie hoffte, dass die Botschaft angekommen war. Zumindest für Max würde sie aber noch zahllose Male wiederholt werden müssen.

      „Du sagst immer, man soll die Wahrheit sagen!“, maulte Annika, die die Hoffnung auf ihr eigenes Pferd entschwinden sah. „Manchmal kann man den Leuten nicht die ganze Wahrheit zumuten“, mischte Anton sich ein. „Was glaubst du, was los ist, wenn die Leute erfahren, wie viel Geld wir haben?“ „Ist doch egal!“, plärrte Max. „Wir können uns alles kaufen!“ „Freunde nicht“, warnte Alexandra. „Im Gegenteil, das kann ganz schnell gehen. Deine Freunde merken, dass wir viel Geld haben. Sie erwarten, dass du ihnen was davon abgibst, Geschenke machst, große Partys veranstaltest.“ „Können wir ja dann auch!“, strahlte Annika. „Du wirst gar nicht glauben, wie viele falsche Freunde du dann hast. Die nur an deinem Geld interessiert sind. Mama hat schon recht!“ Endlich waren sie einmal einer Meinung. Was selten vorgekommen war seit der Nachricht von dem Gewinn.

      Anton fasste die Kinder an den Händen. „Wir sind uns also einig? Großes Ehrenwort! Großes Geheimnis!“ „Großes Geheimnis!“, stimmten sie im Chor ein. „Und was ist mit Opa und den Omas?“, fragte Annika. „Mit meiner Mutter rede ich, und Papa wird mit seinen Eltern reden“, entschied Alexandra. „Ihr haltet den Schnabel, bis wir den Großeltern erklärt haben, was los ist.“

      Antons Handy läutete. „Ja? Ach so. Möchten Sie? Ich weiß aber nicht, ob ich möchte. Ich glaube …“ Alexandra wurde nicht schlau aus dem Gespräch, von dem sie nichts weiter mitbekam, weil Anton aus der Küche auf die Terrasse trat. „Was ist jetzt mit der Playstation?“ Max zog sie am Pulloverärmel. „Wenn, dann zum Geburtstag. Da hat sich nichts geändert, da muss darüber geredet werden. Du sitzt ja jetzt schon zu lange vor dem Bildschirm!“ Max starrte auf sein Frühstücksbrot. Ihm schien langsam zu dämmern, dass der unverhoffte Reichtum der Familie ihm nicht unmittelbar zugutekommen würde. Annika flüsterte: „Und wegen dem Schminkset?“ Alexandra seufzte.

      „Wer war denn dran?“ „Ach, nur der Gewinnbetreuer der Lotteriegesellschaft. Sie haben da so Berater für Leute, die große Gewinne gemacht haben. Er wollte uns besuchen. Brauch ich aber nicht.“ Alexandra schüttelte den Kopf. „Aber vielleicht ich? Ich würde gern einmal mit jemandem reden, der Erfahrung mit einer solchen Situation hat!“ „Quatsch! Das weiß ich schon selber, wie man mit Geld umgeht!“ Anton schien richtiggehend verärgert und zog sich mit seinem Tablet auf das Wohnzimmersofa zurück.

      „Ich geh raus!“, kündigte Max an. „Jonas kommt auch.“ Jonas war der Sohn der Nachbarn, ein halbes Jahr älter als Max. „Vielleicht gehen wir ins Baumhaus.“ Er schien die Debatten um den Gewinn schon vergessen zu haben und verschwand im Vorraum. Bevor die Haustür ins Schloss fiel, klirrte noch der Schuhlöffel auf dem Fliesenboden.

      „Wie viel ist es denn genau?“ Sie hatten den Kindern noch keine Summe genannt, doch Annika schien mit allgemeinen Auskünften nicht zufrieden zu sein. „Wir haben vereinbart, euch das nicht zu sagen. Erst müssen wir sehen, dass ihr wirklich dichthaltet.“ Annika zog schon wieder ein beleidigtes Gesicht. „Max vielleicht, ich doch nicht! Ich bin doch keine Tratschtante!“ „Es bleibt dabei!“, ließ sich Anton vom Sofa aus vernehmen. Annika sprang auf und ließ nach einigen Sekunden, die sie brauchte, um die Stiegen hinaufzutrampeln, ihre Zimmertür knallen. Ein bereits gewohntes Geräusch, dachte Alexandra.

      „Gibst du mir mal dein Handy? Ich möchte den Herrn von der Lotteriegesellschaft zurückrufen.“ „Wieso?“ Anton sah kurz auf. „Ich möchte beraten werden, und ich sehe nicht ein, warum ich mich in dieser Frage nach deinen Wünschen richten soll.“ „Na, vielleicht, weil ich gewonnen habe? Du hast dich ja standhaft geweigert, jemals einen Schein auszufüllen!“ „Red nicht so blöd daher! Das ist eine Familienangelegenheit!“, zischte sie.

      Als Anton ihr widerwillig das Handy reichte, sah sie, dass er auf seinem Tablet gerade die Homepage eines Herstellers von Luxus-Pkw geöffnet hatte. Mitten auf der Seite prangte das Bild eines weißen Cabrios.

      Die Polizei ist da, wegen Walter. Sie haben ihn in der Nacht erwischt, bei einer Schlägerei vor einem Bierzelt. Erstens hätte er gar nicht dort sein dürfen, weil er erst dreizehn ist, und zweitens hat er getrunken und anscheinend grundlos jemanden angegriffen. Ich müsste eigentlich in meinem Zimmer bleiben, aber ich schleiche mich auf die Stiege und lausche. Hören kann man allerdings nur Papa und Walter, die beiden schreien nämlich, die Polizisten reden nur normal, und ich kann sie nicht verstehen. Und Mama schluchzt. „Ich erschlag ihn!“, schreit Papa immer wieder, und die Polizisten fragen ihn, ob er getrunken hat, und versuchen ihn zu beruhigen. „Das ist auch keine Lösung, Herr Lahnsteiner, geschlagen ist schon genug worden!“, sagt der eine Polizist. „Die haben angefangen!“, brüllt Walter immer wieder. „Ich hab überhaupt nichts getan!“ Länger geht das hin und her, aber die Polizisten bekommen